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Über Nietzsche muss man streiten. Das ist man seinen Widersprüchen schuldig. Nietzsche glaubte an eine harmonische Lebenswelt der Zukunft und verlangte die Ausrottung entarteter Menschen. Er wollte Weltbürger sein und wurde von nationalistischen Leidenschaften ergriffen. Er war Philosemit und lastete den Juden die Erfindung der Moral an. Er verkündete eine ökonomische Globalisierung und wünschte eine kulturelle Mobilmachung der Deutschen. Nietzsche radikalisierte Modernität und Antimodernität in einem Atemzuge. Dieses ABC erläutert die wichtigsten Positionen und Begriffe seiner Philosophie. Ein furioses Nachschlagewerk.…mehr

Produktbeschreibung
Über Nietzsche muss man streiten. Das ist man seinen Widersprüchen schuldig. Nietzsche glaubte an eine harmonische Lebenswelt der Zukunft und verlangte die Ausrottung entarteter Menschen. Er wollte Weltbürger sein und wurde von nationalistischen Leidenschaften ergriffen. Er war Philosemit und lastete den Juden die Erfindung der Moral an. Er verkündete eine ökonomische Globalisierung und wünschte eine kulturelle Mobilmachung der Deutschen. Nietzsche radikalisierte Modernität und Antimodernität in einem Atemzuge. Dieses ABC erläutert die wichtigsten Positionen und Begriffe seiner Philosophie. Ein furioses Nachschlagewerk.
Autorenporträt
Prof. Dr. Bernhard H. F. Taureck, geb. 1943, ist Professor für Philosophie an der TU Braunschweig. Zahlreiche Veröffentlichungen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.01.2000

Zieht euch an den Schnurrbärten
Der ganze Nietzsche ist von politischer Korrektheit besetzt. Der ganze Nietzsche? Nein, aber nur ein unbeugsames Nachschlagewerk leistet dem Zeitgeist Widerstand

"Platon in 90 Minuten", Kant-Comics, "Goethe für Gestreßte" - angesichts von Fastfood-Philosophie und literarischen Appetithäppchen mag man den Verfall der Lese- und Geschmackskultur beklagen. Indes sind solche Ragouts nicht immer ungenießbar. Gudrun Schury etwa wusste in ihrem "Goethe-Abc" von "Achtundzwanzigster August" bis "Zwischenkieferknochen" dem Leser mit Sorgfalt komponierte und mit Ironie gewürzte Amuse-Gueules aufzutischen, die durchaus Lust auf das genussvolle Durchkosten eines ganzen Goethe-Menüs machten.

Bernhard Taureck dagegen stellt sofort klar, dass er keine kulinarische Empfehlung aussprechen, sondern vor Drogenmissbrauch warnen will. Er zitiert Paul Valéry: Nietzsche sei kein Nahrungs-, sondern ein Aufputschmittel. Wer daher von seinem "Nietzsche-Abc" Amüsantes oder Aufschlussreiches von "Antichrist" bis "Zarathustra" erwartet, wird nicht nur deshalb enttäuscht, weil die Einträge von "Abitur" bis "Zukunft" reichen. Zunächst sieht, was Taureck treibt, noch nach einem gezielten Spiel mit Erwartungen aus: Wer Schopenhauer vermisst, wird dessen Einfluss auf Nietzsche unter "Dies Buch" gewürdigt finden; wer vergeblich nach Dionysos sucht, sollte unter "Panther und Tiger" nachschlagen; wer etwas über Interpretationismus wissen will, muss unter "Positivismus" nachlesen. Balzac und Flaubert werden lobend erwähnt, was offenbar allein dadurch motiviert ist, dass Nietzsche Stendhal bevorzugte. Taureck seinerseits bevorzugt Stichworte, die Fehlanzeigen bedeuten oder ein Fehlverhalten Nietzsches belegen, wie "Arbeiter", "Gleichheit", "Sozialismus".

Es ist leicht zu durchschauen, dass diese Manöver weniger auf die Subversion von Leseerwartungen als auf die Demontage eines Autors abzielen: Statt "Ressentiment" wird Eugen Dühring angeführt, von dem Nietzsche Wort und Sache übernommen haben soll (lies: Nietzsche ist unoriginell), statt eines Eintrags zum "Stil" ist unter "Unfehlbar" zu erfahren, dass Nietzsche seinen Instinkt in Stilfragen für infallibel hielt (ein weiteres Beispiel für Nietzsches hemmungslose Selbstüberschätzung). Am deutlichsten wird die desavouierende Tendenz, wenn Raureck statt "décadence" "Entartung" in sein Abc aufnimmt. Abgesehen davon, dass dies, anders als Taureck suggeriert, keineswegs dasselbe bedeutet, stellt "Entartung" einen willkommenen wortassoziativen Bezug zum Nationalsozialismus - oder wie Taureck diesen auch gerne nennt: "Germanofaschismus" - her.

Der erhält zwar, anders als "Hitler, Adolf", keinen eigenen Eintrag, ist aber ähnlich allpräsent. Verfügte das Bändchen über ein Personen-, ein Sach- und ein Stellenregister, so wäre vermutlich Hitler die meistgenannte Person, "Faschismus" der meistgebrauchte Begriff und der "Zarathustra" das meistzitierte Werk. Man weiß gar nicht, worüber man sich mehr ärgern soll: darüber, dass nicht nur Stichwörter wie "Barbaren", "Deutsche" und "Fanatiker" unweigerlich zu Hitler und Mussolini, ersatzweise auch Ernst Jünger oder anderen bösen Buben führen, sondern auch "Aufklärung" und "Paris" Überwachungsstaat und Blitzkrieg heraufbeschwören; oder darüber, dass so wichtige Artikel wie "Mensch", "Perspektivität" und "Religion" in "Zarathustra"-Zitaten kulminieren; oder darüber, dass die Artikel "Fröhliche Wissenschaft", "Leben" und "Moral" so dürftig ausfallen, dass sie überflüssig sind, und die über "Individuum", "Leib" und "Metaphysik" derart einseitig, dass sich ein völlig verzerrtes Bild ergibt.

Dass sich bei Nietzsche vier Bedeutungen von "Nihilismus" unterscheiden lassen, weckt Taurecks Unmut angesichts solcher "Unübersichtlichkeit". Für das Bemühen der "Forschergemeinde", die Nietzsche "Dissertation um Dissertation, Habilitation um Habilitation" widmet, hat er nur Spott übrig. Nietzsche fand, da man von seinen Feinden lernen könne, müsse man ihnen dankbar sein. Was Reclam Leipzig bewogen hat, das Abc dem Nietzsche-Feind Taureck anzuvertrauen, entzieht sich unserer Kenntnis.

Eine perfekte Rezension zu Taurecks Buch liegt bereits vor: in Form des Nietzsche-Lexikons von Johann Prossliner. Mit seinem klugen Nachwort stellt es das ideale Korrektiv dar. Wo Taureck warnen will, möchte Prossliner werben. Wo der eine polemisiert, differenziert der andere. Während das "Abc" eine Kampfschrift gegen jene ist, "die Nietzsche und die späteren Faschismen trennen wollen", kritisiert das Lexikon jene, die Nietzsche vorschnell "rechts liegen lassen". Während Taurecks Zwecken der "Zarathustra" entgegenkommt, bildet er für Prossliner einen "erratischen Block", einen "Stilbruch" innerhalb Nietzsches OEuvre, den er aus der Chronologie der Zitate ausgliedert. Während Taureck unter "Gefährlich leben" auf den faschistischen Imperativ des vivere pericolosamente verweist, ohne sich um Sinn und Kontext des Mottos bei Nietzsche zu kümmern, geht Prossliner auf den "freien Geist" ein, "der in einem anderen Sinn ,gefährlich lebt', als Benito Mussolini sich das vorstellte". Während Taureck zum Thema "Luther" nur ein Briefzitat aus dem Jahre 1875 bringt, in dem Nietzsche - ausnahmsweise und aus gegebenem Anlass - "unsere gute protestantische Luft" lobt, nennt Prossliner sechs ambivalent-kritische Zitate zu Luther sowie die Definition des Protestantismus als "halbseitige Lähmung des Christentums - und der Vernunft".

Prossliners Lexikon ist mehr als ein Lexikon - es ist ein Lesebuch, das Zitate nicht alphabetisch nach Stichworten verzeichnet, sondern thematisch gruppiert. Die Auswahl ist durchweg klug getroffen, die Zitate unter den einzelnen Überschriften chronologisch geordnet, so dass sich auch Denkentwicklungen verfolgen lassen. Die Textpassagen sind oft umfangreich, bewahren Kontext und Argumentationsgang, soweit das in einer Leseauswahl möglich ist; besonders häufig greift Prossliner auf jene Sentenzen-Sammlungen des mittleren Werks zurück, in denen die Kürze der Aphorismen ihre vollständige Wiedergabe erlaubt.

Seine Auswahlkriterien legt Prossliner offen. Anders als Taureck, der von Nietzsches Stil wenig hält, will er jenseits der Doppelfiguren von Zweifler und Prophet, Nihilist und vitalistischem Emphatiker sein Augenmerk auf eine dritte Figur richten: den Schriftsteller, den "unüberbietbaren Stilisten", den "Gedankenerzähler und Ideendramaturgen". Diese Achtung vor der Autorschaft bedingt auch eine editorische Entscheidung, die man bedauern mag, aber nachvollziehen kann: Mit Ausnahme von "Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne" und dreier Gedichte bezieht Prossliner den Nachlass nicht ein und beschränkt sich auf "autorisierte" Texte Nietzsches.

Die eigentliche Überraschung des Lexikons aber ist das geschickt aufgebaute und haarfein differenzierende Register. Es verzeichnet nicht einfach einschlägige Begriffe und Eigennamen, sondern auch Schlagworte, die bei Nietzsche gar nicht vorkommen - "Avantgarde" und "Postmoderne" etwa, "Frustration" und "Selbstverwirklichung" -, und nimmt Oberbegriffe wie "Farben (einzelne)" und "Zahlen", "Imperativ" und "Tiere" auf. Allein die Betrachtung dieses Registers gewährt einen tiefen Einblick in Nietzsches Gedanken- und Bilderwelt, in bevorzugte Stilmittel und wiederkehrende Denkmotive. Das Register ist so nicht nur ein Hilfsmittel, das einmal gelesene Zitate leicht wieder zu finden hilft, sondern selbst "lesbar". Es hat nur einen Mangel: dass es nicht das gesamte Corpus der Nietzsche-Texte erfasst.

Das beste Beispiel für Prossliners Umsicht und Taurecks Sichtblenden ist der Umgang mit jenem Zitat, das mit der Vorhersehbarkeit eines pawlowschen Reflexes geäußert wird, sobald der Name Nietzsche fällt: "Wenn du zum Weibe gehst . . . " Prossliner macht in seinem Nachwort daraus einen Paradefall für "bis in die Niederungen durchgesickertes" Bildungsgut und ungenaues und daher falsches Zitieren. Taureck zitiert richtig und vollständig, wertet die Stelle aber als einen weiteren Beleg für Nietzsches Misogynie und seinen "unselig machenden Glauben an die Ungleichheit des Menschen". Auch entblödet er sich nicht, in diesem Zusammenhang auf die "Reitpeitsche aus Nilpferdleder" hinzuweisen, "mit der Hitler in München auftrat".

Das Nietzsche-Bild im wörtlichsten Sinne bestimmt der Schnurrbart. In zwei photographischen Varianten schmückt er Taurecks wie Prossliners Cover. Die Varianten, in denen innerhalb der Bücher von ihm gehandelt wird, sind bezeichnender: hier ein vordergründiger Scherz, dort eine hintergründige Beobachtung. Taureck beginnt seinen Eintrag zu "Bismarck, Otto von" mit der mäßig witzigen Bemerkung: "Nietzsche hatte buschige Brauen wie Bismarck und beider Bärte waren nach dem Muster des Walrosses gestylt." Prossliner sinniert über die Berechtigung, versteckte Selbstaussagen Nietzsches als solche kenntlich zu machen, und führt unter der Überschrift "List der Selbsterhaltung" ein Exempel der psychologischen Raffinesse Nietzsches und seiner Lust an der Verstellung an, mit dem er zugleich exakt die Falle benennt, in die Taureck und andere getappt sind: "Der sanftmüthigste und billigste Mensch (kann), wenn er nur einen großen Schnurrbart hat, gleichsam im Schatten desselben sitzen, und ruhig sitzen - die gewöhnlichen Augen sehen in ihm den Zubehör zu einem großen Schnurrbart, will sagen: einen militärischen, leicht aufbrausenden, unter Umständen gewaltsamen Charakter - und benehmen sich darnach vor ihm."

MARTINA BRETZ

Bernhard H. F. Taureck: "Nietzsche-Abc". Reclam Verlag Leipzig, Leipzig 1999. 256 S., br., 18,- DM.

Johann Prossliner (Hrsg.): "Licht wird alles, was ich fasse". Das Lexikon der Nietzsche-Zitate. Kastell Verlag, München 1999. 416 S., geb., 49,80 DM (Studienausgabe: 29,80 DM).

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Schlüsselbegriffe der nietzscheanischen Philosophie wie "Wille zur Macht", "Perspektivität",

"Ewige Wiederkehr" und "Zarathustra" werden nicht definiert, sondern in den Kontext der Philosophiegeschichte und Nietzsches eigener Entwicklung gestellt. Erfreulich ist, dass die Artikel nicht im Stil gewöhnlicher Lexikonartikel verfasst sind, sondern Anekdoten einbeziehen, so dass sich das Buch nicht nur als Nachschlagewerk empfiehlt, sondern auch eine selektive, begriffsorientierte Lektüre zulässt. Zeitschrift für Politikwissenschaft