"Im Zeitalter großer Organisationen ist Zeit knapp geworden. Zeitdruck ist eine verbreitete Erscheinung. Der Blick auf die Uhr und der Griff zum Terminkalender in der Tasche sind Routinebewegungen geworden. Die Verabredungsschwierigkeiten treiben die Telefonkosten in die Höhe. Schlichte rote Mappen (mit längst nicht mehr eiligem Inhalt), Eilt-Mappen, Eilt-sehr-Mappen bevölkern den Schreibtisch und seine Umgebung. Einige drängen sich durch ihre Lage mitten auf dem Schreibtisch und durch einen besonderen Zettel 'Terminsache!' vor im Wettbewerb um Aufmerksamkeit. Die Orientierung an Fristen und fristbedingten Vordringlichkeiten bestimmt den Rhythmus der Arbeit und die Wahl ihrer Thematik." Mit diesen Worten beginnt der fulminante Aufsatz von Luhmann, der 1971 erschien und zu einem der eindrücklichsten Texte über das Phänomen Zeit zu zählen ist. Wie man durch einen allein an Fristen gebundenen Leistungsbegriff sein Denken ruinieren kann, findet sich hier präzise dargelegt, wie es auch der FAZ-Journalist Christian Geyer vor zwei Jahren unter der Überschrift "Ist Hecheln unsere Leitgeschwindigkeit?" beschrieben hat. In diesem Sinne spinnt dieser den Luhmann'schen Faden weiter, indem er feststellt, dass alles Dringliche für wichtig gehalten wird, weil das Wichtige selbst aus dem Blick gerät und die Last des vorher zu Erledigenden es gleichsam erdrückt. Übrig bleibt das unbestimmte Gefühl, dass man zu 'nichts' mehr kommt - weder im Handeln noch im Denken. Und damit wird der analytische Kern aller Entschleunigungs-Debatten präzise ausgedrückt: die Bedrohung des Nachdenkenkönnens.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.10.2013CHRISTIAN GEYER, Redakteur im Feuilleton dieser Zeitung, hat den Aufsatz von Niklas Luhmann "Die Knappheit der Zeit und die Vordringlichkeit des Befristeten" neu herausgegeben. Darin geht es um die Frage, wie Zeitdruck das Leben verändert. "Zeit an sich ist nicht knapp", schreibt Luhmann. "Der Eindruck der Zeitknappheit entsteht erst aus der Überforderung des Erlebens durch Erwartungen." Solche Erwartungen sind, so Luhmann, in hohem Maße zufallsbedingt. Hier knüpft Geyer in seinem Beitrag über "Das entgrenzte Leben" an und fragt: Um welche biographischen Herausforderungen und psychopathologischen Gefährdungen geht es, wenn alles immer auch anders möglich ist? Wie lässt sich im Blick auf die virtuelle Unendlichkeit potentieller Gegenwarten so etwas wie Stand und Haltung gewinnen? (Niklas Luhmann: "Die Knappheit der Zeit und die Vordringlichkeit des Befristeten". Hrsg. und mit einem Essay von Christian Geyer. Kulturverlag Kadmos, Berlin 2013. 160 S., br., 14,90 [Euro].)
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