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Jörg Bernigs Roman führt in das Gewirr der Grenzlinien nach 1945, in eine Zeit, in der die Verheerungen des Krieges in Flucht und Heimatlosigkeiten. Im Niemandsland zwischen Ost und West sucht eine Gruppe Menschen Zuflucht vor ihren Verfolgern und der eigenen Vergangenheit. Ein verlassenes Dorf, eine zerstörte Straße, wild wuchernder Wald und die nahe Grenze: In der Verlassenheit des Dreiländerecks zwischen Deutschland, der Tschechoslowakei und Polen findet eine Gruppe Menschen Zuflucht vor den Revolutionsgarden der Sieger. Jörg Bernigs Roman wirft ein literarisches Schlaglicht auf einen kaum…mehr

Produktbeschreibung
Jörg Bernigs Roman führt in das Gewirr der Grenzlinien nach 1945, in eine Zeit, in der die Verheerungen des Krieges in Flucht und Heimatlosigkeiten. Im Niemandsland zwischen Ost und West sucht eine Gruppe Menschen Zuflucht vor ihren Verfolgern und der eigenen Vergangenheit. Ein verlassenes Dorf, eine zerstörte Straße, wild wuchernder Wald und die nahe Grenze: In der Verlassenheit des Dreiländerecks zwischen Deutschland, der Tschechoslowakei und Polen findet eine Gruppe Menschen Zuflucht vor den Revolutionsgarden der Sieger. Jörg Bernigs Roman wirft ein literarisches Schlaglicht auf einen kaum beschriebenen Teil unserer Geschichte und weist angesichts der aktuellen politischen Wirklichkeit gleichzeitig weit darüber hinaus: Verheerungen und Verwerfungen kriegerischer Auseinandersetzungen sind immer gegen die einzelnen Menschen gerichtet. Heimatlos, vertrieben, suchen sie nach einem neuen Leben.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.06.2002

Nische der Geschichte
Versöhnung im Erzählen: Jörg Bernig belauscht Flüchtlinge

Erleben wir gerade, wie ein spätes Nachbeben der Zeitenwende von 1989 unversehens auch eine Mauer zerbröckeln läßt, die bislang die Erinnerung an das Drama der Vertreibung im politischen Argwohn zwischen "linkem" und "rechtem" Gedächtnis gefangenhielt? Auffällig ist jedenfalls, daß sich nicht nur einem Angehörigen der Kriegsgeneration wie Günter Grass die befangene Zunge löst. Mit dem Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Jörg Bernig, Jahrgang 1964, nimmt sich auch ein Nachgeborener des Vertreibungsschicksals an.

Der erzählerische Rahmen von "Niemandszeit", Bernigs zweitem Roman, umfaßt vierundzwanzig Stunden im Spätsommer 1946. Schauplatz ist ein abgeschiedenes Walddorf im Dreiländereck zwischen Deutschland, Polen und der Tschechoslowakei. Nicht weit von hier sind nach Kriegsende die Flüchtlingstrecks nach Norden gezogen, der deutschen Grenze entgegen. Der kleine Weiler aber, zu dem keine Wege mehr führen und der so dem Blick der neuen tschechischen Machthaber über ein Jahr lang entgeht, scheint im Windschatten des historischen Sogs zu liegen. Hier trudeln seit dem Sommer 1945 nach und nach Fliehende und Herumirrende ein. In einer Stunde, da sie alles und nichts voneinander wissen, treffen verfolgte Sudetendeutsche auf Tschechen, die sich von der Revolutionsgarde abgesetzt haben, weil sie sich am schmutzigen Handwerk der Vertreibung nicht länger beteiligen wollten. Aufatmen wollen die Menschen, deren Schicksale sich hier kreuzen, obwohl ihnen klar ist, daß sie nicht ewig unentdeckt bleiben werden.

Und sie erzählen sich ihre Geschichten. Der Großteil des Romans, der am Ende auf eine angekündigte Katastrophe zuläuft, besteht aus Rückblenden und Rückblicken, in denen wir erfahren, wie seine Protagonisten in das deutsch-tschechische Verhängnis verstrickt wurden. Da ist etwa jene halbverdurstete junge Deutsche, die der Deserteur Antonín Mrha unweit des Dorfes im Wald aufsammelt. Ihr Vater war nach dem Münchner Abkommen, nach der Eingliederung der Sudetengebiete, Angestellter der "Deutschen Ansiedlungsgesellschaft". Wir hören von seinem guten Gewissen beim Tagwerk der Vertreibung von Tschechen und Juden, wir hören, wie er bei Kriegsende gelyncht wird und die Tochter die Racheorgie mit knapper Not überlebt.

Aber nicht diese historischen Schrecknisse geben den Ton des Buchs an. Das leistet viel eher etwa das erinnernde Heraufbeschwören eines idealen Sommertags, mit dem der Bericht der Frau einsetzt. Unüberhörbar nämlich ist der Niemandsort in der Niemandszeit auch eine poetische Erzählnische im Windschatten der Katastrophe. Ganz gleich, ob wir uns in der Rahmenhandlung des Romans befinden oder den Geschichten der Flüchtlinge lauschen, Bernig schreibt oft feierlich tastend, umkreisend, fast innig. Schon bald wird man den Eindruck nicht los, daß hier keine Figuren sprechen, sondern eine Poetik: eine Handkesche Poetik der Versöhnung im Erzählen. Die leitmotivische Frage "Und jetzt?" könnte ebensogut einem Werk Peter Handkes entstammen wie der Umstand, daß die Frau mit der "durchscheinenden Haut" sich gerne "die Unsichtbare" nennen läßt.

Gewiß, das anschwellende Häuflein Gestrandeter, das sich in dieser Niemandsbucht zusammenrauft, will im gegenseitigen Erzählen seine politische Zwangsidentität abschütteln, will sich vom Automatismus des Freund-Feind-Schemas freisprechen. Aber zu dem Stoff, den Bernig sich vorgenommen hat, paßt sein gleichsam behütendes Erzählen nicht. Wie dessen Kehrseite wirkt es, wenn historische Umstände, Verbrechen hüben wie drüben mit einer schematischen Vollständigkeit angetippt werden, welche die gute Absicht der historischen Korrektheit über die imaginative Kraft der Literatur obsiegen läßt. Einmal wird "der Präsident in der Hauptstadt" vorgeführt. Auch er ist mit jenem guten Gewissen ausgestattet, das man wohl braucht, um drei Millionen Menschen mit allen Mitteln aus dem Land zu jagen. Aber seiner Perspektive wird nicht literarisch eigenes Gewicht verliehen, sie bleibt geschichtlicher Fingerzeig, Bruchstück einer Parabel.

Nicht, daß der Roman ein gutes Ende nähme. Ein Mann nähert sich dem Dorf, der als "Jäger" bezeichnet wird, weil er der Revolutionsgarde Pfadfinderdienste bei der Menschenhatz leistete. Er hat mit ihr gebrochen und ist auf der Suche nach seiner verschollenen deutschen Geliebten, die er finden muß, bevor sie den ehemaligen Kameraden in die Hände fällt. Dem Jäger ist es nicht vergönnt, seine Geschichte selbst zu erzählen. Und nur wer sich erzählen kann, so hat es die Schicksalsgemeinschaft erfahren, kann vielleicht jene Identität überwinden, die ihm von anderen zugeschrieben wird. Als er das Dorf erreicht, in dem er die gesuchte Frau und das Ende seiner Flucht erahnt, stößt er auf andere Deserteure. Doch die Gejagten halten einander für Jäger, und das Verhängnis der Verkennung nimmt seinen filmreifen Verlauf.

Jörg Bernigs Buch hinterläßt den merkwürdigen Eindruck einer pädagogisch korrekten Tragödie. Überzeugen kann es nicht als imaginativer Geschichtsspeicher, nur als Versöhnungsmodell; denn wie anders sollten sich Tschechen und Deutsche versöhnen, als daß sie sich ihre Geschichten erzählen, um sich aus dem Bann der gemeinsamen Geschichte zu lösen? Auf eine tschechische Übersetzung, auf ihre Aufnahme bei unseren Nachbarn wäre man neugierig.

Jörg Bernig: "Niemandszeit". Roman. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart und München 2002. 283 S., geb., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Dieser Roman hat bei Rezensent Michael Adrian den "merkwürdigen Eindruck einer pädagogisch korrekten Tragödie" hinterlassen. Nach Günter Grass nehme sich nun ein Nachgeborener des Vertreibungsschicksals an. Als Schauplatz wird ein "abgeschiedenes Walddorf im Dreiländereck" Deutschland, Polen und der Tschechoslowakei beschrieben, wo sich im Jahr 1946 dort gestrandete Flüchtlinge in Rückblenden ihre Geschichten erzählten, während die Romanhandlung auf eine "angekündigte Katastrophe" zulaufe. Doch nicht die "historischen Schrecknisse" gäben den Ton an, schreibt Adrian. Vielmehr sei "unüberhörbar" dieser "Niemandsort in der Niemandszeit" auch eine poetische Erzählnische im Windschatten der Katastrophe. Bernig schreibe oft "feierlich tastend, umkreisend, fast innig", bemängelt der Rezensent und wird schon bald den Eindruck nicht mehr los, dass hier keine Menschen sondern eine Poetik spricht. Für den behandelten Stoff findet der Rezensent den Erzählton nicht passend. Überzeugt hat ihn das Buch jedoch als Versöhnungsmodell. Denn wie anders sollten sich Tschechen und Deutsche versöhnen, als dass sie sich ihre Geschichten erzählen würden. Deshalb wäre Adrian auf eine tschechische Übersetzung und ihre Aufnahme neugierig.

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