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Aus Anlass des 600. Geburtstags des Nikolaus von Kues (1401-1464) erscheint Kurt Flaschs große Cusanus-Monographie, für die der Autor mit dem Kuno Fischer-Preis der Universität Heidelberg für die herausragendste philosophiegeschichtliche Monographie des vergangenen Jahrzehnts ausgezeichnet wurde, in einer preiswerten Sonderausgabe.
Nikolaus von Kues (1401-1464) hat sein Denken als allmähliche Entwicklung beschrieben, die ihn zu der Einsicht gebracht habe, die Wahrheit liege nicht im Verborgenen, sondern schreie auf den Straßen. Deutlich hat er die Stufen seiner intellektuellen Entwicklung
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Produktbeschreibung
Aus Anlass des 600. Geburtstags des Nikolaus von Kues (1401-1464) erscheint Kurt Flaschs große Cusanus-Monographie, für die der Autor mit dem Kuno Fischer-Preis der Universität Heidelberg für die herausragendste philosophiegeschichtliche Monographie des vergangenen Jahrzehnts ausgezeichnet wurde, in einer preiswerten Sonderausgabe.

Nikolaus von Kues (1401-1464) hat sein Denken als allmähliche Entwicklung beschrieben, die ihn zu der Einsicht gebracht habe, die Wahrheit liege nicht im Verborgenen, sondern schreie auf den Straßen. Deutlich hat er die Stufen seiner intellektuellen Entwicklung markiert. Die meisten Darstellungen der Philosophie des Cusanus haben von seinen Hinweisen nicht profitiert, weil sie überwiegend 'De docta ignorantia' (abgeschlossen 1440) oder einzelne ausgewählte Texte interpretieren.

Was man 'die Philosophie des Nikolaus von Kues' zu nennen sich gewöhnt hat, ist ein Denkweg mit Sackgassen und mehreren neuen Ansätzen. Ihre vereinheitlichende Präsentation beruht auf einer Reihe fragwürdiger Vorannahmen. Dieses zweite große Cusanus-Buch von Kurt Flasch macht hingegen den Versuch, von 1430 bis 1464 Schrift für Schrift mitdenkend zu charakterisieren, und schafft dabei ein bewegtes Gesamtbild des Cusanischen Denkens. Es stellt dessen Argumentationen in chronologischer Folge dar und vergleicht sie - mit dem Ziel einer genetischen Analyse. Flaschs Buch bleibt an den einzelnen Texten und ihrer philosophischen Substanz orientiert, untersucht aber zugleich die Zusammenhänge von intellektueller Arbeit und geschichtlicher Umwelt: Politik, Kirche, Kultur. So entsteht in der Verbindung von Textarbeit, philosophischer Erörterung und historischer Umsicht ein differenziertes Panorama rheinisch-italienischer Wechselwirkung im 15. Jahrhundert und zeichnet das Denken des Cusaners als Gegenüber und Element einer geschichtlichen Welt.

Rezension:
- 'Der lebendigste, philosophisch stärkste, gedanklich kontrastreichste [Cusanus], den es je zu lesen gab.'
Frankfurter Allgemeine Zeitung

- 'Im Gegensatz zu seinen Vorgängern erzählt Flasch anhand der Philosophie des Nikolaus von Kues nicht die ewiggleiche Geschichte vom großen Schritt eines Mannes, dem ein kleiner Schritt der Menschheit entspricht. Sein Nikolaus von Kues belegt [...], wie man Fremdem, sei es nun zeitlich oder räumlich, jenseits der Alternative von Aneignung und Zurückweisung mit Respekt begegnen kann.'
Neue Zürcher Zeitung

- 'Flaschs Buch stellt eine großartige Denkleistung dar und bietet Seite um Seite Reflexion auf hohem Niveau.'
Deutsche Tagespost
Autorenporträt
Kurt Flasch ist Professor emeritus der Ruhr-Universität Bochum, ferner Mitglied der Römischen Akademie der Wissenschaften (Accademia Nazionale dei Lincei) sowie der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Im vergangenen Jahr wurde Kurt Flasch für sein Werk mit dem Sigmund Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ausgezeichnet.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.11.1998

Das Absolute verzehrt sich nach dem Zuschauer
Auch Gottes Interpret dachte an sein Publikum: Kurt Flasch fegt den Denkweg des Nikolaus von Kues / Von Martina Bretz

Die Restaurierung der Fresken Michelangelos an Decke und Stirnwand der Sixtinischen Kapelle erlebten viele Betrachter als Farbschock. Gereinigt von Kerzenschmauch und Schmutzschleiern, präsentieren sich Menschheitsgeschichte und Jüngstes Gericht grellbunt und gegenwärtig. Das vertraut Entrückte war plötzlich befremdlich nah. Den Leser der Cusanus-Monographie von Kurt Flasch erwartet ein ähnlich freudiger Schreck. Schicht für Schicht von verunklarenden Übersetzungen, falschen Erwartungen und verfälschenden Deutungen hat Flasch abgetragen. Scheinbar sorglos wischt er manche konkurrierende Interpretation beiseite, die er doch sorgsam studiert hat; sorgfältig legt er das Denken des Nikolaus von Kues frei. Fachleute werden behaupten, dies könne unmöglich der originale Cusanus sein. Aber es ist der lebendigste, philosophisch stärkste, gedanklich kontrastreichste, den es je zu lesen gab. Aktualisierungen restaurieren Vergangenes zu Tode, statt es gewesen sein zu lassen, schreibt Flasch. Indem er Nikolaus von Kues als ganz seiner Zeit zugehörig zeigt, gibt er ein für die Gegenwart gültiges Bild seines Denkens.

Ein Interpret, der sein Vorgehen "historisch-skrupulös" nennt, verdient genau gelesen zu werden. Im Titel zuoberst steht nicht ein Thema, sondern der Name eines Individuums; der Untertitel gibt die Methode an: Es geht nicht darum, die Einheit eines Systems zu erweisen, sondern die Entwicklung eines Denkens zu beschreiben. Schritt für Schritt geht Flasch den Wegen und Umwegen dieses Denkens nach, von der ersten zur Veröffentlichung bestimmten Schrift - einer Weihnachtspredigt aus dem Jahr 1430 - bis zu den "letzten Worten der letzten Schrift" von 1464.

Flasch weigert sich, einen "Grundgedanken" bei Cusanus auszumachen. Dennoch gibt die Koinzidenztheorie eine Leitlinie der Interpretation ab. Am Gedanken der coincidentia oppositorum läßt sich die "Beweglichkeit" der cusanischen Philosophie besonders deutlich aufzeigen. Von einer "theologischen These" wandelt sich die Koinzidenz zu einer "Theorie der vernünftigen Betrachtung der Welt", von einem "Privileg" Gottes wird sie zu einer "Eigenart des Denkens". Diese Verschiebung wird mit der Analyse des Verhältnisses von ratio und intellectus vorbereitet und durch die Philosophie der mens vorangetrieben. Was zunächst die Grenze menschlicher Erkenntnismöglichkeiten markierte, wird selbst zum "Medium der Erkenntnis", erhebt den "Anspruch eines universalen Forschungsverfahrens". Von 1458 an kommen Koinzidenzen im Plural vor. Für die Spätschriften kann Flasch behaupten: "Die Koinzidenzlehre begreifen wir erst, wenn wir sie als Weltschlüssel nehmen, nicht als Eigenschaft eines aparten Gottes."

Entwicklungsgeschichte muß jede Stufe als "kostbare Eigenheit" verstehen. In jeder Schrift wird das prekäre Verhältnis von Distanzbewußtsein und Erkenntnisoptimismus neu ausbalanciert. Mit "jubelnder Erkenntniszuversicht" tritt erst 1450 der Laie der "Idiota"-Dialoge auf, von einem "Lamento" über die Schwäche menschlicher Erkenntnis kann aber schon in "De docta ignorantia" keine Rede sein. Neben das Motiv der Ignoranz tritt das der Perfektibilität: Zwar bewegt sich menschliches Erkennen im Bereich bloßer Mutmaßungen, doch sind diese unendlicher Verbesserung fähig. Das Mißverhältnis zwischen der unendlichen Einheit und dem endlichen Erkennen wie zwischen den Dingen und ihrer begrifflichen Bestimmung bietet gerade den Anreiz zu weiterer Präzisierung.

Mehrmals geht im Verlauf der von Flasch beschriebenen Entwicklung ein "Vorrecht" Gottes auf den menschlichen Geist über: Dieser wird als complicatio, als "einfaltende" Einheit, verstanden, welche die begriffliche Welt so aus sich entfaltet wie die göttliche Einheit die "wirkliche" Welt; und er erfährt sich als Selbstbewegung, die in ihrem Selbstbezug ein Bild des Innenlebens der Dreifaltigkeit ist. Gottesbegriff und Selbstkonzeption des menschlichen Geistes entwickeln sich aneinander. Der "Metaphysik des Einen bei Nikolaus von Kues" war Flasch 1973 in seiner Habilitationsschrift nachgegangen, jetzt findet er eine "Metaphysik der Individualität", ja der "Egozentrik". Der unsichtbare Gott will gesehen werden. Das "Absolute sucht nichts so sehr wie Zuschauer".

Flasch skizziert die Denkentwicklung des Nikolaus von Kues als einen Weg, der von der "Unbegreiflichkeit" Gottes zu seiner "Allfaßbarkeit", metaphorisch gesprochen "vom Dunkel ins Licht" führt. Auch hier kann er sich auf die Selbsteinschätzung des Autors berufen, der im Jahr seines Todes schreibt, früher habe er die Wahrheit "eher im Dunkeln" gesucht, jetzt scheine sie ihm leicht und licht und schreie auf allen Gassen. Keine Philosophie verkündet ewige Wahrheiten, keine fällt "aus dem Himmel der Zeitlosigkeit". Sie hat ihren Ort auf Erden und ihren Platz in der Geschichte. Flasch möchte das Denken in raum-zeitliche Koordinaten eintragen. Den Weg vom Dunkel ins Licht deutet er als eine geographische Richtungsangabe und überführt Cusanus aus dem deutschen Spätmittelalter ins italienische Quattrocento.

Mit Absicht zeigt er den Philosophen im Kreise befreundeter Humanisten: "Cusanus war ein eigenwilliger Denker, der sich seiner Eigenart bewußt war, aber er war nicht isoliert." Der "Ort der Wahrheit" verlagert sich aus der "nordisch-faustisch-spätmittelalterlichen Studier- und Grübelstube" auf die "südliche piazza". Flasch gesteht ein, daß er damit nicht nur dem Weg der cusanischen Biographie folgt, sondern einem "individuellen Interesse" nachgibt. Er verfolgt aber auch ein philosophisches Ziel. Die Pointe seiner Interpretation besteht darin, daß Cusanus das "Scheitern" der Gotteserkenntnis zunächst zwar "theologisiert", dann aber beginnt, es zu analysieren. Docta ignorantia übersetzt Flasch nicht, wie weithin üblich, mit "belehrter Unwissenheit", sondern mit "Wissen des Nichtwissens", die Vorstellung abwehrend, hier komme dem Denken eine Belehrung von außen zu. Die Einsicht in die Grenzen des Wissens bietet eine Erweiterung der Selbsterkenntnis. Von dieser Einsicht aus entwickelt sich die Dynamik einer Philosophie, die die Wahrheit, die ihr einst "unzugänglich" schien, als "dem Denken unvermeidbar" erkennt.

Neben der Warnung vor theologischer Vereinnahmung des cusanischen Denkens liegt das Verdienst des Buches in der Abwehr der interpretatio moderna. Nikolaus von Kues gibt philosophisch mehr her als einen "etwas lockeren Abriß der katholischen Dogmatik", aber eine Lösung des Erkenntnisproblems, wie es sich für die neuzeitliche Philosophie stellt, ist von ihm nicht zu erwarten; er ist weder ein Vorläufer der Transzendentalphilosophie noch ein Wegbereiter des Ökumenismus. Man kennt Flasch als bekennenden Historisten: "Es gibt überhaupt nichts auf der Welt, das so tiefsinnig oder so schön wäre, daß es nicht zuerst datiert und lokalisiert werden müßte." So versieht er jedes Theoriestück, jeden Traditionsbezug mit einem historischen Index; bei jeder Schrift gibt er an, wann, wo und für wen sie geschrieben wurde.

Die meisten cusanischen Texte sind Gelegenheitsschriften im vollen Wortsinn, ihre Inhalte sind "nach Gelegenheiten stilisiert und modifiziert". Ihre je nach Anlaß gedrängte oder ausschweifende Form ist weniger Produkt des Zeitmangels eines vielbeschäftigten Kirchenfürsten denn ein bewußter Akt der Gestaltung. Sie folgt nicht äußerem Zwang, sondern innerer Logik des Denkens. Literarischen Neuerungen kommt philosophische Bedeutung zu. Zur genetischen Analyse, wie Flasch sie versteht, gehört die Aufmerksamkeit für literarische Inszenierungen und für die friedliche Koexistenz verschiedener Denkmotive.

Seine Interpretation des Dialogs "De pace fidei", den Cusanus im Sommer 1453 unter dem Eindruck der Nachricht vom Fall Konstantinopels schrieb, kommt genau in der Mitte des Buches zu stehen. Sie ist eine stilistische Glanzleistung und, ebenso wie der Text, von dem sie handelt, ein "strategisches Meisterwerk". Flasch betrachtet den Dialog im Zusammenhang mit der knapp zwei Monate später entstandenen Schrift "De visione dei". Die Schriften sind für verschiedene Adressatenkreise verfaßt, die erste für die "interreligiöse Weltöffentlichkeit", die zweite für die "geliebten Brüder", die Mönche des Klosters Tegernsee. Beiden Schriften waren unterschiedliche Rezeptionsschicksale beschieden, die erste wurde beliebt bei "Toleranzfreunden", die zweite von "dilettierenden germanistischen Mystikfreunden" paraphrasiert. Flasch kann ausgehend von der zeitlichen Kontiguität der Texte ihre gedankliche Komplementarität nachweisen.

Im Religionsdialog tragen weise Männer verschiedener Glaubensrichtungen, zunächst durch einen Engel vertreten, dann durch das "Wort" selbst ermuntert, schließlich durch Petrus und Paulus belehrt, ihre weltlichen Nöte und geistlichen Sorgen vor Gott. Die Koinzidenzlehre, die Cusanus für den intimen Kreis der Mönche in all ihrer Subtilität entfalten wird, kommt hier, wo es um die Einheit des Glaubens geht, nicht vor. Die Verhandlung findet auf der Ebene der ratio statt. Um Idolatrien zu widerlegen und Religionsfrieden zu stiften, "genügt" der Verstand, daher ist bei diesem himmlischen Konzil von Koinzidenz "nicht die Rede". Flasch spielt das philosophische Rollenspiel mit, er geht auf die Fiktion eines Glaubensgesprächs im Himmel ein - und gleich wieder auf Distanz: "Nun könnte ich es nimmer wagen, die Kompetenz des göttlichen Verbums anzuzweifeln, . . . aber wundern muß ich mich schon."

So locker kann seinen Stil nur werden lassen, wer seine Sache fest im Griff und zugleich ein feines Gespür für den Humor und Hintersinn der cusanischen Texte hat. Das prononcierte "Differenzbewußtsein" Flaschs resultiert aus intimer Vertrautheit. Bei allem Spott über die "Identifikationsbeflissenen" unter den Philosophiehistorikern kann er seine Affinität zum Gegenstand nicht verleugnen. Er teilt die Verachtung des cusanischen Laien für "Bildungsplunder" und "Schulkram", für "wabernden Mystizismus" und "denkfeindliche fromme Raserei". Wie eine cusanische Selbstcharakteristik klingt es, wenn er sein Vorhaben als den Versuch umschreibt, "klar und anschaulich an die Grenze der Klarheit und des Anschaulichen zu führen". Und was er von "De ludo globi" sagt, kann auch für sein eigenes Buch gelten: Es ist "zugleich didaktisch und innovativ".

Denn Flasch gelingt es mit seinem auf Selbstinterpretationen des Autors gestützten genetischen Verfahren, sowohl ein stimmiges Gesamtbild als auch feinfacettierte Einzelanalysen der cusanischen Philosophie zu geben. Viele ihrer vermeintlichen terminologischen Verwirrungen kann er klären: als Akte schriftstellerischer Regie, als Akzentverschiebungen für neue Adressaten und neue Beweisziele. Flasch führt vor, wie Cusanus Aspekte ausblendet, auf die er später wieder zurückkommt, wie er Gedanken zurückstellt, ohne sie zurückzunehmen; wie er andererseits Früheres aufgreift, ohne sich nur zu wiederholen. Der Maxime des Autors, daß man nicht allen alles Wahre sagen kann, korrespondiert die Einsicht des Interpreten, daß, wenn ein Autor zweimal dasselbe sagt, er nicht dasselbe sagt.

In "De pace fidei" werden, so Flasch, die Christen aufgefordert, ihr "Denken elastisch zu machen". Biegsam ist die cusanische Philosophie selbst. Das Substrat dieses Denkens ist nicht hart, aber spröde, kein starres Begriffsgefüge, sondern anpassungsfähig im positiven Sinne, belastbar, weil dehnbar. Daher überdehnt Kurt Flasch seine Interpretation nicht, wenn er ein ethisches Motiv seines eigenen Historismus bei Cusanus als Forderung vorfindet: Respekt vor der Kontingenz.

Flasch zeigt Nikolaus von Kues als einen "neuerungssüchtigen" Denker, der es auch wenige Monate vor seinem Tod noch "nicht lassen kann, originell zu sein". Die Interpretation der Spätschriften gehört zu den überzeugendsten Leistungen des Buches. Oft ist diese rasche Folge von Traktaten und Dialogen als Ausdruck von Resignation gedeutet worden, als habe Cusanus hier verzweifelt um den bestmöglichen Gottesbegriff gerungen. Flasch dagegen registriert feinste Nuancen und minimale Abweichungen und kann doch zugleich noch die letzten Neuerungen als Konsequenz aus den ersten Einsichten aufweisen. Wo er diese Konsequenz vermißt, bleibt er ohne Furcht vor der Aporie; zum Tadel theoretischer Schwächen ist er nicht bereit. Gerade die kaum noch koordinierbare Ideenfülle mancher Spätschriften nötigt ihm Achtung ab: "Ich finde dies das Bewundernswürdige an der Schrift De non aliud: Sie läßt die Probleme liegen."

Besonders achtet Flasch auf den veränderten Ton, den beschleunigten Rhythmus des Denkens. Die Zeit drängt, aber weder Kraft noch Dichte lassen nach. Hier geht nicht dem Philosophen die Luft aus, allenfalls kann das Tempo manchem Interpreten den Atem rauben. Cusanus entwickelt Ansätze zu einer "Philosophie des Lebendigen" und gibt der "Allmitteilsamkeit" des verborgenen Gottes eine letzte entscheidende Wendung: "Gott wird nicht bestimmt, ohne daß die Bestimmung sich nicht als das Unendliche selbst erwiese, das sich bestimmt, indem wir es bestimmen." In "De venatione sapientiae" allerdings glaubt Flasch einen neuen und unerhörten Ton zu vernehmen, einen in Todesfurcht "vibrierenden" Nikolaus von Kues. Aber - ruft er sich und den Leser zurück - wir befinden uns nicht im Kopenhagen Kierkegaards, sondern im Rom Enea Silvio Piccolominis.

Wer die Selbsteinschätzung eines Autors ernst nimmt, muß hellhörig werden, wenn dieser einen Gottesbegriff gefunden zu haben glaubt, der am besten zum Ausdruck bringen soll, was er von Anfang an hatte zeigen wollen. Das "Nichtandere" als dasjenige, das sich und alles andere definiert, weil es in jeder begrifflichen Bestimmung enthalten sein muß, hielt Cusanus für den präzisesten Namen des Begriffs, den sich das Denken von Gott machen kann. In ihm ist die Selbstdefinition - "Das Nichtandere ist nichts anderes als das Nichtandere" - trinitarische Selbstexplikation. Für Flasch ist dies der "Gipfel", die äußerste Zuspitzung der cusanischen Philosophie und die äußerste Zumutung für seine Interpreten. Hier scheint das Kernstück der christlichen Dogmatik in ein Wortspiel gefaßt. Diese cusanische Trinitätsphilosophie erklärt Flasch zu Recht zum "Prüfstein" der Interpretation. Denn ihr Anspruch geht über die nachträgliche Plausibilisierung eines Offenbarungswissens hinaus. Trinität ist kein mysterium fidei; sie ist nicht nur glaubwürdig, sondern denknotwendig. Sie ist schlichtweg die intelligentere Art, Gott zu sein: "Gott muß dreieinig sein, wenn er das intelligente Prinzip der Welt ist, wenn er sich weiß und wenn er die Liebe ist."

Keine Philosophie fällt aus dem Himmel der Zeitlosigkeit. Nikolaus von Kues aber scheint die stille Hoffnung gehegt zu haben, daß sie dorthin zurückführen könne. Die Theologie hat verschieden erklärt, wie Rechtfertigung zu erlangen sei: durch die Gnade Gottes, durch die Werke des Menschen, durch sein reines Herz. "Cusanus glaubte, auf die völlige Enthüllung Gottes hoffen zu können, weil er die Bestimmung des Nichtanderen gefunden habe. Halten wir dies als kulturelle Besonderheit fest." Ob ihm seine Denkanstrengung das ewige Heil eingebracht hat, wissen wir nicht. Halten wir sie in all ihrer Beweglichkeit fest: als zeitlichen Segen für die Philosophie.

Kurt Flasch: "Nikolaus von Kues". Geschichte einer Entwicklung. Vorlesungen zur Einführung in seine Philosophie. Vittorio Klostermann Verlag, Frankfurt am Main 1998. 680 S., geb. 118,-, kt., 98,- DM.

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"[Flaschs Cusanus] ist der lebendigste, philosophisch stärkste, gedanklich kontrastreichste, den es je zu lesen gab. Indem er Nikolaus von Kues als ganz seiner Zeit zugehörig zeigt, gibt er ein für die Gegenwart gültiges Bild seines Denkens." Frankfurter Allgemeine Zeitung