Ein Cicerone durch die verschlungenen Spuren, die das Land im Werk und in den Briefen des berühmten Philosophen hinterlassen hat.Von Thomas Mann stammt das Vorurteil, für Bildende Kunst und Architektur habe sich Friedrich Nietzsche bestenfalls am Rande interessiert, trotz seiner Aufenthalte in Italiens großen Kunststädten - Genua, Venedig, Rom, Florenz und Turin.In diesem Buch werden die alles andere als geradlinigen Spuren verfolgt, die Nietzsches leidenschaftliche Bindung an Italien, seine historischen Bauten und seine Kunstwerke im Werk und in den Briefen des Philosophen hinterlassen hat.Nietzsche hat die Vielfalt der Kulturzeugnisse in Italiens Städten nicht nur zur Kenntnis genommen: Aus ihrer Interpretation sind wesentliche Bestandteile seiner Philosophie erst sinnfällig geworden. Umgekehrt hat er im Zuge der Wechselfälle seiner eigenen Philosophie, seine Sicht auf die italienische Kunst immer wieder modifiziert.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2002Voglio viaggiare in Italia
Tilmann Buddensieg auf Nietzsches Spur / Von Dietmar Polaczek
Warum nur hat Chur keinen St.-MarkusPlatz und keine Gondeln? Wieso findet Nietzsche als anderes Wort für Musik immer nur "Venedig"? Warum ist für den Sonnenuntergang am Golf von Neapel die "einzig passende Musik nur das ,Benediktus' aus der großen Messe von Beethoven"? Ist der Racoczi-Marsch tatsächlich ein typisch venezianisches Musikstück, auf Gondeln zu singen? (Heute ziehen Gondolieri das genauso authentische "O sole mio" aus Neapel vor.) Bräche ein Fabrikant aus Recklinghausen vor der Kitschfigur eines Mädchens auf dem Grab Giacinto Ghilinos im genuesischen Friedhof Staglione in Tränen aus, veranlaßte das einen Kulturhistoriker, das Geschlecht des (männlichen) Toten zu verwechseln? Lauter Fragen eines Skeptikers, der sich erinnert, Robert Neumanns genialer parodistischer Jugendstreich "Nietzsche und die Folgen" habe einen wunden Punkt getroffen.
Dem Leben eines Großen im Wörtlichen, Örtlichen und Geistigen nachzugehen braucht es dessen Dauer - ersatzweise Tonnen Literatur und eine effiziente Truppe aus Assistenten, kritischen Freunden, Lektorat und anständigem Verlag, der nicht, um zu sparen, den Umfang begrenzt oder Bilder, Register, Bibliographie und andere "unnütze" Akzessorien wegläßt. Wagenbach, er sei gelobt, ist der Anständigen einer. Tilmann Buddensieg verfügte für seine beeindruckende Monographie der Kategorie "Nietzsche und" über alle notwendigen, nicht immer hinreichenden Bedingungen. Seit mindestens zwei Jahrzehnten beschäftigt er sich mit dem Thema.Es wäre also vermessen, sich nach kurzer Lektüre eines "nur" 250 Seiten starken, aber mit 695 Fußnoten gepanzerten Bandes mit Buddensiegs profunder Sachkenntnis messen zu wollen. Unbehagen bleibt doch: das notorische Unbehagen derer, die nicht Nietzscheaner sind, am Apodiktischen des unbestreitbaren Dichters und fatalen Philosophen. Bei Buddensieg findet es nicht so sehr kritisches als verstärkendes Echo.
Einer apodiktischen Äußerung Thomas Manns zu widersprechen - "für Bildende Kunst habe sich Nietzsche bestenfalls am Rande interessiert, trotz seiner Aufenthalte in Italiens großen Kunststädten" - war der Stimulus Buddensiegs. Aber trotz seinen Aufenthalten in Italiens großen Kunststädten will uns scheinen, daß Nietzsche in der Betrachtung des Landes und seiner damaligen Kultur wenig über den Horizont des Geistes seiner Zeit hinauskam. Ein zweiter Stimulus für Buddensieg mag eine ins Skurrile reichende Mischung aus mittelbarer Beziehung zu Nietzsche und Verwandtenliebe gewesen sein: Er widmet sein Werk Robert Buddensieg (1817 bis 1861), Religionslehrer Nietzsches in Schulpforta, und Rudolf Buddensieg (1844 bis 1908), Mitschüler Nietzsches in Schulpforta, im selben Jahr geboren wie der Dichter und Philologe, aber kein solcher geworden.
Ist es übertrieben, sich an Lappalien zu stoßen? Übertrieben, Präzision auf der Objektebene zu verlangen, wenn es um die Metaebene, um das Geistige im Zusammenprall zwischen mediterranen Landschaften und dem Kopf eines gewaltigen Dichters geht? Andererseits: Wo, wenn nicht in der Besprechung eines Buchs über einen der größten Übertreiber - ein Übertreiber würde sagen: über den größten Übertreiber aller Zeiten -, darf man übertreiben?
Zu welchen Schlußfolgerungen verführen durchgehende Schreibungen wie "Posilipo" oder "Lionardo" (wie noch Nietzsche schrieb) für den neapolitanischen Stadtteil Posillipo oder Leonardo da Vinci und gar das putzige "Castello dell'Oro" (GoldKastell; ein Fehler Nietzsches? Ein Fehler beim Lesen seiner Handschrift?) für das mittelalterliche Castel dell'Ovo (Ei-Kastell) in Neapel? Oder ein Bildtext, der nach Meinung von Neapolitanern das Fotografierte nicht richtig beschreibt? Hat Buddensieg die Örtlichkeiten nicht wenigstes einmal auf einem neapolitanischen Stadtplan gesucht? Was hielte man von einem italienischen Buch über "Göthe's Deutschland", dessen Autor Goethes Orthographie mit "Cöln", "Cassel" oder "Mannheym" bis zu dessen eigenem Namen übernähme?
Quisquilien. Aber sie gehören zur philologischen Zuverlässigkeit. Die nehmen wir bei der zitierten Primär- und Sekundärliteratur blind für gegeben. Die Studie zeigt - vielleicht anders, als Buddensieg wollte, der sich vorsichtig zurückhält und Deutungen höchstens "vorschlägt" -, daß Nietzsche sehr wohl ein intensives Verhältnis zur Kunst hatte. Doch es war emotional, nicht rational nachvollziehbar, historisch erfaßbar oder auf Analyse begründet. Buddensieg beschreibt Nietzsches "fünf Stufen" der Wahrnehmung bei den "Reisenden" in Italien ("Menschliches, Allzumenschliches"). Während der armselige Jacob Burckhardt nur "sieht, was ist", rechnet sich Nietzsche zu denen, die den höchsten Grad der Wahrnehmung erreicht haben, "alles Gesehene, nachdem es erlebt und eingelebt worden ist, wieder aus sich herausleben müssen, in Handlungen und Werken . . ." So gesehen: Hätte Nietzsche ein authentisches Italien-Erlebnis auch in Schottland haben können? Wenn ja: Warum nicht?
Tilmann Buddensieg: "Nietzsches Italien". Städte, Gärten und Paläste. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2002. 272 S., 44 Abb., geb., 28,50 [Euro].
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Tilmann Buddensieg auf Nietzsches Spur / Von Dietmar Polaczek
Warum nur hat Chur keinen St.-MarkusPlatz und keine Gondeln? Wieso findet Nietzsche als anderes Wort für Musik immer nur "Venedig"? Warum ist für den Sonnenuntergang am Golf von Neapel die "einzig passende Musik nur das ,Benediktus' aus der großen Messe von Beethoven"? Ist der Racoczi-Marsch tatsächlich ein typisch venezianisches Musikstück, auf Gondeln zu singen? (Heute ziehen Gondolieri das genauso authentische "O sole mio" aus Neapel vor.) Bräche ein Fabrikant aus Recklinghausen vor der Kitschfigur eines Mädchens auf dem Grab Giacinto Ghilinos im genuesischen Friedhof Staglione in Tränen aus, veranlaßte das einen Kulturhistoriker, das Geschlecht des (männlichen) Toten zu verwechseln? Lauter Fragen eines Skeptikers, der sich erinnert, Robert Neumanns genialer parodistischer Jugendstreich "Nietzsche und die Folgen" habe einen wunden Punkt getroffen.
Dem Leben eines Großen im Wörtlichen, Örtlichen und Geistigen nachzugehen braucht es dessen Dauer - ersatzweise Tonnen Literatur und eine effiziente Truppe aus Assistenten, kritischen Freunden, Lektorat und anständigem Verlag, der nicht, um zu sparen, den Umfang begrenzt oder Bilder, Register, Bibliographie und andere "unnütze" Akzessorien wegläßt. Wagenbach, er sei gelobt, ist der Anständigen einer. Tilmann Buddensieg verfügte für seine beeindruckende Monographie der Kategorie "Nietzsche und" über alle notwendigen, nicht immer hinreichenden Bedingungen. Seit mindestens zwei Jahrzehnten beschäftigt er sich mit dem Thema.Es wäre also vermessen, sich nach kurzer Lektüre eines "nur" 250 Seiten starken, aber mit 695 Fußnoten gepanzerten Bandes mit Buddensiegs profunder Sachkenntnis messen zu wollen. Unbehagen bleibt doch: das notorische Unbehagen derer, die nicht Nietzscheaner sind, am Apodiktischen des unbestreitbaren Dichters und fatalen Philosophen. Bei Buddensieg findet es nicht so sehr kritisches als verstärkendes Echo.
Einer apodiktischen Äußerung Thomas Manns zu widersprechen - "für Bildende Kunst habe sich Nietzsche bestenfalls am Rande interessiert, trotz seiner Aufenthalte in Italiens großen Kunststädten" - war der Stimulus Buddensiegs. Aber trotz seinen Aufenthalten in Italiens großen Kunststädten will uns scheinen, daß Nietzsche in der Betrachtung des Landes und seiner damaligen Kultur wenig über den Horizont des Geistes seiner Zeit hinauskam. Ein zweiter Stimulus für Buddensieg mag eine ins Skurrile reichende Mischung aus mittelbarer Beziehung zu Nietzsche und Verwandtenliebe gewesen sein: Er widmet sein Werk Robert Buddensieg (1817 bis 1861), Religionslehrer Nietzsches in Schulpforta, und Rudolf Buddensieg (1844 bis 1908), Mitschüler Nietzsches in Schulpforta, im selben Jahr geboren wie der Dichter und Philologe, aber kein solcher geworden.
Ist es übertrieben, sich an Lappalien zu stoßen? Übertrieben, Präzision auf der Objektebene zu verlangen, wenn es um die Metaebene, um das Geistige im Zusammenprall zwischen mediterranen Landschaften und dem Kopf eines gewaltigen Dichters geht? Andererseits: Wo, wenn nicht in der Besprechung eines Buchs über einen der größten Übertreiber - ein Übertreiber würde sagen: über den größten Übertreiber aller Zeiten -, darf man übertreiben?
Zu welchen Schlußfolgerungen verführen durchgehende Schreibungen wie "Posilipo" oder "Lionardo" (wie noch Nietzsche schrieb) für den neapolitanischen Stadtteil Posillipo oder Leonardo da Vinci und gar das putzige "Castello dell'Oro" (GoldKastell; ein Fehler Nietzsches? Ein Fehler beim Lesen seiner Handschrift?) für das mittelalterliche Castel dell'Ovo (Ei-Kastell) in Neapel? Oder ein Bildtext, der nach Meinung von Neapolitanern das Fotografierte nicht richtig beschreibt? Hat Buddensieg die Örtlichkeiten nicht wenigstes einmal auf einem neapolitanischen Stadtplan gesucht? Was hielte man von einem italienischen Buch über "Göthe's Deutschland", dessen Autor Goethes Orthographie mit "Cöln", "Cassel" oder "Mannheym" bis zu dessen eigenem Namen übernähme?
Quisquilien. Aber sie gehören zur philologischen Zuverlässigkeit. Die nehmen wir bei der zitierten Primär- und Sekundärliteratur blind für gegeben. Die Studie zeigt - vielleicht anders, als Buddensieg wollte, der sich vorsichtig zurückhält und Deutungen höchstens "vorschlägt" -, daß Nietzsche sehr wohl ein intensives Verhältnis zur Kunst hatte. Doch es war emotional, nicht rational nachvollziehbar, historisch erfaßbar oder auf Analyse begründet. Buddensieg beschreibt Nietzsches "fünf Stufen" der Wahrnehmung bei den "Reisenden" in Italien ("Menschliches, Allzumenschliches"). Während der armselige Jacob Burckhardt nur "sieht, was ist", rechnet sich Nietzsche zu denen, die den höchsten Grad der Wahrnehmung erreicht haben, "alles Gesehene, nachdem es erlebt und eingelebt worden ist, wieder aus sich herausleben müssen, in Handlungen und Werken . . ." So gesehen: Hätte Nietzsche ein authentisches Italien-Erlebnis auch in Schottland haben können? Wenn ja: Warum nicht?
Tilmann Buddensieg: "Nietzsches Italien". Städte, Gärten und Paläste. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2002. 272 S., 44 Abb., geb., 28,50 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
In einer Doppelbesprechung beschäftigt sich Ulrich Raulff mit Büchern über die Italienreisen von Goethe und Nietzsche, wobei er zugibt, dass die beiden Bände zwar eigentlich nicht vergleichbar sind, die Reisenden jedoch vergleichbare Erfahrungen gemacht haben. Als größtes Verdienst hält er Tilmann Buddensieg zugute, mit dem alte Vorurteil, Nietzsche sei auch in Italien vor allem als "Ohrenmensch" unterwegs gewesen, in seinem Buch gründlich aufgeräumt zu haben. Es ist der "akribischen Spurensicherung" des Autors zu verdanken, dass man nach der Lektüre genau wisse, welche Orte und Kunstwerke der Philosoph gesehen hat, so Raulff angetan. Zudem habe Buddensieg zeigen können, dass Nietzsche als "Vordenker der Moderne" gelten kann. Der Rezensent lobt dieses Buch als "klassischen Essay", dessen Sprunghaftigkeit und Umtriebigkeit er schätzt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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