Tief sitzen die Vorurteile gegen die Menschen, die man früher 'Zigeuner' nannte. Nicht nur in Deutschland, in ganz Europa werden Sinti und Roma ausgegrenzt und diskriminiert, oft sogar verfolgt. Mit der Armutszuwanderung aus Südosteuropa wurde das alte Feindbild auch hierzulande wiederbelebt.Der Historiker Wolfgang Wippermann geht den Vorurteilen auf den Grund und differenziert religiöse, soziale, romantisierende und rassistische Motive. Zusammen bilden sie, so erklärt er, eine eigenständige Ideologie: den Antiziganismus. Der entsteht nicht etwa im Bodensatz der Gesellschaft oder ist historisch erledigt, diese Ideologie ist nach wie vor politisch gewollt: Sie dient der Abgrenzung vom vermeintlich Fremden und der Legitimation von Herrschaft.Wippermann fordert endlich Gerechtigkeit und gesellschaftliche Anerkennung für Sinti und Roma. Denn diese fortdauernde Diskriminierung verletzt den europäischen Wertekanon und muss genauso geächtet werden, wie es der Antisemitismus wird. Es wird Zeit, dass Europa begreift: Niemand ist ein Zigeuner!
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.06.2015Das Schicksal
der Zigeuner
Wolfgang Wippermann
über böse Vorurteile
Die erste Begegnung mit den Vorurteilen gegen Roma macht Wolfgang Wippermann 1951, mit sechs Jahren, im Garten der Großmutter. Als eine Gruppe Roma sich dem Haus nähert, nimmt die Großmutter schnell die feuchte Wäsche von der Leine, bekreuzigt sich und erklärt dem Enkel: Die „Zigeuner“ seien furchtbare Menschen, stählen Wäsche und kleine Kinder.
Mit dieser Anekdote beginnt Wippermanns Aufruf „Zur Ächtung eines europäischen Vorurteils“, und damit ist auch der Ton gesetzt: keine nüchterne Analyse, sondern ein teils persönliches, oft zorniges Plädoyer. Bis heute, so der Historiker, werden in ganz Europa Sinti und Roma ausgegrenzt und verfolgt. Mit der jüngsten Debatte um eine Armutszuwanderung aus Südosteuropa ist das alte Feindbild vom faulen und asozialen Roma auch hierzulande wiederbelebt worden.
Wippermann unterscheidet religiöse, soziale, romantisierende und rassistische Motive für die Diskriminierung von Roma, die er zu einer eigenständigen Ideologie zusammenfasst, den Antiziganismus. Dieser beginne schon mit dem Wort „Zigeuner“. Wippermann knöpft sich den Ausdruck begriffsgeschichtlich vor, erklärt, warum es diffamierend ist, aus Roma „Zigeuner“ zu machen und warum die Bezeichnung aus dem Vokabular verbannt gehört. Er beschreibt, wie im Mittelalter erstmals Negativbilder der Sinti und Roma aufkamen und sich verfestigten, wie sich religiöse und soziale Vorurteile immer stärker mit rassistischen Zuschreibungen mischten, wie diese in der NS-Zeit im Genozid an den Roma gipfelten. Ein Genozid, den Wippermann nicht als allein deutschen, sondern als gesamteuropäischen Völkermord beschreibt, weil er von Angehörigen anderer europäischer Völker mitbegangen wurde. Beides, „die europäische Kollaboration und die rassistische Motivation des Porrajmos“ (so die Romanes-Bezeichnung für den Völkermord), sei nach 1945 geleugnet worden, in West- wie in Osteuropa.
Seit Jahren schon setzt sich Wippermann gegen eine Relativierung oder ein Vergessen des Genozids an Sinti und Roma ein. Dass er dabei die Shoah und den Porrajmos vergleicht, etwa in dem 2005 erschienenen Buch „Auserwählte Opfer? Shoah und Porrajmos im Vergleich“, hat ihm auch schon den Vorwurf eingetragen, er wolle eine Opferhierarchie aufstellen. Tatsächlich aber will Wippermann gerade keine Hierarchisierung; er hält Porrajmos und Shoah für vergleichbar, „weil beide Völkermorde intendiert und rassistisch motiviert waren“. Empörend findet er deshalb, dass der Antiziganismus nach 1945 nicht im gleichen Maße geächtet wurde wie der Antisemitismus.
Seltsam stumm bleiben zunächst die Menschen, um die es geht. Erst im letzten Kapitel treten deutsche Roma als eigenständige, sich organisierende Akteure in Erscheinung. Ein paar mehr Stimmen der Betroffenen hätten Wippermanns engagiertem Buch gutgetan. Denn genau das ist ja das Anliegen des Autors: Den mehr als zehn Millionen Roma in Europa und ihren oft leidvollen Erfahrungen Gehör zu verschaffen.
LUISA SEELING
Wolfgang Wippermann: Niemand ist ein Zigeuner. Zur Ächtung eines europäischen Vorurteils. Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2015. 256 S., 17 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
der Zigeuner
Wolfgang Wippermann
über böse Vorurteile
Die erste Begegnung mit den Vorurteilen gegen Roma macht Wolfgang Wippermann 1951, mit sechs Jahren, im Garten der Großmutter. Als eine Gruppe Roma sich dem Haus nähert, nimmt die Großmutter schnell die feuchte Wäsche von der Leine, bekreuzigt sich und erklärt dem Enkel: Die „Zigeuner“ seien furchtbare Menschen, stählen Wäsche und kleine Kinder.
Mit dieser Anekdote beginnt Wippermanns Aufruf „Zur Ächtung eines europäischen Vorurteils“, und damit ist auch der Ton gesetzt: keine nüchterne Analyse, sondern ein teils persönliches, oft zorniges Plädoyer. Bis heute, so der Historiker, werden in ganz Europa Sinti und Roma ausgegrenzt und verfolgt. Mit der jüngsten Debatte um eine Armutszuwanderung aus Südosteuropa ist das alte Feindbild vom faulen und asozialen Roma auch hierzulande wiederbelebt worden.
Wippermann unterscheidet religiöse, soziale, romantisierende und rassistische Motive für die Diskriminierung von Roma, die er zu einer eigenständigen Ideologie zusammenfasst, den Antiziganismus. Dieser beginne schon mit dem Wort „Zigeuner“. Wippermann knöpft sich den Ausdruck begriffsgeschichtlich vor, erklärt, warum es diffamierend ist, aus Roma „Zigeuner“ zu machen und warum die Bezeichnung aus dem Vokabular verbannt gehört. Er beschreibt, wie im Mittelalter erstmals Negativbilder der Sinti und Roma aufkamen und sich verfestigten, wie sich religiöse und soziale Vorurteile immer stärker mit rassistischen Zuschreibungen mischten, wie diese in der NS-Zeit im Genozid an den Roma gipfelten. Ein Genozid, den Wippermann nicht als allein deutschen, sondern als gesamteuropäischen Völkermord beschreibt, weil er von Angehörigen anderer europäischer Völker mitbegangen wurde. Beides, „die europäische Kollaboration und die rassistische Motivation des Porrajmos“ (so die Romanes-Bezeichnung für den Völkermord), sei nach 1945 geleugnet worden, in West- wie in Osteuropa.
Seit Jahren schon setzt sich Wippermann gegen eine Relativierung oder ein Vergessen des Genozids an Sinti und Roma ein. Dass er dabei die Shoah und den Porrajmos vergleicht, etwa in dem 2005 erschienenen Buch „Auserwählte Opfer? Shoah und Porrajmos im Vergleich“, hat ihm auch schon den Vorwurf eingetragen, er wolle eine Opferhierarchie aufstellen. Tatsächlich aber will Wippermann gerade keine Hierarchisierung; er hält Porrajmos und Shoah für vergleichbar, „weil beide Völkermorde intendiert und rassistisch motiviert waren“. Empörend findet er deshalb, dass der Antiziganismus nach 1945 nicht im gleichen Maße geächtet wurde wie der Antisemitismus.
Seltsam stumm bleiben zunächst die Menschen, um die es geht. Erst im letzten Kapitel treten deutsche Roma als eigenständige, sich organisierende Akteure in Erscheinung. Ein paar mehr Stimmen der Betroffenen hätten Wippermanns engagiertem Buch gutgetan. Denn genau das ist ja das Anliegen des Autors: Den mehr als zehn Millionen Roma in Europa und ihren oft leidvollen Erfahrungen Gehör zu verschaffen.
LUISA SEELING
Wolfgang Wippermann: Niemand ist ein Zigeuner. Zur Ächtung eines europäischen Vorurteils. Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2015. 256 S., 17 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Ehrenvoll und notwendig findet Luisa Seeling Wolfgang Wippermanns Versuch, den Genozid an den europäischen Roma in Erinnerung zu rufen und auf das Fortbestehen der Vorurteile gegen die Roma hinzuweisen. Wenn Wippermann das in persönlichem Ton macht, nicht nüchtern, sondern zornig, hat die Rezensentin Verständnis angesichts der Wiederbelebung alter Feindbilder. Gern lässt sie sich vom Autor den Begriff "Zigeuner" historisch erklären und die verschiedenen Motive für den Antiziganismus aufschlüsseln. Dass der Autor mit seinem Vergleich zwischen Shoah und dem Völkermord an den Roma keine Opferhierarchie aufstellen möchte, scheint ihr klar, ebenso Wippermanns Forderung nach einer vergleichbaren Ächtung dieses verdrängten Genozids.
© Perlentaucher Medien GmbH
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