Produktdetails
- Verlag: Insel Verlag
- Neuaufl.
- Seitenzahl: 1418
- Deutsch
- Abmessung: 74mm x 120mm x 188mm
- Gewicht: 1125g
- ISBN-13: 9783458166092
- ISBN-10: 3458166092
- Artikelnr.: 05237343
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Mit Nietzsches Schriften über Wagner beginnt die Kritik des Medienzeitalters / Von Jan Roß
Friedrich Nietzsches Schrift "Richard Wagner in Bayreuth" ist ein Klassiker des effektvollen Kulturjournalismus. Sehr zu Unrecht nennt der Verfasser diese Werbebroschüre zur Eröffnung der Bayreuther Festspiele von 1876 eine "Unzeitgemäße Betrachtung" und tut darin vornehm gegen Presse und Telegraph. Denn Wagner selbst betrieb sein Geschäft mit allen modernen Techniken der Öffentlichkeitsarbeit, der Spendenakquisition und der Mobilisierung von Fan-Clubs, und Nietzsches publizistischer Freundschaftsdienst ist selbst ein Beitrag zu diesem neuartigen Medienrummel. Noch nie hatte man einen solchen Starkult erlebt wie hier, wo das Bayreuther Unterfangen als "erste Weltumsegelung im Reiche der Kunst" bezeichnet und Wagner wie selbstverständlich mit Alexander dem Großen verglichen wurde.
Allerdings zweifelte Nietzsche im Sommer 1876 schon an seinem Abgott. Der Autor der vierten "Unzeitgemäßen Betrachtung" ist ein Missionar ohne den rechten Glauben. Seit die Familie Wagner im Frühjahr 1872 von Tribschen am Luzerner See nach Bayreuth gezogen war, hatten sich die Verbindungen zu Nietzsche in Basel merklich gelockert. Dreiundzwanzigmal war der junge Professor der Klassischen Philologie in den vergangenen drei Jahren bei Richard und Cosima Wagner (zunächst noch Cosima von Bülow) zu Gast gewesen. "Ich möchte um keinen Preis die Tage von Tribschen aus meinem Leben weggeben", schreibt er in seiner Lebensbilanz "Ecce Homo", lange nach dem Bruch mit Wagner, "Tage des Vertrauens, der Heiterkeit, der sublimen Augenblicke. Ich weiß nicht, was andere mit Wagner erlebt haben: über unsern Himmel ist nie eine Wolke hinweggegangen." Nietzsches Erstlingsschrift, die "Geburt der Tragödie", hatte zwischen Wagner und ihm eine kulturreformatorische Waffenbruderschaft und eine Art musikalisch-philosophischer Arbeitsteilung gestiftet.
Der rührige Bayreuther Festspielunternehmer Wagner aber, der sich Kaiser und Reich an den Hals warf, um ein Bismarck der Nationalkunst zu werden, mußte dem Zeitkritiker Nietzsche verdächtig sein. Auch die geliebte Musik hörte sich nun anders an - gewaltsam, wenn nicht herrschsüchtig und sogar ordinär. Im gedruckten Text von "Richard Wagner in Bayreuth" hat Nietzsche seine Vorbehalte mit einiger Mühe noch einmal zum Schweigen gebracht. In den Notizen und Vorstudien zu dem Buch dagegen spricht er die neuen Bedenken offen aus. Freilich stammen sie ausgerechnet aus einer Zeit, da das Bayreuther Vorhaben zu scheitern drohte. Als Wagner dann doch triumphierte, war auch Nietzsche mit seine Gratulation zur Stelle.
In Dieter Borchmeyers und Jörg Salaquardas zweibändiger Dokumentation "Nietzsche und Wagner" findet man die enthüllenden Skizzen für die Schublade und das geschönte Bild für die deutsche Nation zum ersten Mal in kompromittierender Nachbarschaft. Die maßgebliche Nietzsche-Ausgabe von Giorgio Colli und Mazzino Montinari trennt, editorisch vollkommen korrekt, die vierte "Unzeitgemäße" als publiziertes Werk von den vorbereitenden Aufzeichnungen, die zum Nachlaß gehören. So fällt die Unaufrichtigkeit des Autors, für die ihn die gerechte Strafe in Gestalt einer gewissen lautstarken Verquältheit von "Richard Wagner in Bayreuth" ereilte, weniger skandalös auf. Die Frage nach Wahrhaftigkeit und Verlogenheit ist es gewesen, die Nietzsche später öffentlich an Wagner gestellt hat und die den Kern seiner Wagner-Kritik bildet. In Borchmeyers und Salaquardas chronologischer Sammlung aller Äußerungen der beiden über einander geht diese Frage an Nietzsche zurück.
Denn er hatte Mitte der siebziger Jahre schon entdeckt, was er 1888 als den "Fall Wagner" anprangern sollte: daß Wagner nichts als ein Schauspieler sei. Wobei diese Begabung "versetzt ist" und "sich in anderen Wegen Bahnen bricht als auf dem ersten nächsten: dazu nämlich fehlt ihm Gestalt, Stimme und die notwendige Bescheidung." Der unansehnliche und unbescheidene Schauspieler wird zum Schöpfer des Gesamtkunstwerks, in dem sich die einzelnen Impotenzen auf wunderbare Weise zu einem überwältigenden Effekt vereinigen: "Die Musik ist nicht viel wert, die Poesie auch nicht, das Drama auch nicht, die Schauspielkunst ist oft nur Rhetorik - aber alles ist im Großen Eins und auf einer Höhe." Es ist nicht bloß ein idealistisches Klischee, sondern gute philosophische Tradition, wenn hier neben dem Theaterwesen auch das Rhetorentum als Beleg für die Fadenscheinigkeit des verführerischen Bühnenzaubers dient. Denn Nietzsches gesamte Auseinandersetzung mit Wagner ist auch eine moderne Version von Platons Rednerfeindschaft und Dichterkritik.
Sie gleicht dem antiken Vorbild nicht zuletzt darin, daß sie eine Haßliebe bleibt. Schon wenn Nietzsche in "Menschliches, Allzumenschliches" von 1878/79, seinem ersten nachwagnerianischen Buch, "Vom Barockstile" handelt, zeigt er sich im Zwiespalt. Er vergleicht hier die neueste Musik mit jener Bildnerei, die, "wie dies sich schon bei Michelangelo, dem Vater und Großvater der italienischen Barockkünstler ankündigt", "die Beredsamkeit der starken Affekte und Gebärden, des Häßlich-Erhabenen, der großen Massen, überhaupt der Quantität an sich" entfesselt. Man dürfe aber von dieser unklassischen Ästhetik nicht gering denken. Sie sei ein "Natur-Ereignis, dem man wohl mit Schwermut - weil es der Nacht voranläuft - zusehen wird, aber zugleich mit Bewunderung für die ihm eigentümlichen Ersatzkünste des Ausdrucks und der Erzählung." Daß Wagners Musikdrama, das doch das "Kunstwerk der Zukunft" sein sollte, in Wahrheit ein Spätlingswerk ist und "der Nacht voranläuft" - das ist, diesseits der späteren Totalabrechnung mit dem "Fall Wagner" als Inbegriff der modernen Kultur, Nietzsches scharfsinnigster Beitrag zur historischen und ästhetischen Kritik von Wagners OEuvre. Er hat denn auch bald die frappierende Verwandtschaft dieser scheinbar nationalen Kunst mit der französischen Nachromantik von Baudelaire und Delacroix erkannt.
Der Vergleich der "Zukunftsmusik" mit Michelangelos und auch Berninis Barock, das sieht man bei Borchmeyer und Salaquarda klarer als zuvor, ist von Nietzsches Basler Kollegen Jacob Burckhardt und seinem Bild der italienischen Kunstgeschichte inspiriert. "Um's Himmels Willen", heißt es im August 1878 im Entwurf eines Briefs an Mathilde Maier, "lesen Sie über Barockstil J. Burckhardts Cicerone!!!" Das Ehepaar Wagner wußte oder ahnte zumindest, wer den Jünger zum Abfall, zur, wie Cosima allen Ernstes schreibt, "Sünde wider den h. Geist" verleitet hatte. "Wir lesen in Burckhardt einiges über den Dom nach", notiert Cosima am 28. August 1880 in ihr Tagebuch, "und finden in dem hochnäsigen, kalt absprechenden Ton Spuren des Einflusses auf Nietzsche."
Leider muß der Leser von Borchmeyers und Salaquardas Dokumentation in Martin Gregor-Dellins Ausgabe der Tagebücher von Cosima Wagner nachschlagen, um festzustellen, daß diese Bemerkung, was man allerdings leicht errät, von einer Italienreise stammt und daß sie sich, was weniger offenkundig ist, auf den Dom von Siena bezieht. Die provozierend spärlichen kommentierenden Anmerkungen, die dem Text beigegeben sind, hätten die Herausgeber lieber weglassen sollen.
In seiner endgültigen Wagner-Polemik in den ausgehenden achtziger Jahren hat Nietzsche das Motiv des Schauspielertums und überhaupt der Verstellung weiterverfolgt, zum Kernproblem der gesamten Gegenwartszivilisation erklärt und die Fragwürdigkeit dieser Lebensform ohne Nachsicht auch bei sich selbst beobachtet. "Ich bin so gut wie Wagner das Kind dieser Zeit", heißt es im "Fall Wagner", "will sagen ein decadent: nur daß ich das begriff, nur daß ich mich dagegen wehrte."
Die Diagnose der Gegenwart als einer krankhaften Scheinwelt, aus der sich der Erkennende nicht befreien kann, und deren intimste Geheimnisse ihm gerade dank seiner Verstrickung und eigenen Krankheit zugänglich sind - mit dieser Gedankenfigur hat Nietzsche eine neue und bis jetzt nicht abgeschlossene Epoche der Reflexion eröffnet. Er hat die moderne Kulturkritik begründet, und Adornos dialektische Sisyphosarbeit am "universalen Verblendungszusammenhang" der Ideologie ist ihm nicht weniger verpflichtet als Thomas Manns selbstquälerische Analyse des Künstlertums. Daß heute Journalisten vor der Informationsflut warnen und im Fernsehen über die Mediengesellschaft geklagt wird, gehört immer noch zur Wirkungsgeschichte von Friedrich Nietzsches verzweifeltem Kampf mit Richard Wagner. Seither erkennt man den Intellektuellen an seinem schlechten Gewissen.
"Nietzsche und Wagner". Stationen einer epochalen Begegnung. Herausgegeben von Dieter Borchmeyer und Jörg Salaquarda. Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 1994. Zwei Bände, zusammen 1418 S., geb., 160,-DM.
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