Spring 1989. Three young people leave their far-flung birthplaces to follow their own songs of migration. Each ends up in Montreal, each on a voyage of self-discovery, dealing with the mishaps of heartbreak and the twisted branches of their shared family tree.
Filled with humor, charm, and good storytelling, this novel shows the surprising links between cartography, garbage-obsessed archeologists, pirates past and present, a mysterious book with no cover, and a broken compass whose needle obstinately points to the Aleutian village of Nikolski (a minuscule village inhabited by thirty-six people, five thousand sheep, and an indeterminate number of dogs).
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Filled with humor, charm, and good storytelling, this novel shows the surprising links between cartography, garbage-obsessed archeologists, pirates past and present, a mysterious book with no cover, and a broken compass whose needle obstinately points to the Aleutian village of Nikolski (a minuscule village inhabited by thirty-six people, five thousand sheep, and an indeterminate number of dogs).
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.02.2009Bei den Seeschlangen im fünften Stock
Das Romandebüt des Kanadiers Nicolas Dickner ist ein postmodernes Piratenmärchen: "Nikolski" reitet auf der Welle der literarischen Renaissance Québecs.
Von Sandra Kegel
Joyce war die letzte Doucet im Dorf. Als würdige Nachfahrin ihrer Ahnen, die einst als Piraten die Weltmeere kreuzten, hatte das Mädchen ein einzelgängerisches Wesen entwickelt, das ihr eine beunruhigende Reife verlieh. Als Ururenkelin des gefürchteten Herménégilde Ducette verlangte Joyce von ihrem Großvater jeden Abend aufs Neue Piratengeschichten zu hören. Und als sie älter wurde, schien es ihr bald unangebracht, ihre Zeit mit dem Ausnehmen von Dorschen und Mathehausaufgaben zu verbringen, schließlich, da war Joyce sich sicher, war sie dazu bestimmt, Piratin zu werden. Bloß wie? In ihrem straßenlosen Dorf in der Provinz von Québec schienen die Chancen dazu schlecht, zumal ihre polternden Onkels und Cousins stets behaupteten, Seeräuberei sei Männersache. So verließ Joyce eines Tages ihr Dorf und mit ihm die geliebten Seekarten des Vaters, um sich stattdessen in die nicht kartographierte Welt vorzuwagen.
Die junge Ausreißerin, die zunächst in einem Fischgeschäft von Montreal strandet, ist eine der drei Hauptfiguren in dem außergewöhnlichen Romandebüt des Kanadiers Nicolas Dickner. Seine drei Protagonisten - Joyce, Noah und der namenlose Ich-Erzähler -, aus deren Leben er die ereignisreiche Dekade zwischen 1989 und 1999 erzählt, sind miteinander verwandt, ohne voneinander zu wissen. Alle drei landen irgendwann in "Petite Italie", einem belebten Stadtviertel von Montreal. Während der Erzähler die Stadt, wo er mittlerweile in einem Antiquariat, eingestaubt von alten Büchern, seine Tage verbringt, nie verlassen hat, ist Noah, der Dritte im Bund, wie Joyce ein Entwurzelter. Aufgewachsen im Wohnmobil einer rastlosen Mutter, die es nie länger als zwei Wochen an einem Ort aushielt, vagabundierte er, nicht anders als seine indianischen Vorfahren, mit dem eigenen Haus im Schlepptau kreuz und quer durch die kanadische Provinz. Noah, der nie eine Schule besucht hat, brachte sich das Lesen mittels Straßenkarten allein bei. Auch Freunde hatte er keine, weshalb er an seinem achtzehnten Geburtstag beschließt, auszureißen. Für ihn bedeutet das: sesshaft werden. Diesen für ihn unfassbaren Luxus findet er in einer kleinen Bude in Montreal, wo er sich ohne das Wissen seiner Mutter an der Universität eingeschrieben hat.
Dass auch der Erzähler, der sich immer wieder ins Geschehen einschaltet, trotz räumlicher Unbeweglichkeit nicht frei ist von Fernweh, beweist der Kompass, den er stets um den Hals trägt. Das kleine Navigationsgerät und einzige Erinnerungsstück an den verstorbenen Vater zeigt nämlich nicht zum Nordpol, sondern aus unerfindlichen Gründen in Richtung Nikolski, einem winzigen Kaff auf den Aleuten, wohin es den Vater kurz vor seinem Tod verschlagen hat und das dem Roman seinen Titel gibt. Die Welt dieser drei Protagonisten jenseits von Nikolski ist, so viel steht bald fest, ebenso aus dem Takt geraten wie der kleine Plastikkompass. Und auch wenn das Meer wie überhaupt alles Maritime im Roman die eigentliche Hauptrolle spielt, so betritt keiner der drei je ein Schiff. Gleichwohl ist die märchenhafte Erzählung eine postmoderne Piratengeschichte, vollgepackt mit Anspielungen nicht nur auf die See und die Fischkultur, sondern auch mit literarischen Reverenzen, etwa an Stevensons "Schatzinsel" oder Melvilles "Moby Dick": Wenn der Erzähler sagt, sein Name sei nicht von Bedeutung, spielt Dickner mit dessen berühmtem Romananfang "Nennt mich Ismael". Seine drei Charaktere aber suchen weder nach Walen noch nach Schätzen. Was sie umtreibt, nachdem sie den Hafen der Kindheit verlassen haben, ist die Sehnsucht nach einer Bestimmung, nach einem Lebenssinn, einem Zuhause.
Exzentrischer Geist und überschäumende Phantasie stecken in diesem Roman - was auch daran liegt, dass der Autor erklärtermaßen eine Schwäche für Enzyklopädien, mathematische Formeln und Landkarten hat. Manchmal freilich verliert man die Orientierung in dem komplizierten Konstrukt, worüber auch die luftige Drucksetzung des Textes nicht hinweghilft; seinen Charme aber verliert das Buch darüber nicht, das Nicolas Dickner übrigens nicht nur in Montreal, sondern auch im fränkisch-heimeligen Bamberg, wo er 2002 als "writer in residence" zu Gast war.
"Nikolski" enthält nicht nur eine Hommage an die Wissenschaft der Kartographie, sondern erzählt auch eine klassische Coming-of-age-Geschichte. Joyce, Noah und der Erzähler sind jeweils mit nur einem Elternteil groß geworden. Und noch in anderer Hinsicht ist jeder von ihnen, auf eigene Weise, isoliert aufgewachsen. Ihre Verbindung zur Welt fußt hauptsächlich auf ihren Studien von Land- oder Seekarten. Noah und Joyce sind beide Heimatlose. Während der eine nach einem rastlosen Wanderleben festen Grund unter den Füßen sucht, sehnt sich die andere nach Jahren des Eingesperrtseins in der Enge der Provinz nach Weite und Öffnung. Und tatsächlich gelingt es Joyce, ihren alten Traum vom Seeräuberleben in der Großstadt umzusetzen: Ihren Ozean findet die junge Piratin in den endlosen Weiten des Internets.
Diese Ähnlichkeit der drei Helden geht zweifellos zurück auf ihren gemeinsamen Verwandten, den rastlosen Jonas, der einst als Seefahrer über die Meere fuhr und später durch Kanada reiste, bis er in Nikolski ankam und dort starb. Nicht zufällig trägt dieser den Namen des biblischen Jona, der vom Wal geschluckt, an Land wieder ausgespien wurde. Die Hinterlassenschaft von Jonas, der kleine Kompass, wird jeder der drei irgendwann einmal in Händen halten, ohne jedoch die darin verborgene Wahrheit zu erfahren.
Nicolas Dickner, der 1972 in Rivière-du-loup in Québec geboren wurde, lebt heute in Montreal. Mit seinem Debüt "Nikolski", das 2005 in Kanada auf Französisch erschien, gelang ihm, beflügelt von der "Renaissance québecoise", dieser dann auch mit Preisen bedachte Erfolg. Seit einiger Zeit schon lässt das frankophone Kanada literarisch von sich hören, sowohl mit Verlagsneugründungen wie Les Allusifs, Héliotrope oder eben Alto, dem Haus, das "Nikolski" herausbrachte. Vor allem aber meldet sich eine neue Generation junger französischsprachiger Autoren zu Wort, neben Dickner etwa Catherine Mavrikakis, Sylvain Trudel oder Benoît Bouthillette. Nicolas Dickner selbst gelingt es am Ende seiner phantastischen Geschichte zwar nicht mehr, das große literarische Netz, das er ausgeworfen hat, vollständig wieder einzuholen. Einige Fangstücke gehen in der Flut der Erzählung verloren. Was darüber hinwegtröstet, ist der wunderbare Geruch des Meeres, der dem Leser allgegenwärtig bleibt.
Nicolas Dickner: "Nikolski". Roman. Aus dem Französischen von Andreas Jandl. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2009. 304 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Romandebüt des Kanadiers Nicolas Dickner ist ein postmodernes Piratenmärchen: "Nikolski" reitet auf der Welle der literarischen Renaissance Québecs.
Von Sandra Kegel
Joyce war die letzte Doucet im Dorf. Als würdige Nachfahrin ihrer Ahnen, die einst als Piraten die Weltmeere kreuzten, hatte das Mädchen ein einzelgängerisches Wesen entwickelt, das ihr eine beunruhigende Reife verlieh. Als Ururenkelin des gefürchteten Herménégilde Ducette verlangte Joyce von ihrem Großvater jeden Abend aufs Neue Piratengeschichten zu hören. Und als sie älter wurde, schien es ihr bald unangebracht, ihre Zeit mit dem Ausnehmen von Dorschen und Mathehausaufgaben zu verbringen, schließlich, da war Joyce sich sicher, war sie dazu bestimmt, Piratin zu werden. Bloß wie? In ihrem straßenlosen Dorf in der Provinz von Québec schienen die Chancen dazu schlecht, zumal ihre polternden Onkels und Cousins stets behaupteten, Seeräuberei sei Männersache. So verließ Joyce eines Tages ihr Dorf und mit ihm die geliebten Seekarten des Vaters, um sich stattdessen in die nicht kartographierte Welt vorzuwagen.
Die junge Ausreißerin, die zunächst in einem Fischgeschäft von Montreal strandet, ist eine der drei Hauptfiguren in dem außergewöhnlichen Romandebüt des Kanadiers Nicolas Dickner. Seine drei Protagonisten - Joyce, Noah und der namenlose Ich-Erzähler -, aus deren Leben er die ereignisreiche Dekade zwischen 1989 und 1999 erzählt, sind miteinander verwandt, ohne voneinander zu wissen. Alle drei landen irgendwann in "Petite Italie", einem belebten Stadtviertel von Montreal. Während der Erzähler die Stadt, wo er mittlerweile in einem Antiquariat, eingestaubt von alten Büchern, seine Tage verbringt, nie verlassen hat, ist Noah, der Dritte im Bund, wie Joyce ein Entwurzelter. Aufgewachsen im Wohnmobil einer rastlosen Mutter, die es nie länger als zwei Wochen an einem Ort aushielt, vagabundierte er, nicht anders als seine indianischen Vorfahren, mit dem eigenen Haus im Schlepptau kreuz und quer durch die kanadische Provinz. Noah, der nie eine Schule besucht hat, brachte sich das Lesen mittels Straßenkarten allein bei. Auch Freunde hatte er keine, weshalb er an seinem achtzehnten Geburtstag beschließt, auszureißen. Für ihn bedeutet das: sesshaft werden. Diesen für ihn unfassbaren Luxus findet er in einer kleinen Bude in Montreal, wo er sich ohne das Wissen seiner Mutter an der Universität eingeschrieben hat.
Dass auch der Erzähler, der sich immer wieder ins Geschehen einschaltet, trotz räumlicher Unbeweglichkeit nicht frei ist von Fernweh, beweist der Kompass, den er stets um den Hals trägt. Das kleine Navigationsgerät und einzige Erinnerungsstück an den verstorbenen Vater zeigt nämlich nicht zum Nordpol, sondern aus unerfindlichen Gründen in Richtung Nikolski, einem winzigen Kaff auf den Aleuten, wohin es den Vater kurz vor seinem Tod verschlagen hat und das dem Roman seinen Titel gibt. Die Welt dieser drei Protagonisten jenseits von Nikolski ist, so viel steht bald fest, ebenso aus dem Takt geraten wie der kleine Plastikkompass. Und auch wenn das Meer wie überhaupt alles Maritime im Roman die eigentliche Hauptrolle spielt, so betritt keiner der drei je ein Schiff. Gleichwohl ist die märchenhafte Erzählung eine postmoderne Piratengeschichte, vollgepackt mit Anspielungen nicht nur auf die See und die Fischkultur, sondern auch mit literarischen Reverenzen, etwa an Stevensons "Schatzinsel" oder Melvilles "Moby Dick": Wenn der Erzähler sagt, sein Name sei nicht von Bedeutung, spielt Dickner mit dessen berühmtem Romananfang "Nennt mich Ismael". Seine drei Charaktere aber suchen weder nach Walen noch nach Schätzen. Was sie umtreibt, nachdem sie den Hafen der Kindheit verlassen haben, ist die Sehnsucht nach einer Bestimmung, nach einem Lebenssinn, einem Zuhause.
Exzentrischer Geist und überschäumende Phantasie stecken in diesem Roman - was auch daran liegt, dass der Autor erklärtermaßen eine Schwäche für Enzyklopädien, mathematische Formeln und Landkarten hat. Manchmal freilich verliert man die Orientierung in dem komplizierten Konstrukt, worüber auch die luftige Drucksetzung des Textes nicht hinweghilft; seinen Charme aber verliert das Buch darüber nicht, das Nicolas Dickner übrigens nicht nur in Montreal, sondern auch im fränkisch-heimeligen Bamberg, wo er 2002 als "writer in residence" zu Gast war.
"Nikolski" enthält nicht nur eine Hommage an die Wissenschaft der Kartographie, sondern erzählt auch eine klassische Coming-of-age-Geschichte. Joyce, Noah und der Erzähler sind jeweils mit nur einem Elternteil groß geworden. Und noch in anderer Hinsicht ist jeder von ihnen, auf eigene Weise, isoliert aufgewachsen. Ihre Verbindung zur Welt fußt hauptsächlich auf ihren Studien von Land- oder Seekarten. Noah und Joyce sind beide Heimatlose. Während der eine nach einem rastlosen Wanderleben festen Grund unter den Füßen sucht, sehnt sich die andere nach Jahren des Eingesperrtseins in der Enge der Provinz nach Weite und Öffnung. Und tatsächlich gelingt es Joyce, ihren alten Traum vom Seeräuberleben in der Großstadt umzusetzen: Ihren Ozean findet die junge Piratin in den endlosen Weiten des Internets.
Diese Ähnlichkeit der drei Helden geht zweifellos zurück auf ihren gemeinsamen Verwandten, den rastlosen Jonas, der einst als Seefahrer über die Meere fuhr und später durch Kanada reiste, bis er in Nikolski ankam und dort starb. Nicht zufällig trägt dieser den Namen des biblischen Jona, der vom Wal geschluckt, an Land wieder ausgespien wurde. Die Hinterlassenschaft von Jonas, der kleine Kompass, wird jeder der drei irgendwann einmal in Händen halten, ohne jedoch die darin verborgene Wahrheit zu erfahren.
Nicolas Dickner, der 1972 in Rivière-du-loup in Québec geboren wurde, lebt heute in Montreal. Mit seinem Debüt "Nikolski", das 2005 in Kanada auf Französisch erschien, gelang ihm, beflügelt von der "Renaissance québecoise", dieser dann auch mit Preisen bedachte Erfolg. Seit einiger Zeit schon lässt das frankophone Kanada literarisch von sich hören, sowohl mit Verlagsneugründungen wie Les Allusifs, Héliotrope oder eben Alto, dem Haus, das "Nikolski" herausbrachte. Vor allem aber meldet sich eine neue Generation junger französischsprachiger Autoren zu Wort, neben Dickner etwa Catherine Mavrikakis, Sylvain Trudel oder Benoît Bouthillette. Nicolas Dickner selbst gelingt es am Ende seiner phantastischen Geschichte zwar nicht mehr, das große literarische Netz, das er ausgeworfen hat, vollständig wieder einzuholen. Einige Fangstücke gehen in der Flut der Erzählung verloren. Was darüber hinwegtröstet, ist der wunderbare Geruch des Meeres, der dem Leser allgegenwärtig bleibt.
Nicolas Dickner: "Nikolski". Roman. Aus dem Französischen von Andreas Jandl. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2009. 304 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.05.2009Noah braucht keinen Hafen
Drei Nomaden mit schiefem Kompass: Nicolas Dickners Roman „Nikolski” über Québec und seine Einwanderer
Wenn der St. Lorenz, einer der größten Flüsse der Welt, von den Großen Seen kommend die Stadt Montréal erreicht, weitet er sich und wird erstaunlich flach. Über Steine und Klippen muss das Wasser plötzlich fließen, als wäre der gewaltige Strom nur ein völlig aus der Fasson geratener Bach. An den Stromschnellen von Lachine endete bis ins frühe neunzehnte Jahrhundert, als hier ein Kanal gebaut wurde, die Schifffahrt. Die ersten europäischen Siedler, die an diesem Ort ein kleines Fort errichteten, hatten noch geglaubt, jenseits dieses Hindernisses an ein weitverzweigtes System von Seen und Flüssen zu gelangen, das ihnen irgendwo Zugang zum Pazifik und damit zum fernen Osten gewähren sollte.
Die Prärie und der Wohnwagen
Deswegen war von „China” die Rede gewesen. Längst weiß man es besser: Noch dreißig, vierzig Kilometer weiter, hinter Salaberry-le-Valleyfield, beginnt auf dem rechten Ufer die kanadische Provinz Ontario, und auf dem linken liegen die Vereinigten Staaten von Amerika. Diesseits aber, den St. Lorenz und seine Seitenflüsse hinauf bis zum Beginn der großen Mündung auf der anderen Seite der Insel Anticosti liegt Québec, die größte kanadische Provinz – und eine Welt, die anders ist als der Rest von Nordamerika, aus vielen Gründen, wovon die französische Sprache nur einer, wenngleich wohl der wichtigste ist.
Der Roman „Nikolski” ist das erste veröffentlichte Buch von Nicolas Dickner, einem jungen Mann aus dem Städtchen Rivière-du-Loup, das dort liegt, wo der St. Lorenz sich zum Meer hin öffnet und schon salzig ist. Zuerst im Jahr 2005 in Québec erschienen, erzählt der Roman die Geschichten dreier Menschen zu Beginn ihres Lebens als Erwachsene, und jeder dieser drei Lebensläufe ist innig verbunden mit dem Schicksal der französischsprachigen Minderheit in Nordamerika.
Da ist ein namenloser Erzähler, der in einer antiquarischen Buchhandlung am Boulevard Saint-Laurent arbeitet, der Hauptstraße des alten Montréal, die vom Fluss nach Norden und wohl durch ein Dutzend ethnischer Viertel verläuft und noch immer den frankophonen vom anglophonen Teil der Stadt trennt. Da ist Noah, der Sohn einer Indianerin aus Portage La Prairie in Manitoba, die auf einer Reise ohne Ende mit ihrem Wohnwagen durch die Prärieprovinzen Kanadas kurvt.
Er kommt nach Montréal, weil ihm der Zufall zu einem Studium der Archäologie geraten hatte. Noah und der Namenlose sind Halbbrüder, Söhne eines vorüberziehenden Seemanns von der Atlantikküste, einem Akadier, also dem Abkömmling einer der vielen französischen Familien, die von den Engländern nach dem Sieg im Siebenjährigen Krieg aus allen Gegenden Nordamerikas in abgelegene Winkel verschleppt wurden, weil sie bei der Kolonialisierung des Kontinents im Wege waren. Und da ist Joyce Doucet, ein Mädchen aus Tête-à-Baleine am Nordufer des St. Lorenz, das ihrer Familie von Fischern davonläuft und in Montréal zu einer modernen Piratin werden will. Sie ist eine Cousine der beiden Halbbrüder, doch treffen werden die drei sich nie.
Nomaden hingegen sind sie alle miteinander, und nomadisch gesonnen ist auch der Roman, der ihre Geschichten erzählt, so als bestünden sie aus einer Reihe von Haltestellen auf einer Reise, die keinen Anfang und kein Ziel hat. Jack Kerouac, auch er ein entlaufener Akadier, mag da als Ahne herumspuken, doch es gibt hier keinen Bebop, keinen Buddha und auch viel zu wenig Alkohol, um hinter diesem Dasein wenigstens einen stets fernen Sinn aufscheinen zu lassen – nein, aus der Prosa des Lebens gibt es in „Nikolski” kein Entrinnen.
Wie die Tage der drei jungen Québecer verlaufen, ist vielmehr an zwei höchst alltäglichen Dingen zu ermessen. Das eine ist ein billiger Kompass aus Kunststoff, die einzige Hinterlassenschaft des verschwundenen Vaters, den Noah um den Hals trägt. Doch anstatt geradewegs nach Norden zu zeigen, hat die Nadel einen Drall, so dass sie auf einen winzigen Ort auf den Aleuten verweist – auf Nikolski, den letzten bekannten Aufenthaltsort des Vaters. Das andere ist der Müll, den Nomaden auf ihren Wanderungen hinterlassen und von dem zumindest diese drei Wanderer auch zu leben scheinen. Der eine im Antiquariat, unter Tausenden von Büchern, die keiner mehr lesen will, der andere als angehender Archäologe indianischer Vergangenheiten wie der industrialisierten Gegenwart, die dritte als Marodeurin im Elektroschrott der großen Unternehmen, aus denen sie sich die Instrumente für ihre Raubzüge mit fremden Kreditkarten zusammenschraubt.
Der Müll und die Stadt
Das Allegorische am schiefen Kompass wie an der Unausweichlichkeit des Mülls ist nicht zu übersehen, und es wird nicht geringer dadurch, dass es hier überdies um ein geheimnisvolles altes Buch ohne Einband geht, das in Wahrheit aus drei willkürlich zusammengeleimten Büchern besteht und von einer Hand zur anderen gehen muss. Doch das Allegorische ist hier nur der Kleister, um von etwas ganz anderem erzählen zu können: zum einen von der Stadt selber, zum anderen von einer sonderbaren Haltlosigkeit, die mit dieser Stadt und dieser Provinz verbunden zu sein scheint wie der Flaggenstolz mit dem Bürger der Vereinigten Staaten .
Denn Québec ist nicht Amerika und nicht Frankreich, und doch ist es beides und immer das, was es gerade nicht sein soll, so dass man am Ende ganz verwirrt ist und sich nur noch auf das unmittelbar Naheliegende besinnt. Und dann ist da diese Stadt von zwei oder vier Millionen Einwohnern, je nachdem, ob man nur die Insel oder auch die Vororte zählt, diese Stadt, von der Nicolas Dickner mit einer Anschaulichkeit und Intensität berichtet, wie sie vor ihm wohl nur Mordecai Richler (und Leonard Cohen, dieser aber in einem anderen Genre) zusammenbrachte.
Denn wenn die drei Nomaden, aller Verwandtschaft zum Trotz, einander nicht begegnen, weil jeder seinem eigenen schiefen Kompass folgt, so leben sie doch mehrere Jahre lang im selben Viertel, in Petite Italie, in Sichtweite des Dante-Denkmals, in der Nachbarschaft des Marché Jean-Talon, des größten Bauernmarkts in Montréal. In diesem Einwandererviertel haben sich zu den früheren Generationen, eben den Italienern, längst die neuen gesellt, die Araber und die Menschen aus der Dominikanischen Republik, die Philippinos und die Lateinamerikaner.
Doch anders als die ethnischen Gruppen in den Vereinigten Staaten bleiben sie erkennbar, auch wenn sie sich ändern und langsam in eine andere Welt hinüberwachsen. Auch den Québecois scheint es ähnlich zu gehen, zumal denen, die nicht aus der großen Stadt kommen, sondern aus Rivière-du-Loup oder aus Tête-à-la-Baleine, Hunderte von Kilometern nördlich, und dahinter gibt es nur noch ein paar Robben, einige Schneefüchse und eine unendliche Tundra. Und wenn das so ist – vielleicht braucht man dann geheimnisvolle Bücher und irregeleitete Kompasse, poststrukturalistische Mülltheorien und abenteuerliche Seefahrer, weil man erst hineinrücken muss in eine kulturelle Tradition und weil das Klischee, die Übertreibung zur Einfachheit, diesem Zweck viel eher dient als die matte Ironie des erfahrenen Lesers. Etwas Kindliches ist an „Nikolski”, einem Einwanderungsbuch für Bewanderte, und das ist in diesem Fall ganz und gar nicht abwertend gemeint.
THOMAS STEINFELD
NICOLAS DICKNER: Nikolski. Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Andreas Jandl. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2009. 302 Seiten, 19,90 Euro.
Nicht jeder in Québec ist aus Québec: In der Rue Saint-Denis, Montréal Foto: Harry Gruyaert / Magnum Photos/Agentur Focus
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Drei Nomaden mit schiefem Kompass: Nicolas Dickners Roman „Nikolski” über Québec und seine Einwanderer
Wenn der St. Lorenz, einer der größten Flüsse der Welt, von den Großen Seen kommend die Stadt Montréal erreicht, weitet er sich und wird erstaunlich flach. Über Steine und Klippen muss das Wasser plötzlich fließen, als wäre der gewaltige Strom nur ein völlig aus der Fasson geratener Bach. An den Stromschnellen von Lachine endete bis ins frühe neunzehnte Jahrhundert, als hier ein Kanal gebaut wurde, die Schifffahrt. Die ersten europäischen Siedler, die an diesem Ort ein kleines Fort errichteten, hatten noch geglaubt, jenseits dieses Hindernisses an ein weitverzweigtes System von Seen und Flüssen zu gelangen, das ihnen irgendwo Zugang zum Pazifik und damit zum fernen Osten gewähren sollte.
Die Prärie und der Wohnwagen
Deswegen war von „China” die Rede gewesen. Längst weiß man es besser: Noch dreißig, vierzig Kilometer weiter, hinter Salaberry-le-Valleyfield, beginnt auf dem rechten Ufer die kanadische Provinz Ontario, und auf dem linken liegen die Vereinigten Staaten von Amerika. Diesseits aber, den St. Lorenz und seine Seitenflüsse hinauf bis zum Beginn der großen Mündung auf der anderen Seite der Insel Anticosti liegt Québec, die größte kanadische Provinz – und eine Welt, die anders ist als der Rest von Nordamerika, aus vielen Gründen, wovon die französische Sprache nur einer, wenngleich wohl der wichtigste ist.
Der Roman „Nikolski” ist das erste veröffentlichte Buch von Nicolas Dickner, einem jungen Mann aus dem Städtchen Rivière-du-Loup, das dort liegt, wo der St. Lorenz sich zum Meer hin öffnet und schon salzig ist. Zuerst im Jahr 2005 in Québec erschienen, erzählt der Roman die Geschichten dreier Menschen zu Beginn ihres Lebens als Erwachsene, und jeder dieser drei Lebensläufe ist innig verbunden mit dem Schicksal der französischsprachigen Minderheit in Nordamerika.
Da ist ein namenloser Erzähler, der in einer antiquarischen Buchhandlung am Boulevard Saint-Laurent arbeitet, der Hauptstraße des alten Montréal, die vom Fluss nach Norden und wohl durch ein Dutzend ethnischer Viertel verläuft und noch immer den frankophonen vom anglophonen Teil der Stadt trennt. Da ist Noah, der Sohn einer Indianerin aus Portage La Prairie in Manitoba, die auf einer Reise ohne Ende mit ihrem Wohnwagen durch die Prärieprovinzen Kanadas kurvt.
Er kommt nach Montréal, weil ihm der Zufall zu einem Studium der Archäologie geraten hatte. Noah und der Namenlose sind Halbbrüder, Söhne eines vorüberziehenden Seemanns von der Atlantikküste, einem Akadier, also dem Abkömmling einer der vielen französischen Familien, die von den Engländern nach dem Sieg im Siebenjährigen Krieg aus allen Gegenden Nordamerikas in abgelegene Winkel verschleppt wurden, weil sie bei der Kolonialisierung des Kontinents im Wege waren. Und da ist Joyce Doucet, ein Mädchen aus Tête-à-Baleine am Nordufer des St. Lorenz, das ihrer Familie von Fischern davonläuft und in Montréal zu einer modernen Piratin werden will. Sie ist eine Cousine der beiden Halbbrüder, doch treffen werden die drei sich nie.
Nomaden hingegen sind sie alle miteinander, und nomadisch gesonnen ist auch der Roman, der ihre Geschichten erzählt, so als bestünden sie aus einer Reihe von Haltestellen auf einer Reise, die keinen Anfang und kein Ziel hat. Jack Kerouac, auch er ein entlaufener Akadier, mag da als Ahne herumspuken, doch es gibt hier keinen Bebop, keinen Buddha und auch viel zu wenig Alkohol, um hinter diesem Dasein wenigstens einen stets fernen Sinn aufscheinen zu lassen – nein, aus der Prosa des Lebens gibt es in „Nikolski” kein Entrinnen.
Wie die Tage der drei jungen Québecer verlaufen, ist vielmehr an zwei höchst alltäglichen Dingen zu ermessen. Das eine ist ein billiger Kompass aus Kunststoff, die einzige Hinterlassenschaft des verschwundenen Vaters, den Noah um den Hals trägt. Doch anstatt geradewegs nach Norden zu zeigen, hat die Nadel einen Drall, so dass sie auf einen winzigen Ort auf den Aleuten verweist – auf Nikolski, den letzten bekannten Aufenthaltsort des Vaters. Das andere ist der Müll, den Nomaden auf ihren Wanderungen hinterlassen und von dem zumindest diese drei Wanderer auch zu leben scheinen. Der eine im Antiquariat, unter Tausenden von Büchern, die keiner mehr lesen will, der andere als angehender Archäologe indianischer Vergangenheiten wie der industrialisierten Gegenwart, die dritte als Marodeurin im Elektroschrott der großen Unternehmen, aus denen sie sich die Instrumente für ihre Raubzüge mit fremden Kreditkarten zusammenschraubt.
Der Müll und die Stadt
Das Allegorische am schiefen Kompass wie an der Unausweichlichkeit des Mülls ist nicht zu übersehen, und es wird nicht geringer dadurch, dass es hier überdies um ein geheimnisvolles altes Buch ohne Einband geht, das in Wahrheit aus drei willkürlich zusammengeleimten Büchern besteht und von einer Hand zur anderen gehen muss. Doch das Allegorische ist hier nur der Kleister, um von etwas ganz anderem erzählen zu können: zum einen von der Stadt selber, zum anderen von einer sonderbaren Haltlosigkeit, die mit dieser Stadt und dieser Provinz verbunden zu sein scheint wie der Flaggenstolz mit dem Bürger der Vereinigten Staaten .
Denn Québec ist nicht Amerika und nicht Frankreich, und doch ist es beides und immer das, was es gerade nicht sein soll, so dass man am Ende ganz verwirrt ist und sich nur noch auf das unmittelbar Naheliegende besinnt. Und dann ist da diese Stadt von zwei oder vier Millionen Einwohnern, je nachdem, ob man nur die Insel oder auch die Vororte zählt, diese Stadt, von der Nicolas Dickner mit einer Anschaulichkeit und Intensität berichtet, wie sie vor ihm wohl nur Mordecai Richler (und Leonard Cohen, dieser aber in einem anderen Genre) zusammenbrachte.
Denn wenn die drei Nomaden, aller Verwandtschaft zum Trotz, einander nicht begegnen, weil jeder seinem eigenen schiefen Kompass folgt, so leben sie doch mehrere Jahre lang im selben Viertel, in Petite Italie, in Sichtweite des Dante-Denkmals, in der Nachbarschaft des Marché Jean-Talon, des größten Bauernmarkts in Montréal. In diesem Einwandererviertel haben sich zu den früheren Generationen, eben den Italienern, längst die neuen gesellt, die Araber und die Menschen aus der Dominikanischen Republik, die Philippinos und die Lateinamerikaner.
Doch anders als die ethnischen Gruppen in den Vereinigten Staaten bleiben sie erkennbar, auch wenn sie sich ändern und langsam in eine andere Welt hinüberwachsen. Auch den Québecois scheint es ähnlich zu gehen, zumal denen, die nicht aus der großen Stadt kommen, sondern aus Rivière-du-Loup oder aus Tête-à-la-Baleine, Hunderte von Kilometern nördlich, und dahinter gibt es nur noch ein paar Robben, einige Schneefüchse und eine unendliche Tundra. Und wenn das so ist – vielleicht braucht man dann geheimnisvolle Bücher und irregeleitete Kompasse, poststrukturalistische Mülltheorien und abenteuerliche Seefahrer, weil man erst hineinrücken muss in eine kulturelle Tradition und weil das Klischee, die Übertreibung zur Einfachheit, diesem Zweck viel eher dient als die matte Ironie des erfahrenen Lesers. Etwas Kindliches ist an „Nikolski”, einem Einwanderungsbuch für Bewanderte, und das ist in diesem Fall ganz und gar nicht abwertend gemeint.
THOMAS STEINFELD
NICOLAS DICKNER: Nikolski. Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Andreas Jandl. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2009. 302 Seiten, 19,90 Euro.
Nicht jeder in Québec ist aus Québec: In der Rue Saint-Denis, Montréal Foto: Harry Gruyaert / Magnum Photos/Agentur Focus
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