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Mit kaum einem anderen historisch-politischen Thema hat sich das demokratische Parlament so intensiv und anhaltend beschäftigt wie mit der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Diktatur. Der Soziologe Helmut Dubiel hat zum ersten Mal diese dramatischen Debatten protokolliert und als Schlüsseltexte der deutschen Geschichte und ihrer Befindlichkeit analysiert.

Produktbeschreibung
Mit kaum einem anderen historisch-politischen Thema hat sich das demokratische Parlament so intensiv und anhaltend beschäftigt wie mit der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Diktatur. Der Soziologe Helmut Dubiel hat zum ersten Mal diese dramatischen Debatten protokolliert und als Schlüsseltexte der deutschen Geschichte und ihrer Befindlichkeit analysiert.
Autorenporträt
Helmut Dubiel, geboren 1946, war bis 1997 Direktor am Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main und lehrt Soziologie an der Justus-Liebig-Universität in Gießen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.04.1999

Lehrsätze einer Zivilreligion
Unsere Schuld, an der die Welt nun endlich doch genesen mag

Helmut Dubiel: Niemand ist frei von der Geschichte. Die nationalsozialistische Herrschaft in den Debatten des Deutschen Bundestages. Carl Hanser Verlag, München und Wien 1999. 304 Seiten, 39,80 Mark Es gibt Bücher, die man schätzt wegen des analytischen Beitrags, den sie leisten, und andere, die neue und bisher unbekannte Informationen enthalten, und es gibt schließlich Bücher, die nur als Symptom von Wert sind. Die hier vorliegende Arbeit von Helmut Dubiel gehört in die letzte Kategorie. Dubiel, Professor für Soziologie an der Universität Gießen und bis 1997 Direktor am Frankfurter Institut für Sozialforschung, hat die Debatten des Bundestags auf Aussagen über die nationalsozialistische Herrschaft untersucht und dabei festgestellt, daß sich im Laufe der Nachkriegsgeschichte zwar nicht die prinzipielle Einschätzung des Dritten Reichs, aber die Art der Auseinandersetzung deutlich verändert hat. In den fünfziger und frühen sechziger Jahren stand noch der "antitotalitäre Konsens" im Vordergrund, das heißt, es wurde kaum jemals warnend auf das NS-Regime Bezug genommen, ohne gleichzeitig auf die aktuelle Bedrohung durch den Kommunismus zu verweisen, und die Deutschen galten weniger als "Tätervolk" denn als erste Opfer Hitlers und einiger Komplizen, die den Namen der Nation beschmutzt hatten. Das änderte sich nach den aufsehenerregenden Prozessen gegen Verantwortliche für die Massenvernichtung der Juden und der ersten parlamentarischen Debatte über die Verjährung von NS-Verbrechen. Der Stimmungswandel hatte vor allem Folgen für die Form der jetzt in den Vordergrund tretenden Argumentation: daß die Deutschen insgesamt und unmittelbar verantwortlich für die Greuel seien und daß die Konservativen - nicht zuletzt in ihrer aktuellen Gestalt als Christdemokraten und Christlichsoziale - eine besondere Verantwortung trügen wegen ihrer historischen Funktion als "Steigbügelhalter" Hitlers. Gegen die eine wie die andere Interpretation gab es bis in die frühen achtziger Jahre noch Widerstand (vor allem aus der Erlebnisgeneration), der dann in der Ära Kohl zusammenbrach.

Dubiel unterschätzt die "geschichtspolitischen" Absichten Kohls, aber er kann doch deutlich machen, daß sich die Regierung in der ersten Phase nach der "Wende" bemühte, im kollektiven Bewußtsein eine Art Ausgleich zu schaffen zwischen der historischen Verantwortung für die Untaten des NS-Regimes einerseits und der Betonung, daß andererseits die zwölf Jahre nicht als das Ganze der deutschen Geschichte ausgegeben werden dürften. Mit kaum verhohlenem Triumph weist Dubiel darauf hin, wie vergeblich diese Anstrengung war und daß, was er den "Konsens der späteren Bundesrepublik" nennt, nur noch einen Fokus der nationalen Geschichte kennt: Auschwitz.

Was Dubiel hier darlegt, ist im Kern kaum neu und jedenfalls nicht überraschend. Das wäre dem Verfasser auch rascher klargeworden, wenn er sich weniger auf seine "professionelle Kompetenz als Sozialwissenschaftler" und einige Kategorien der Psychoanalyse und mehr auf die Erkenntnisse der Zeitgeschichtsforschung verlassen hätte. Allerdings hätte er dann sein eigentliches Ziel nicht erreichen können, und das ist kaum wissenschaftlich, eher praktisch-pädagogisch zu nennen. Damit zurück zu der Behauptung vom symptomatischen Wert dieses Buches: Schon in der Einleitung weist Dubiel darauf hin, daß ihm die Idee zu der Arbeit im Zusammenhang mit einer Veranstaltung über die Bedeutung der "Zivilreligion" gekommen sei. Unter Zivilreligion möchte er die regelmäßige Rückbeziehung auf einen Kanon von Werten verstehen, der in einem modernen und säkularisierten Gemeinwesen als wesentliche Legitimationsgrundlage dient, darüber hinaus eine eigene "Liturgie", aber auch eigene Lehrsätze besitzt.

Dubiel hat für die deutsche Bürgerreligion nicht nur Dogmengeschichte geschrieben, sondern auch die Umrisse dessen dargelegt, was als orthodox gelten darf: 1. Die deutsche Schuld ist nicht nur individuelle Schuld von Deutschen, sondern (im Sinne einer zuerst von Karl Jaspers getroffenen Unterscheidung) "politische Schuld", was wohl - auch wenn der Begriff peinlich vermieden wird - zu bedeuten hat, daß die Deutschen sich einer "Kollektivschuld" stellen müssen.

2. Diese anzuerkennen ist nicht nur aus moralischen Gründen geboten, sondern auch aus Gründen psychischer Hygiene unabdingbar: "Zur menschlichen Würde gehört es, das Böse, das wir getan haben, uns und anderen einzugestehen und die Verantwortung zu übernehmen. Schuld im strengen Sinne entsteht eigentlich und paradoxerweise erst dann, wenn wir nicht bereit sind, sie anzunehmen, das heißt die Verantwortung für das Böse zu übernehmen, das wir verübt haben oder das in unserem Namen geschehen ist." Wer sich dazu nicht bereit zeigt, der verdrängt, was nicht nur politisch gefährlich wirken kann, sondern auch für die Persönlichkeit üble Folgen haben wird.

3. Durch die "Verknüpfung von Schuldanerkennung und der Entwicklung einer demokratischen Kultur" haben die Deutschen eine Art Quantensprung in der Entwicklung moderner politischer Ordnungen geschafft, der allen anderen Völkern als vorbildlich empfohlen werden kann. Die Hoffnung Alexander Mitscherlichs ist erfüllt: die Bundesrepublik stellt "das prägnanteste und historisch etablierte Beispiel eines neuen Musters (post-)nationaler Identitätsbildung" dar.

4. Deshalb darf man auch - ohne die Singularität der deutschen Verbrechen in irgendeiner Weise zu verharmlosen - eine neue universale Ordnung erwarten. Deren Grundlage bilden "ein Konzept von Solidarität und kollektiver Verantwortung, das keine Grenzen mehr kennt" und die dauernde Erinnerung an die Untaten der eigenen Gemeinschaft wachhält; kurz: politische Sinnstiftung folgt über die "Scham, ein Mensch zu sein" (Hannah Arendt).

Hier sei nur angemerkt, daß die Vorstellung wenig für sich hat, stabile Formen politischer Ordnung ließen sich durch gemeinsames Schuldbewußtsein begründen; angesichts von Dubiels Berufung auf die Psychologie ist kaum zu begreifen, daß er keine Abwehr solcher Zumutung erwartet. Aber auch wenn man von diesem Sachverhalt absieht, bleibt die Grundannahme vom inneren Zusammenhang zwischen Nation und nationaler Schuld problematisch, da sich Dubiel nicht dazu entschließt, am klassischen Verständnis der Nation als Abstammungsgemeinschaft festzuhalten; das ist ihm wie den meisten fortschrittlichen Geistern unheimlich, weshalb er am liebsten die Flucht nach vorn in den Universalismus der Schuld antreten möchte, dabei aber den Vorwurf wittert, er versuche die einmalige deutsche Verantwortung zu "relativieren". In der Unentschlossenheit oder dem Unvermögen, präzise zu sagen, was denn eigentlich "Volk", was denn "Nation", was denn "Schuld" genau bedeuten sollen, liegt die fundamentale Schwäche des Buches. Trotzdem darf Dubiel der Unterstützung derer sicher sein, die über diese Begriffe und ihren inneren Zusammenhang ebenso ungenau reden und denken wie er.

KARLHEINZ WEISSMANN

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"Eine gut lesbare und mit spannenden Anmerkungen versehene "Reflexionsgeschichte" der Bundesrepublik." Die Zeit