In der Philosophie Friedrich Nietzsches wird die kritische Wahrheit des Lebens atheistisch und doch in quasi-religiöser Totalität behauptet - und dies in einer Sprachmächtigkeit, die der zeitgenössischen Theologie zu fehlen schien. Tom Kleffmann interpretiert zunächst Nietzsches Lebensbegriff nach der chronologischen Reihenfolge seiner Schriften. Dann beschäftigt er sich mit der Rezeption dieses Lebensbegriffs in der deutschen evangelischen Theologie bis ca. 1930. Hierbei wird neben Untersuchungen von Albert Schweitzers 'Kultur und Ethik' und der 2. Auflage des Römerbriefkommentars von Karl Barth erstmals eine Gesamtinterpretation von P. Tillichs 'Marburger Dogmatik' vorgelegt. Ein Schlußkapitel stellt die Ergebnisse für den systematisch-theologischen Lebensbegriff dar.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.08.2003Gott ist tot, aber der Theologie geht es prächtig
Der wahre Souverän des existentiellen Ernstes: Tom Kleffmann über den Einfluss Friedrich Nietzsches auf das protestantische Denken
„Eigentlich hat alles, was meine Generation diskutierte, innerlich sich auseinanderdachte, man kann sagen: erlitt, man kann auch sagen: breittrat – alles das hatte sich bereits bei Nietzsche ausgesprochen und erschöpft, definitive Formulierung gefunden, alles weitere war Exegese.” Gottfried Benns Diagnose der katastrophalen Erschütterungen, die das Nietzsche-„Erdbeben” in seiner Generation auslöste, gilt auch für die protestantische Theologie.
In Benns Geburtsjahr 1886 wurden die Theologen Karl Barth, Paul Tillich und Eduard Thurneysen sowie der jüdische Religionsintellektuelle Franz Rosenzweig geboren. Der große Entmythologisierer Rudolf Bultmann erblickte 1884 das aufgeklärte Licht der Welt. Zu ihrer Generation gehörten auch Barths zeitweiliger Kampfgefährte Friedrich Gogarten, Jahrgang 1887, und die 1888 geborenen Lutheraner Paul Althaus und Emanuel Hirsch. Friedrich Nietzsche, der unter dem Glauben seiner Väter leidende Pfarrerssohn, wurde ihr intellektuelles Schicksal. Angewidert von der bourgeoisen „Fratzenkultur” und traumatisiert vom Massensterben des Ersten Weltkriegs setzten die antiliberalen Krisentheologen auf eine expressionistisch unbedingte Neubegründung der Theologie.
Sie begeisterten sich für seine Fundamentalkritik des modernen Historismus, der durch die Allmacht des Vergangenen der Gegenwart ihre Unmittelbarkeit raube. Sie berauschten sich an Nietzsches bilderreicher Sprache, tranken vom Wein dionysischer Lebenskraft und wollten selbst Nietzsches grandioses Schauspiel vom Tode Gottes im theologischen Wissenschaftstheater reinszenieren. Götzendämmerung hieß ihr Stück, und aufgeführt wurde der Untergang der kulturselig seichten Pantoffelgötter, die ein staatsfrommes Bürgertum in neogotischen Kirchen verehrt hatte. Im Schlussakt trat dann der wahre Gott auf, ein Souverän des existentiellen Ernstes, der Furcht und Zittern verbreitet und alle Illusionen freier Subjektivität zerstört. Sub specie Dei erschien hier der moderne Mensch als Sünder, der Freiheit begehrte, aber nur narzisstischer Selbstbezüglichkeit verfallen war.
Tom Kleffmann hat in seiner brillanten Habilitationsschrift nun erstmals den Nietzsche-Diskurs in der protestantischen Theologie der zwanziger Jahre rekonstruiert. Wer als Theologe damals etwas auf sich hielt, wollte „lebensnah” denken. Leben aber ist schon alltagssprachlich ein äußerst vager Begriff. Kleffmann analysiert zunächst den gewöhnlichen Sprachgebrauch, der schnell in Fragwürdigkeiten führt. Jedes Lebewesen lebt. Aber manche Zeitgenossen leben nur vor sich hin. Andere wollen für etwas leben, um ihrem Lebenslauf sinnerfüllte Bestimmtheit zu geben. Da jeder Mensch unausweichlich zum Tode hin lebt, muss endliches Leben zum Gegenstand der Reflexion werden.
Vom Größenwahn entlastet
In solchem Selbstbewusstsein tritt das auf sich reflektierende Subjekt in Distanz zum scheinbar Allerselbstverständlichsten, dem unmittelbar gelebten Leben. Mit Reflexionsfiguren Hegels zeigt Kleffmann, dass sich die allem denkenden Leben immer schon innewohnende Entfremdung nur durch den Gedanken eines absoluten Lebens überwinden lässt. Nietzsches Lebensphilosophie liest er als Versuch, den Selbstwiderspruch endlichen Lebens durch einen titanischen Willen zur Überwindung der eigenen Endlichkeit aufzulösen. Der dionysischen Entscheidung zur Selbstvergötterung setzt er als kontradiktorische Alternative das christliche Lebensverständnis entgegen. Gegen Nietzsches Selbstverabsolutierung endlichen Lebens mute der christliche Glaube die Aufhebung aller Entzweiungen allein der Subjektivität Gottes zu, der sich bis in seinen Tod mit dem Menschen identifiziert. Die Sterblichen sind damit von dem Größenwahn entlastet, auf den vielen Bühnen des Lebens die immer gleiche verrückte Rolle, den absoluten Herrenmenschen, zu spielen.
Einer subtilen Analyse von Nietzsches Lebensphilosophie folgen Fallstudien zur Nietzsche-Rezeption Albert Schweitzers, Paul Tillichs und Karl Barths. Die drei Theologen teilen Nietzsches Fundamentalkritik des theologischen Historismus. Sie wollen wahres, von christlicher Einsicht geprägtes Leben jenseits irgendwelcher historischer Begründungen bestimmen. Statt dionysischer Selbstübersteigerung des Willens zum Leben denkt Schweitzer eine Lebensbejahung, in der der denkende Wille zum Leben immer auch den Lebenswillen der anderen mitumfassen soll. Tillich fordert eine unmittelbare Lebensbeziehung theologischer Reflexion, um unverständlich gewordenen religiösen Symbolen neuen existentiellen Lebenssinn abzugewinnen. Die Entzweiung des Lebens bestimmt er als Schwermut und Todesschmerz, die in gläubigem Mut und Schöpfungslust zu überwinden seien. Barth setzt Nietzsches Selbstvergötterung des Menschen die Erinnerung an die „Todeslinie” als entscheidender Wahrheit „dieses” Lebens entgegen.
Kleffmann verbindet seine äußerst dichten, begrifflich strengen Analysen der Lebenstheologien Schweitzers, Tillichs und Barths mit der systematischen Skizze eines Lebensbegriffs, in dem gegen jede dionysische Unmittelbarkeit des Lebens die Faktizität der Entzweiung festgehalten wird. Nur im Mythos lasse sich reflexive Entzweiung als überwunden symbolisieren. Der christliche Mythos bedeute aber keine vormoderne Regression. Kleffmann geht es vielmehr um eine neue Wahrnehmung des Lebens, die das Geheimnis geisterfüllten Lebens ernst nimmt. Die intellektuelle Brillanz seiner Theologie des sich ernst nehmenden Lebens zeigt sich gerade darin, dass nach faszinierenden Denkbewegungen auch die Grenzen der Vernunft präzise markiert werden.
FRIEDRICH WILHELM GRAF
TOM KLEFFMANN: Nietzsches Begriff des Lebens und die evangelische Theologie. Eine Interpretation Nietzsches und Untersuchungen zu seiner Rezeption bei Schweitzer, Tillich und Barth. Mohr Siebeck Verlag, Tübingen 2003. 648 Seiten, 114 Euro.
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Der wahre Souverän des existentiellen Ernstes: Tom Kleffmann über den Einfluss Friedrich Nietzsches auf das protestantische Denken
„Eigentlich hat alles, was meine Generation diskutierte, innerlich sich auseinanderdachte, man kann sagen: erlitt, man kann auch sagen: breittrat – alles das hatte sich bereits bei Nietzsche ausgesprochen und erschöpft, definitive Formulierung gefunden, alles weitere war Exegese.” Gottfried Benns Diagnose der katastrophalen Erschütterungen, die das Nietzsche-„Erdbeben” in seiner Generation auslöste, gilt auch für die protestantische Theologie.
In Benns Geburtsjahr 1886 wurden die Theologen Karl Barth, Paul Tillich und Eduard Thurneysen sowie der jüdische Religionsintellektuelle Franz Rosenzweig geboren. Der große Entmythologisierer Rudolf Bultmann erblickte 1884 das aufgeklärte Licht der Welt. Zu ihrer Generation gehörten auch Barths zeitweiliger Kampfgefährte Friedrich Gogarten, Jahrgang 1887, und die 1888 geborenen Lutheraner Paul Althaus und Emanuel Hirsch. Friedrich Nietzsche, der unter dem Glauben seiner Väter leidende Pfarrerssohn, wurde ihr intellektuelles Schicksal. Angewidert von der bourgeoisen „Fratzenkultur” und traumatisiert vom Massensterben des Ersten Weltkriegs setzten die antiliberalen Krisentheologen auf eine expressionistisch unbedingte Neubegründung der Theologie.
Sie begeisterten sich für seine Fundamentalkritik des modernen Historismus, der durch die Allmacht des Vergangenen der Gegenwart ihre Unmittelbarkeit raube. Sie berauschten sich an Nietzsches bilderreicher Sprache, tranken vom Wein dionysischer Lebenskraft und wollten selbst Nietzsches grandioses Schauspiel vom Tode Gottes im theologischen Wissenschaftstheater reinszenieren. Götzendämmerung hieß ihr Stück, und aufgeführt wurde der Untergang der kulturselig seichten Pantoffelgötter, die ein staatsfrommes Bürgertum in neogotischen Kirchen verehrt hatte. Im Schlussakt trat dann der wahre Gott auf, ein Souverän des existentiellen Ernstes, der Furcht und Zittern verbreitet und alle Illusionen freier Subjektivität zerstört. Sub specie Dei erschien hier der moderne Mensch als Sünder, der Freiheit begehrte, aber nur narzisstischer Selbstbezüglichkeit verfallen war.
Tom Kleffmann hat in seiner brillanten Habilitationsschrift nun erstmals den Nietzsche-Diskurs in der protestantischen Theologie der zwanziger Jahre rekonstruiert. Wer als Theologe damals etwas auf sich hielt, wollte „lebensnah” denken. Leben aber ist schon alltagssprachlich ein äußerst vager Begriff. Kleffmann analysiert zunächst den gewöhnlichen Sprachgebrauch, der schnell in Fragwürdigkeiten führt. Jedes Lebewesen lebt. Aber manche Zeitgenossen leben nur vor sich hin. Andere wollen für etwas leben, um ihrem Lebenslauf sinnerfüllte Bestimmtheit zu geben. Da jeder Mensch unausweichlich zum Tode hin lebt, muss endliches Leben zum Gegenstand der Reflexion werden.
Vom Größenwahn entlastet
In solchem Selbstbewusstsein tritt das auf sich reflektierende Subjekt in Distanz zum scheinbar Allerselbstverständlichsten, dem unmittelbar gelebten Leben. Mit Reflexionsfiguren Hegels zeigt Kleffmann, dass sich die allem denkenden Leben immer schon innewohnende Entfremdung nur durch den Gedanken eines absoluten Lebens überwinden lässt. Nietzsches Lebensphilosophie liest er als Versuch, den Selbstwiderspruch endlichen Lebens durch einen titanischen Willen zur Überwindung der eigenen Endlichkeit aufzulösen. Der dionysischen Entscheidung zur Selbstvergötterung setzt er als kontradiktorische Alternative das christliche Lebensverständnis entgegen. Gegen Nietzsches Selbstverabsolutierung endlichen Lebens mute der christliche Glaube die Aufhebung aller Entzweiungen allein der Subjektivität Gottes zu, der sich bis in seinen Tod mit dem Menschen identifiziert. Die Sterblichen sind damit von dem Größenwahn entlastet, auf den vielen Bühnen des Lebens die immer gleiche verrückte Rolle, den absoluten Herrenmenschen, zu spielen.
Einer subtilen Analyse von Nietzsches Lebensphilosophie folgen Fallstudien zur Nietzsche-Rezeption Albert Schweitzers, Paul Tillichs und Karl Barths. Die drei Theologen teilen Nietzsches Fundamentalkritik des theologischen Historismus. Sie wollen wahres, von christlicher Einsicht geprägtes Leben jenseits irgendwelcher historischer Begründungen bestimmen. Statt dionysischer Selbstübersteigerung des Willens zum Leben denkt Schweitzer eine Lebensbejahung, in der der denkende Wille zum Leben immer auch den Lebenswillen der anderen mitumfassen soll. Tillich fordert eine unmittelbare Lebensbeziehung theologischer Reflexion, um unverständlich gewordenen religiösen Symbolen neuen existentiellen Lebenssinn abzugewinnen. Die Entzweiung des Lebens bestimmt er als Schwermut und Todesschmerz, die in gläubigem Mut und Schöpfungslust zu überwinden seien. Barth setzt Nietzsches Selbstvergötterung des Menschen die Erinnerung an die „Todeslinie” als entscheidender Wahrheit „dieses” Lebens entgegen.
Kleffmann verbindet seine äußerst dichten, begrifflich strengen Analysen der Lebenstheologien Schweitzers, Tillichs und Barths mit der systematischen Skizze eines Lebensbegriffs, in dem gegen jede dionysische Unmittelbarkeit des Lebens die Faktizität der Entzweiung festgehalten wird. Nur im Mythos lasse sich reflexive Entzweiung als überwunden symbolisieren. Der christliche Mythos bedeute aber keine vormoderne Regression. Kleffmann geht es vielmehr um eine neue Wahrnehmung des Lebens, die das Geheimnis geisterfüllten Lebens ernst nimmt. Die intellektuelle Brillanz seiner Theologie des sich ernst nehmenden Lebens zeigt sich gerade darin, dass nach faszinierenden Denkbewegungen auch die Grenzen der Vernunft präzise markiert werden.
FRIEDRICH WILHELM GRAF
TOM KLEFFMANN: Nietzsches Begriff des Lebens und die evangelische Theologie. Eine Interpretation Nietzsches und Untersuchungen zu seiner Rezeption bei Schweitzer, Tillich und Barth. Mohr Siebeck Verlag, Tübingen 2003. 648 Seiten, 114 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Mit seiner Untersuchung über den Einfluss Friedrich Nietzsches auf das protestantische Denken hat Tom Kleffmann nach Ansicht von Rezensent Friedrich Wilhelm Graf eine "brillante Habilitationsschrift" vorgelegt. Im Mittelpunkt der Arbeit sieht Graf eine "subtile Analyse" von Nietzsches Lebensphilosophie, gedeutet als Versuch, "den Selbstwiderspruch endlichen Lebens durch einen titanischen Willen zur Überwindung der eigenen Endlichkeit aufzulösen", dem Kleffmann das christliche Lebensverständnis entgegen setzte. Mittels Fallstudien zur Nietzsche-Rezeption Albert Schweitzers, Paul Tillichs und Karl Barths zeige Kleffmann, inwiefern die drei Theologen Nietzsches Fundamentalkritik des theologischen Historismus teilten, um ein von christlicher Einsicht geprägtes Leben jenseits historischer Begründungen zu bestimmen, berichtet Graf. Er hebt hervor, dass es Kleffmann darüber hinaus um eine neue Wahrnehmung des Lebens geht, die das Geheimnis geisterfüllten Lebens ernst nehme.
© Perlentaucher Medien GmbH
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