In verschiedenen Winkeln Kanadas, tausende Kilometer voneinander entfernt, wachsen drei Jugendliche auf, die - ohne voneinander zu wissen - ein und derselben Familie angehören. Als ihre Lebensträume sie nach Montréal verschlagen, kreuzen sich ihre Wege, doch davon ahnen sie nichts. Was sie allerdings verbindet, ist ein Kompass, der nicht nach Norden weist, sondern stur auf den winzigen, hinter Alaska auf den Aleuten gelegenen Ort Nikolski, ein Dorf mit 36 Einwohnern und 5000 Schafen ...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.02.2009Bei den Seeschlangen im fünften Stock
Das Romandebüt des Kanadiers Nicolas Dickner ist ein postmodernes Piratenmärchen: "Nikolski" reitet auf der Welle der literarischen Renaissance Québecs.
Von Sandra Kegel
Joyce war die letzte Doucet im Dorf. Als würdige Nachfahrin ihrer Ahnen, die einst als Piraten die Weltmeere kreuzten, hatte das Mädchen ein einzelgängerisches Wesen entwickelt, das ihr eine beunruhigende Reife verlieh. Als Ururenkelin des gefürchteten Herménégilde Ducette verlangte Joyce von ihrem Großvater jeden Abend aufs Neue Piratengeschichten zu hören. Und als sie älter wurde, schien es ihr bald unangebracht, ihre Zeit mit dem Ausnehmen von Dorschen und Mathehausaufgaben zu verbringen, schließlich, da war Joyce sich sicher, war sie dazu bestimmt, Piratin zu werden. Bloß wie? In ihrem straßenlosen Dorf in der Provinz von Québec schienen die Chancen dazu schlecht, zumal ihre polternden Onkels und Cousins stets behaupteten, Seeräuberei sei Männersache. So verließ Joyce eines Tages ihr Dorf und mit ihm die geliebten Seekarten des Vaters, um sich stattdessen in die nicht kartographierte Welt vorzuwagen.
Die junge Ausreißerin, die zunächst in einem Fischgeschäft von Montreal strandet, ist eine der drei Hauptfiguren in dem außergewöhnlichen Romandebüt des Kanadiers Nicolas Dickner. Seine drei Protagonisten - Joyce, Noah und der namenlose Ich-Erzähler -, aus deren Leben er die ereignisreiche Dekade zwischen 1989 und 1999 erzählt, sind miteinander verwandt, ohne voneinander zu wissen. Alle drei landen irgendwann in "Petite Italie", einem belebten Stadtviertel von Montreal. Während der Erzähler die Stadt, wo er mittlerweile in einem Antiquariat, eingestaubt von alten Büchern, seine Tage verbringt, nie verlassen hat, ist Noah, der Dritte im Bund, wie Joyce ein Entwurzelter. Aufgewachsen im Wohnmobil einer rastlosen Mutter, die es nie länger als zwei Wochen an einem Ort aushielt, vagabundierte er, nicht anders als seine indianischen Vorfahren, mit dem eigenen Haus im Schlepptau kreuz und quer durch die kanadische Provinz. Noah, der nie eine Schule besucht hat, brachte sich das Lesen mittels Straßenkarten allein bei. Auch Freunde hatte er keine, weshalb er an seinem achtzehnten Geburtstag beschließt, auszureißen. Für ihn bedeutet das: sesshaft werden. Diesen für ihn unfassbaren Luxus findet er in einer kleinen Bude in Montreal, wo er sich ohne das Wissen seiner Mutter an der Universität eingeschrieben hat.
Dass auch der Erzähler, der sich immer wieder ins Geschehen einschaltet, trotz räumlicher Unbeweglichkeit nicht frei ist von Fernweh, beweist der Kompass, den er stets um den Hals trägt. Das kleine Navigationsgerät und einzige Erinnerungsstück an den verstorbenen Vater zeigt nämlich nicht zum Nordpol, sondern aus unerfindlichen Gründen in Richtung Nikolski, einem winzigen Kaff auf den Aleuten, wohin es den Vater kurz vor seinem Tod verschlagen hat und das dem Roman seinen Titel gibt. Die Welt dieser drei Protagonisten jenseits von Nikolski ist, so viel steht bald fest, ebenso aus dem Takt geraten wie der kleine Plastikkompass. Und auch wenn das Meer wie überhaupt alles Maritime im Roman die eigentliche Hauptrolle spielt, so betritt keiner der drei je ein Schiff. Gleichwohl ist die märchenhafte Erzählung eine postmoderne Piratengeschichte, vollgepackt mit Anspielungen nicht nur auf die See und die Fischkultur, sondern auch mit literarischen Reverenzen, etwa an Stevensons "Schatzinsel" oder Melvilles "Moby Dick": Wenn der Erzähler sagt, sein Name sei nicht von Bedeutung, spielt Dickner mit dessen berühmtem Romananfang "Nennt mich Ismael". Seine drei Charaktere aber suchen weder nach Walen noch nach Schätzen. Was sie umtreibt, nachdem sie den Hafen der Kindheit verlassen haben, ist die Sehnsucht nach einer Bestimmung, nach einem Lebenssinn, einem Zuhause.
Exzentrischer Geist und überschäumende Phantasie stecken in diesem Roman - was auch daran liegt, dass der Autor erklärtermaßen eine Schwäche für Enzyklopädien, mathematische Formeln und Landkarten hat. Manchmal freilich verliert man die Orientierung in dem komplizierten Konstrukt, worüber auch die luftige Drucksetzung des Textes nicht hinweghilft; seinen Charme aber verliert das Buch darüber nicht, das Nicolas Dickner übrigens nicht nur in Montreal, sondern auch im fränkisch-heimeligen Bamberg, wo er 2002 als "writer in residence" zu Gast war.
"Nikolski" enthält nicht nur eine Hommage an die Wissenschaft der Kartographie, sondern erzählt auch eine klassische Coming-of-age-Geschichte. Joyce, Noah und der Erzähler sind jeweils mit nur einem Elternteil groß geworden. Und noch in anderer Hinsicht ist jeder von ihnen, auf eigene Weise, isoliert aufgewachsen. Ihre Verbindung zur Welt fußt hauptsächlich auf ihren Studien von Land- oder Seekarten. Noah und Joyce sind beide Heimatlose. Während der eine nach einem rastlosen Wanderleben festen Grund unter den Füßen sucht, sehnt sich die andere nach Jahren des Eingesperrtseins in der Enge der Provinz nach Weite und Öffnung. Und tatsächlich gelingt es Joyce, ihren alten Traum vom Seeräuberleben in der Großstadt umzusetzen: Ihren Ozean findet die junge Piratin in den endlosen Weiten des Internets.
Diese Ähnlichkeit der drei Helden geht zweifellos zurück auf ihren gemeinsamen Verwandten, den rastlosen Jonas, der einst als Seefahrer über die Meere fuhr und später durch Kanada reiste, bis er in Nikolski ankam und dort starb. Nicht zufällig trägt dieser den Namen des biblischen Jona, der vom Wal geschluckt, an Land wieder ausgespien wurde. Die Hinterlassenschaft von Jonas, der kleine Kompass, wird jeder der drei irgendwann einmal in Händen halten, ohne jedoch die darin verborgene Wahrheit zu erfahren.
Nicolas Dickner, der 1972 in Rivière-du-loup in Québec geboren wurde, lebt heute in Montreal. Mit seinem Debüt "Nikolski", das 2005 in Kanada auf Französisch erschien, gelang ihm, beflügelt von der "Renaissance québecoise", dieser dann auch mit Preisen bedachte Erfolg. Seit einiger Zeit schon lässt das frankophone Kanada literarisch von sich hören, sowohl mit Verlagsneugründungen wie Les Allusifs, Héliotrope oder eben Alto, dem Haus, das "Nikolski" herausbrachte. Vor allem aber meldet sich eine neue Generation junger französischsprachiger Autoren zu Wort, neben Dickner etwa Catherine Mavrikakis, Sylvain Trudel oder Benoît Bouthillette. Nicolas Dickner selbst gelingt es am Ende seiner phantastischen Geschichte zwar nicht mehr, das große literarische Netz, das er ausgeworfen hat, vollständig wieder einzuholen. Einige Fangstücke gehen in der Flut der Erzählung verloren. Was darüber hinwegtröstet, ist der wunderbare Geruch des Meeres, der dem Leser allgegenwärtig bleibt.
Nicolas Dickner: "Nikolski". Roman. Aus dem Französischen von Andreas Jandl. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2009. 304 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Romandebüt des Kanadiers Nicolas Dickner ist ein postmodernes Piratenmärchen: "Nikolski" reitet auf der Welle der literarischen Renaissance Québecs.
Von Sandra Kegel
Joyce war die letzte Doucet im Dorf. Als würdige Nachfahrin ihrer Ahnen, die einst als Piraten die Weltmeere kreuzten, hatte das Mädchen ein einzelgängerisches Wesen entwickelt, das ihr eine beunruhigende Reife verlieh. Als Ururenkelin des gefürchteten Herménégilde Ducette verlangte Joyce von ihrem Großvater jeden Abend aufs Neue Piratengeschichten zu hören. Und als sie älter wurde, schien es ihr bald unangebracht, ihre Zeit mit dem Ausnehmen von Dorschen und Mathehausaufgaben zu verbringen, schließlich, da war Joyce sich sicher, war sie dazu bestimmt, Piratin zu werden. Bloß wie? In ihrem straßenlosen Dorf in der Provinz von Québec schienen die Chancen dazu schlecht, zumal ihre polternden Onkels und Cousins stets behaupteten, Seeräuberei sei Männersache. So verließ Joyce eines Tages ihr Dorf und mit ihm die geliebten Seekarten des Vaters, um sich stattdessen in die nicht kartographierte Welt vorzuwagen.
Die junge Ausreißerin, die zunächst in einem Fischgeschäft von Montreal strandet, ist eine der drei Hauptfiguren in dem außergewöhnlichen Romandebüt des Kanadiers Nicolas Dickner. Seine drei Protagonisten - Joyce, Noah und der namenlose Ich-Erzähler -, aus deren Leben er die ereignisreiche Dekade zwischen 1989 und 1999 erzählt, sind miteinander verwandt, ohne voneinander zu wissen. Alle drei landen irgendwann in "Petite Italie", einem belebten Stadtviertel von Montreal. Während der Erzähler die Stadt, wo er mittlerweile in einem Antiquariat, eingestaubt von alten Büchern, seine Tage verbringt, nie verlassen hat, ist Noah, der Dritte im Bund, wie Joyce ein Entwurzelter. Aufgewachsen im Wohnmobil einer rastlosen Mutter, die es nie länger als zwei Wochen an einem Ort aushielt, vagabundierte er, nicht anders als seine indianischen Vorfahren, mit dem eigenen Haus im Schlepptau kreuz und quer durch die kanadische Provinz. Noah, der nie eine Schule besucht hat, brachte sich das Lesen mittels Straßenkarten allein bei. Auch Freunde hatte er keine, weshalb er an seinem achtzehnten Geburtstag beschließt, auszureißen. Für ihn bedeutet das: sesshaft werden. Diesen für ihn unfassbaren Luxus findet er in einer kleinen Bude in Montreal, wo er sich ohne das Wissen seiner Mutter an der Universität eingeschrieben hat.
Dass auch der Erzähler, der sich immer wieder ins Geschehen einschaltet, trotz räumlicher Unbeweglichkeit nicht frei ist von Fernweh, beweist der Kompass, den er stets um den Hals trägt. Das kleine Navigationsgerät und einzige Erinnerungsstück an den verstorbenen Vater zeigt nämlich nicht zum Nordpol, sondern aus unerfindlichen Gründen in Richtung Nikolski, einem winzigen Kaff auf den Aleuten, wohin es den Vater kurz vor seinem Tod verschlagen hat und das dem Roman seinen Titel gibt. Die Welt dieser drei Protagonisten jenseits von Nikolski ist, so viel steht bald fest, ebenso aus dem Takt geraten wie der kleine Plastikkompass. Und auch wenn das Meer wie überhaupt alles Maritime im Roman die eigentliche Hauptrolle spielt, so betritt keiner der drei je ein Schiff. Gleichwohl ist die märchenhafte Erzählung eine postmoderne Piratengeschichte, vollgepackt mit Anspielungen nicht nur auf die See und die Fischkultur, sondern auch mit literarischen Reverenzen, etwa an Stevensons "Schatzinsel" oder Melvilles "Moby Dick": Wenn der Erzähler sagt, sein Name sei nicht von Bedeutung, spielt Dickner mit dessen berühmtem Romananfang "Nennt mich Ismael". Seine drei Charaktere aber suchen weder nach Walen noch nach Schätzen. Was sie umtreibt, nachdem sie den Hafen der Kindheit verlassen haben, ist die Sehnsucht nach einer Bestimmung, nach einem Lebenssinn, einem Zuhause.
Exzentrischer Geist und überschäumende Phantasie stecken in diesem Roman - was auch daran liegt, dass der Autor erklärtermaßen eine Schwäche für Enzyklopädien, mathematische Formeln und Landkarten hat. Manchmal freilich verliert man die Orientierung in dem komplizierten Konstrukt, worüber auch die luftige Drucksetzung des Textes nicht hinweghilft; seinen Charme aber verliert das Buch darüber nicht, das Nicolas Dickner übrigens nicht nur in Montreal, sondern auch im fränkisch-heimeligen Bamberg, wo er 2002 als "writer in residence" zu Gast war.
"Nikolski" enthält nicht nur eine Hommage an die Wissenschaft der Kartographie, sondern erzählt auch eine klassische Coming-of-age-Geschichte. Joyce, Noah und der Erzähler sind jeweils mit nur einem Elternteil groß geworden. Und noch in anderer Hinsicht ist jeder von ihnen, auf eigene Weise, isoliert aufgewachsen. Ihre Verbindung zur Welt fußt hauptsächlich auf ihren Studien von Land- oder Seekarten. Noah und Joyce sind beide Heimatlose. Während der eine nach einem rastlosen Wanderleben festen Grund unter den Füßen sucht, sehnt sich die andere nach Jahren des Eingesperrtseins in der Enge der Provinz nach Weite und Öffnung. Und tatsächlich gelingt es Joyce, ihren alten Traum vom Seeräuberleben in der Großstadt umzusetzen: Ihren Ozean findet die junge Piratin in den endlosen Weiten des Internets.
Diese Ähnlichkeit der drei Helden geht zweifellos zurück auf ihren gemeinsamen Verwandten, den rastlosen Jonas, der einst als Seefahrer über die Meere fuhr und später durch Kanada reiste, bis er in Nikolski ankam und dort starb. Nicht zufällig trägt dieser den Namen des biblischen Jona, der vom Wal geschluckt, an Land wieder ausgespien wurde. Die Hinterlassenschaft von Jonas, der kleine Kompass, wird jeder der drei irgendwann einmal in Händen halten, ohne jedoch die darin verborgene Wahrheit zu erfahren.
Nicolas Dickner, der 1972 in Rivière-du-loup in Québec geboren wurde, lebt heute in Montreal. Mit seinem Debüt "Nikolski", das 2005 in Kanada auf Französisch erschien, gelang ihm, beflügelt von der "Renaissance québecoise", dieser dann auch mit Preisen bedachte Erfolg. Seit einiger Zeit schon lässt das frankophone Kanada literarisch von sich hören, sowohl mit Verlagsneugründungen wie Les Allusifs, Héliotrope oder eben Alto, dem Haus, das "Nikolski" herausbrachte. Vor allem aber meldet sich eine neue Generation junger französischsprachiger Autoren zu Wort, neben Dickner etwa Catherine Mavrikakis, Sylvain Trudel oder Benoît Bouthillette. Nicolas Dickner selbst gelingt es am Ende seiner phantastischen Geschichte zwar nicht mehr, das große literarische Netz, das er ausgeworfen hat, vollständig wieder einzuholen. Einige Fangstücke gehen in der Flut der Erzählung verloren. Was darüber hinwegtröstet, ist der wunderbare Geruch des Meeres, der dem Leser allgegenwärtig bleibt.
Nicolas Dickner: "Nikolski". Roman. Aus dem Französischen von Andreas Jandl. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2009. 304 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
"Etwas Kindliches" entdeckt Rezensent Thomas Steinfeld in diesem Debütroman von Nicolas Dickner, und er will das als Kompliment verstanden wissen. Es geht um drei junge Erwachsene, die aus der Provinz nach Montreal kommen und deren nomadisches Leben mit dem Geschick der kanadischen Provinz Quebec eng verbunden ist, erklärt der Rezensent. Steinfeld lobt das überaus plastische und wie er findet sehr intensiv geschilderte Porträt der Stadt Montreal, deren besondere Eigenart er nicht zuletzt im Frankophonen verankert sieht. Als allegorische Klammern des Buches dienen ein aus dem Lot geratener Kompass und der "Müll", den die drei nomadischen und unwissentlich miteinander verwandten Hauptfiguren in Form von antiquarischen Büchern, archäologischen Fundstücken oder Elektroschrott in der Stadt zurückgelassen haben, stellt der Rezensent fest.
© Perlentaucher Medien GmbH
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