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Produktdetails
  • Verlag: J.B. Metzler
  • Sonderausg.
  • Seitenzahl: 385
  • Abmessung: 230mm
  • Gewicht: 670g
  • ISBN-13: 9783476017574
  • Artikelnr.: 23955570
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.11.1996

Antibürgerlicher Selbstbedienungsladen
Steven E. Aschheim schreibt die Geschichte der Nietzsche-Rezeption in Deutschland

"Mein Buch lebt davon, daß Nietzsches Werk mit seinen vielfältigen Einflüssen nur dann angemessen zu verstehen ist, wenn es nicht nur auf einen elementaren Bestandteil reduziert wird und wenn man nicht behauptet, es besitze nur einen einzigen, eindeutig gültigen Sinn."

Mit diesem Satz stellt Steven E. Aschheim, Historiker an der Hebräischen Universität in Jerusalem, die Weichen für seine großangelegte Untersuchung über die Wirkungen Friedrich Nietzsches in Deutschland. Aschheim lehnt es ab, Nietzsches Texte lediglich im Lichte der Erfahrungen des Dritten Reichs zu lesen. Die Nötigung dazu scheint bei manchen Schriften des Philosophen übermächtig zu sein. "Wir machen einen Versuch mit der Wahrheit! Vielleicht geht die Menschheit daran zugrunde! Wohlan!" heißt es in den Entwürfen zur Fortsetzung des Zarathustra. Sentenzen dieser Art, einmontiert in unsere historische Erinnerung an marschierende SS-Truppen und in Bilder des Holocaust, könnten wie eine vorweggenommene Legitimation der nationalsozialistischen Diktatur und gleichzeitig wie ihr nachträglicher Kommentar anmuten.

Nietzsche als Galionsfigur des Völkermords - dieses Kapitel in der weltweiten Wirkungsgeschichte des Pastorensohns aus Röcken, des Altphilologen, Essayisten, Kulturphilosophen und Lyrikers ist der größte anzunehmende Unfall, der einem Mann der Feder widerfahren kann. Aus der modernen Ideengeschichte ist ein annähernd gleichgelagerter Fall nicht bekannt. Nietzsches schwarzer Kairos macht es schwer, sich mit seinen Einflüssen in Deutschland unabhängig vom Dritten Reich zu befassen. Folgt man Nietzsches Wirkungsspuren in außerdeutschen Ländern - in Frankreich, England, Italien, Rußland, Japan und so weiter -, vermindert sich das Problem. Gegenstandslos wird es nicht.

In seinem Buch - die Originalausgabe erschien 1992 unter dem Titel "The Nietzsche Legacy in Germany 1890 to 1990" - stellt Aschheim Nietzsches Einfluß auf die deutsche Gesellschaft in panoramischer Breite dar. Der nationalsozialistische Nietzsche ist in diesem Szenarium mehr als ein Segment, doch deutlich weniger als das Ganze. Die Scharen der deutschen Nietzscheaner könnten zahlreicher und bunter kaum sein: Anarchisten, Expressionisten, Sozialisten, Futuristen, Feministinnen, Vegetarier, Männerbündler, neue Religionsstifter - die Reihe ließe sich fortsetzen. Karl Jaspers, C. G. Jung und Martin Heidegger widmeten dem Werk Nietzsches in den Jahren der nationalsozialistischen Ära umfangreiche Studien. Sie sind Bestandteile einer sublimen Geschichte des Für und Wider: zu Nietzsche, zur Epoche der Diktaturen und zur Entwicklung der abendländischen Philosophie.

So opulent sich das Buch in der Verarbeitung des Materials darbietet, sein bedeutendster Gewinn besteht in der Ruhe, oder sagen wir besser in der Besonnenheit der Urteile seines Autors. Die überanstrengte Tonlage eines Georg Lukács oder Walter Kaufmann wird man bei ihm nicht finden. Aschheim weiß, dem Historiker darf die Hand ebensowenig zittern wie dem Chirurgen.

Zwei Feststellungen bauen Aschheims Analysen von innen her auf. Den Spezialisten mögen sie hinlänglich bekannt sein, ihre Bedeutung verlieren sie deswegen nicht. Erstens: Nietzsche ist ein Proteus. Die unablässige Verwandlung der Ideen feiert bei Nietzsche Triumphe. Den "Willen zum System" nannte er einen "Mangel an Rechtschaffenheit". Seine Texte sind Probiersteine in einem schöpferischen Chaos. Die Krise des Zeitalters wird in immer neuen Brechungen der Perspektive reflektiert. Die prismatisch gleißende Fülle der Nietzsche-Texte lockte Lebensreformer ebenso an wie Diktatoren, intellektuelle Progressisten, Biologiepolitiker, Romanciers, einen nationalistischen Attentäter (Gavrilo Princip) und selbst noch den liberalen Rabbi Cäsar Seligmann.

Versuch mit der Wahrheit

Zweitens: Der Nietzscheanismus ist nicht Nietzsche. Durch die Rezeptionsästhetik von Hans Robert Jauß angeregt, verzichtet Aschheim darauf, Nietzsches Nutznießer in legitime und illegitime Erben einzuteilen. Rezeptionsästhetisch unhaltbar, liegt diesem Verfahren die Fiktion vom "richtigen" Nietzsche zugrunde: "richtig" im Sinne eines als "werkgetreu" unterstellten Verständnisses seines Denkens.

Nietzsche war ein Dissident, ein Denker des Protests gegen den bürgerlichen Weltzustand, antiorthodox und radikal. Mit dieser Bewertung stimmt Aschheim Hinton R. Thomas zu, der 1983 eine thematisch ähnliche, doch chronologisch enger gefaßte Analyse über Nietzsche in Deutschland vorlegte. An einem entscheidenden Punkt geht Aschheim zu Thomas auf Distanz. Man darf Nietzsches Dissidententum nicht bloß, wie Thomas es tut, mit den linken Nietzscheanern, mit Sozialisten, Anarchisten, Frauenrechtlerinnen und revolutionären Jugendbünden, verknüpfen. Nietzsches antibürgerlicher Radikalismus hat auch auf das rechte Spektrum eingewirkt. Dies festzuhalten bedeutet eine Absage an jene politische Geographie, in der links und rechts, progressiv und reaktionär, modern und archaisch säuberlich voneinander geschieden sind. Tatsächlich muß man ideengeschichtlich (und zum Teil auf der Ebene der Politik) von Gemengelagen zwischen links und rechts sprechen, von Konserversion der Ideen, Identitäten des Nichtidentischen, kurz: von der Verbrüderung scheinbarer Antipoden.

Indem Aschheim auf dem ganzen Nietzsche beharrt - auf dem Antibürger, wohlgemerkt -, führt er den Leser in die innere Problemzone der Moderne. Die epidemische Erfahrung moderner Daseinsversicherung, die sich mit Erlösungssehnsüchten und Zukunftsversprechungen paarte, durchbrach alle Barrieren. Mit der konservativen Revolution der zwanziger Jahre beschäftigt sich Aschheim sparsamer, als es sein Einspruch gegen Hinton R. Thomas hätte erwarten lassen. Für das Studium der Gemengelagen ist dieser Boden besonders fruchtbar.

Wer ist der "wahre Nietzsche"? Nicht das ist die Meisterfrage. Rezeptionsästhetisch ist sie ohnehin falsch gestellt. Sie lautet vielmehr: Welche Elemente in Nietzsches Werk machten seine Ideen in allen Lagern brauchbar? Nietzsche ist nicht allein ein Emblem der Antizivilisation, ein Geistesbruder des Verbrechens. Nicht minder beunruhigend ergreift uns in der historischen Rückschau das Phänomen seiner Allgegenwart quer durch die Gesinnungswelten. War Nietzsche ein mißbrauchter Philosoph? Auch wer so fragt, läuft in eine Denkfalle. Die Auslegung Nietzsches ist Selbstauslegung mit Nietzsche - was der Verfasser der "Fröhlichen Wissenschaft" besser wußte als seine nachmaligen Jünger. Man lese Nietzsches Sinnspruch "Leg' ich mich aus . . .".

Aschheim führt seine Analysen bis an die Schwelle der Gegenwart. Wer Auskünfte über die Nietzsche-Diskussion von 1945 bis 1990 sucht, findet sie in den letzten Teilen des Buchs. Anspruch auf erschöpfende Darstellung wird nicht erhoben. Nach Lage der Dinge ist sie unmöglich und wahrscheinlich auch nicht sinnvoll. Was wäre ein bis ins letzte Heimatblatt recherchierter Nietzsche? Bei aller Sorgfalt im Umgang mit seinem Thema verzichtet Aschheim auf historiographische Kleinmalerei. Auch die großen Worte unter dem Banner Zarathustras widerstreben ihm. Sein Buch dient der historischen Aufklärung. KURT NOWAK

Steven E. Aschheim: "Nietzsche und die Deutschen". Karriere eines Kults. Aus dem Englischen von Klaus Laermann. J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 1996. X, 385 S., 17 Abb., geb., 78,- DM.

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