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"Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann?" - "Niemand!" Um diesen Niemand geht es in dem Buch von Hannes Fricke. Der seltsame Herr Niemand streunt spätestens seit Homers "Odyssee" durch die Literaturgeschichte, sei es als Heiliger Niemand im 13. Jahrhundert ("Niemand ist mächtiger als Gott"), sei es als Sündenbock für das Hausgesinde im frühen 16. Jahrhundert ("Niemand hat das Geschirr zerbrochen").Später wird das Spiel um die Verwechslung anders verwendet: In Annette von Droste-Hülshoffs "Judenbuche" taucht der zwielichtige Johannes Niemand auf, Max Frischs "Stiller" schreibt verzweifelt:…mehr

Produktbeschreibung
"Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann?" - "Niemand!" Um diesen Niemand geht es in dem Buch von Hannes Fricke. Der seltsame Herr Niemand streunt spätestens seit Homers "Odyssee" durch die Literaturgeschichte, sei es als Heiliger Niemand im 13. Jahrhundert ("Niemand ist mächtiger als Gott"), sei es als Sündenbock für das Hausgesinde im frühen 16. Jahrhundert ("Niemand hat das Geschirr zerbrochen").Später wird das Spiel um die Verwechslung anders verwendet: In Annette von Droste-Hülshoffs "Judenbuche" taucht der zwielichtige Johannes Niemand auf, Max Frischs "Stiller" schreibt verzweifelt: "Vielleicht bin ich niemand". Auch Lyriker wie Ezra Pound, Gottfried Benn, Hans-Magnus Enzensberger und Paul Celan widmen sich dem Niemand.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.12.1998

Niemand, wo bist du
Schuld ist die Struktur: Hannes Fricke sucht eine Schattengestalt

Gibt es einen Leser, oder gibt es keinen? Hannes Fricke eröffnet sein Buch über die Figur des "Niemand" in der Literatur mit einer koketten Paradoxie: "Niemand wird lesen, was ich hier schreibe", nennt er seine Studie. Und dies nicht ohne Witz. Denn schon im Moment, in dem der Blick auf den Titel fällt, hat die Lektüre begonnen und den Leser in eine jener "Niemand"-Figuren verwandelt, von denen der Text sprechen wird. Als ein "Niemand" schlägt er das Buch auf, liest weiter oder aber entzieht sich angesichts der 500 Seiten, die ihn erwarten, ins indefinite "niemand".

Fricke verfolgt die Geschichte des Verwirrspiels um den "Niemand" in europäischen Texten von der Antike bis ins zwanzigste Jahrhundert. Homers bekannte Erzählung vom Kyklopen Polyphem in der "Odyssee" wird ihm dabei zur motivischen Urszene: "Niemand ist mein Name", verkündet der in der Höhle des Einäugigen gefangene Odysseus und macht sich die perfide Zweideutigkeit des Begriffs zunutze, um der Gewalt des Riesen entrinnen zu können. Wie erwartet kommt es zum Mißverständnis: Die von Polyphem herbeigerufenen Kyklopen vertauschen den genannten Namen mit dem Indefinitpronomen "niemand" und lassen von einer Verfolgung ab.

Immer wieder ist dieses Täuschungsmotiv in griechischen und lateinischen Texten aufgenommen worden. Die Studie zeigt, wie sich erst mit der karnevalesken Figur des "heiligen Nemo" in mittelalterlichen Texten neue Formen eines solchen Spiels entwickeln, aber auch, wie der "Niemand" jenseits seiner motivischen Verwendung als Pseudonym auftaucht, als "Autormaske" für kritische Meinungen in der Auseinandersetzung um die Reformation und im Zeitungswesen. Seit dem sechzehnten Jahrhundert dann betritt er als allegorische Figur die Theaterbühne der "Niemand-Jemand-Spiele", wird zum Spielball der Differenz zwischen Namen und Pronomen. Die Figur und ihre Existenz bleiben dabei stets fragwürdig.

Hannes Fricke verfährt in seiner Untersuchung vor allem deskriptiv. Sein Buch präsentiert eine umfangreich recherchierte Bestandsaufnahme literarischer "Niemand"-Spiele, geht dabei allerdings über die rein positivistische Erhebung von Textbeispielen kaum hinaus. Denn auch wenn der Autor in seinen einleitenden Kapiteln Wittgensteins Formel vom "grammatischen Witz" als sprachlogische Grundstruktur einführt und in bezug auf die Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts psychologische und psychoanalytische Modelle bemüht, bilden diese kein theoretisches Fundament. Vielmehr dienen sie als Beschreibungsinstrumentarium, auf dessen Grundlage die Zuordnung motivischer Variationen erfolgen kann.

Damit allerdings verweist die Studie auf ein altes Problem traditionell ausgerichteter Stoff- und Motivgeschichte, die dem kulturgeschichtlichen Kontext nur wenig Aufmerksamkeit schenkt und auf diese Weise auf die historischen Bedingungen literarischen Sprechens immer wieder vernachlässigt hat. Denn was dem Autor in der Fülle seiner Textbeispiele quer durch die Jahrhunderte aus dem Blick gerät, ist gerade die Frage nach der Funktion dieser "Niemand"-Figur in ihrem jeweils zu bestimmenden historischen Augenblick; nach dem Beweggrund für ihre so auffällige und facettenreiche Präsenz.

Erst im abschließenden Kapitel des Buches werden diese Fragen berührt. Fricke resümiert hier noch einmal die ganze Entwicklung: vom Vertauschungsspiel um den "Niemand" in der Antike bis hin zu einem "Innenansichten demonstrierenden Analyseinstrument des neuzeitlichen Ichgefühls" in Texten von Pirandello, Frisch, Botho Strauß, Ezra Pound, Enzensberger oder Paul Celan. "Grund für die Verkomplizierung und Verdüsterung des Spiels in der Moderne", heißt es dabei, sei "wohl die Struktur der modernen Gesellschaft und ihre besonderen Anforderungen". Das "niemand"-Spiel der modernen Autoren orientiere sich an den existenzvernichtenden Kräften des Indefinitpronomens. Differenziert werden diese sehr allgemein gehaltenen Aussagen aber nicht.

Den Titel seiner Untersuchung entlehnt Hannes Fricke dem "Gracchus"-Fragment Franz Kafkas. "Niemand wird lesen, was ich hier schreibe", heißt es dort, "niemand wird kommen, mir zu helfen." Wie so oft geht es bei Kafka dabei um alles. Sein Fragment beschreibt mit dem Auseinanderklaffen der Entstehung und der Wirkung von Literatur die ganze Paradoxie moderner Autorschaft. Es ist die dilemmatische Selbsterfahrung eines Autors, der sich weigert, sein nächtliches "Gekritzel" der Vollendung literarischer Produktion zuzuführen, zugleich aber danach verlangt, sich in "schönen Büchern" gedruckt zu sehen, den anonymen Schreibakt also schließlich doch ins "Wahre, Unveränderliche" eines Werkzusammenhangs zu heben. Ein Dilemma zwischen Schreibstrom und Druckwerk.

In seiner Studie macht Fricke diese materielle Ebene des "Gracchus"-Fragments nicht zum Thema. Er projiziert das "Paradox" Kafkas vielmehr ins Metaphysische, interpretiert das "niemand"-Spiel als "Hilferuf nach dem helfenden, aber abwesenden Gott". Damit scheint sich - wenigstens auf einen ersten Blick - ein Zusammenhang zwischen dem modernen Text des zwanzigsten Jahrhunderts und jener mittelalterlichen Gottfigur des "heiligen Nemo" abzuzeichnen, die der Autor im Rahmen seiner Stoffgeschichte als einen motivischen Hauptstrang herausarbeitet. Über den Reiz des Assoziativen jedoch reicht eine solche Verbindung nicht hinaus. Auf Kafkas "Hilferuf" geht in Frickes Geschichte des "Niemand" bemerkenswerterweise nichts hervor. JULIA ENCKE

Hannes Fricke: "Niemand wird lesen, was ich hier schreibe. Über den Niemand in der Literatur". Wallstein Verlag, Göttingen 1998. 560 S., br., 78,- DM.

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