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Mit dem VI. Buch der "Nikomachischen Ethik" legt Hans-Georg Gadarner einen Haupttext der aristotelischen Philosophie in neuer Übersetzung vor. Mit diesem Gründungstext der praktischen Philosophie, in dessen Zentrum die Klärung des praktischen Wissens der "Phronesis" steht, präsentiert Gadamer einen entscheidenden Bezugspunkt seines eigenen Denkens und damit der von ihm begründeten philosophischen Hermeneutik. Darüber hinaus stellt die aristotelische Konzeption der "Phronesis" auch die maßgebende Grundlage der "Rehabilitierung der praktischen Philosophie" (Rüdiger Bubner) unserer Tage dar.…mehr

Produktbeschreibung
Mit dem VI. Buch der "Nikomachischen Ethik" legt Hans-Georg Gadarner einen Haupttext der aristotelischen Philosophie in neuer Übersetzung vor. Mit diesem Gründungstext der praktischen Philosophie, in dessen Zentrum die Klärung des praktischen Wissens der "Phronesis" steht, präsentiert Gadamer einen entscheidenden Bezugspunkt seines eigenen Denkens und damit der von ihm begründeten philosophischen Hermeneutik. Darüber hinaus stellt die aristotelische Konzeption der "Phronesis" auch die maßgebende Grundlage der "Rehabilitierung der praktischen Philosophie" (Rüdiger Bubner) unserer Tage dar. Diese Rehabilitierung setzt schon mit Heideggers Phänomenologie des Daseins ein. Ihr geht es um die zeitgemäße Aneignung der aristotelischen Ethik, geleitet von der Frage, ob nicht die auf die konkrete Situation bezogene praktische Philosophie des Aristoteles der Kantischen Moralbegründung im Rahmen einer am reinen Sollen orientierten Pflichtethik vorzuziehen sei. Diese Fragestellung bildet den H intergrund einer ausführlichen Einleitung sowie eines Nachwortes zur "Begründung der praktischen Philosophie bei Aristoteles", in dem Gadamer die philosophiegeschichtliche Einordnung und inhaltliche Erläuterung eines Textes unternimmt, der sein eigenes Denken entscheidend geprägt hat.
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Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.06.2020

Zwischen Übermaß und Mangel
Die „Nikomachische Ethik“ des Aristoteles klang auf Deutsch niemals frischer als in dieser Ausgabe
„Da die Mitte keinen Namen hat, scheinen sich die Extreme um ihren Platz zu streiten, als sei er leer. Wo es ein Übermaß und einen Mangel gibt, dort gibt es aber auch ein Mittleres.“ Es fällt gerade sehr schwer, Sätze wie diesen aus Aristoteles’ „Nikomachischer Ethik“ zu lesen, ohne ihn auch als Kommentar zu jüngsten politischen Ereignissen zu begreifen. Die Verführung, die über 2300 Jahre alte, immer wieder, aber von Aristoteles nie vollständig überarbeitete Vorlesung als Hilfsmittel zu nutzen, um der neuesten Unübersichtlichkeit mitsamt den alten Geistern zu begegnen, wird durch die von der Hamburger Philosophin Dorothea Frede verantwortete neue Ausgabe noch verstärkt. Doch bevor man allzuschnell glaubt, dass die sogenannte „bürgerliche Mitte“ nur mit Hilfe des Stagiriten erst zu finden und dann zu vermessen wäre, lohnt sich ein genauerer Blick auf die vorliegende Edition.
Nach ihrer Berliner Kollegin Ursula Wolf hat Frede die deutsche Fassung der „Nikomachische Ethik“ entrümpelt, weitaus radikaler und konsequenter. Entrümpelt von dem historistischen Unsinn, man dürfe keine zeitgenössischen Begriffe für die Übertragung antiker Texte verwenden. Entrümpelt von schwerfälligen und gegenüber dem Gesagten völlig unfreien Konstruktionen, die in nicht wenigen lieferbaren Übersetzungen den Text vom Leser ohne Not entfernen. Aristoteles‘ „Nikomachische Ethik“ klang auf Deutsch jedenfalls niemals frischer und klarer als in dieser Ausgabe. Und Frede befreit in ihrem Kommentar, der sich stets auf der Höhe der Forschung bewegt, von allem Ballast, den ihr Vorgänger Franz Dirlmeier in der maßgeblichen Edition des Akademie-Verlages aufgetürmt hatte.
Gleich die beiden ersten Sätze sind bei Frede frei von allen Unentschiedenheiten und Windungen: „Jede Kunst und jede Untersuchung, wie auch jede Handlung und jedes Vorhaben, scheint nach etwas Gutem zu streben. Daher hat man zu Recht das Gute als das bestimmt, wonach alles strebt.“
Man muss als Leser keine Forschungskontroversen kennen, doch die gewählte Formulierung ist ein Statement: mit der Übersetzung von „téchne“ mit „Kunst“ statt „Fertigkeit“ oder „künstlerische Tätigkeit“ zeigt Frede die angestrebte Weite von Aristoteles‘ Untersuchung an. Mit dem starken Verb „scheint“ verweist sie darauf, dass der Grieche sein Denken nicht in das Prokrustesbett der Logik zwingt, sondern einen Nachdenkraum eröffnet. Und so geht es konsequent weiter.
Fredes Sensibilität für das Gesamtgefüge wird immer dann besonders augenfällig, wenn Aristoteles‘ Sätze verdichteter, scheinbar unübersichtlicher werden. Sei es, weil er etwas Vergessenes nachholen möchte oder durch Wiederholungen betonen will. Das Deutsche wird dann biegsam, wo es nötig ist. Und Frede beherrscht die Kunst, Nebenstimmen zu Gehör zu bringen, insbesondere in den schwer nachvollziehbaren, weil sehr knapp und dann wieder äußerst verschachelt formulierten Argumenten im fünften Buch. „Wie es scheint, spricht man von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit in mehreren Bedeutungen. Weil diese aber nah beieinanderliegen, bleibt ihre Homonymie verborgen und ist nicht so offensichtlich wie bei weit auseinanderliegenden Bedeutungen. Groß ist der Unterschied nämlich dann, wenn er das Aussehen betrifft, so wie man etwa ‚Schlüssel‘ homonym für den Knochen unter dem Hals von Tieren und für das gebraucht, womit man Türen verschließt.“
Die Übernahme von „Homonymie“ zeigt Fredes Aufmerksamkeit für die Methodendiskussionen innerhalb der „Nikomachischen Ethik“. Die „Namensgleichheit“ ist für Aristoteles nämlich nicht nur ein linguistisches, sondern ein kategoriales Problem. Und als solches Ausgangspunkt für eine Vielzahl von Überlegungen darüber, wie sehr sich die Gleichheit von Worten bei der Verschiedenheit von Bedeutungen als Problem entpuppt, das nicht durch Definitionen einzuhegen ist. Aristoteles ist an solchen Stellen der Philosoph, der uns darauf drängt, stets genau zu sagen, was wir denken – sonst gehe Common sense verloren. Und damit letztlich das politische Gleichgewicht.
Fredes souveräner Übersetzung steht ein ebenso souveräner Kommentar zur Seite, der gemeinsam mit der Einleitung die Aussagekraft des klassischen Textes für die Gegenwart offenlegt. Aristoteles lebte und dachte in einer Polis, der athenische Stadtstaat ist Ausgangspunkt und Ziel seiner Reflexionen. Viele der vorgestellten Ideen und Unterscheidungen beruhen auf den Besonderheiten dieser übersichtlichen Einheit: „Ein Leben in einer wohlgeordneten Gemeinschaft erlaubt es dem Menschen, seine in ihm von Natur aus angelegten rationalen und charakterlichen Fähigkeiten auszubilden und anzuwenden. Der Mensch ist nicht nur ein Herdentier, das in einer strukturell differenzierten Organisation lebt, wie etwa Bienen und Ameisen, sondern er unterscheidet sich von ihnen durch den Besitz der Sprache, aufgrund derer er sich über Gutes und Schlechtes, über Nützliches und Schädliches, über Recht und Unrecht zu verständigen vermag.“
Fredes Edition lässt sich als Plädoyer für die unablässige Prüfung von Argumenten lesen. In der „Nikomachischen Ethik“ führt diese Prüfung dazu, den Einzelnen und seine Handlungen besser und genauer kennenzulernen, ebenso wie die Gemeinschaft, die ihn prägt und ihm die Möglichkeit lässt, sie zu formen.
Noch ein Wort zu Franz Dirlmeiers Edition. Der 1904 Geborene und 1977 Verstorbene war ebenso talentiert, wie ehrgeizig. Zwei Eigenschaften, die ihm früh eine Professur in München einbrachten. Hier entwickelte er Aktivitäten, die ihn als Nazi-Sympathisanten auswiesen und unter anderem zur Entlassung eines mit einer Jüdin verheirateten Kollegen führte. Dass er Mitglied des SS-Verbundes „Deutsches Ahnenerbe“ war, hat er nach dem Krieg gern Historikern erzählt, ganz so, als habe er damit nichts zu tun gehabt. Dirlmeiers Schriften aus dem „Dritten Reich“ widmen sich vorwiegend philologischen Spezialproblemen. Das mag ihn für Ernst Grumach, den ersten Herausgeber der Aristoteles-Edition und Überlebenden der Shoah, als kompetenten Bearbeiter attraktiv gemacht haben. Zumal man Dirlmeier eine Professur in Mainz, später in Würzburg zugestand – einzig München wollte ihn nicht mehr, nachdem eines seiner Opfer interveniert hatte. Dirlmeier schüttet den Leser im Kommentar mit gelehrten Hinweisen zu, so dass alberne Kulturkritik und die Vermengung von seriöser Sekundärliteratur mit Nazi-Literatur nur schwer zu erkennen sind. Dennoch sollte der Band keineswegs in der Asservatenkammer verschwinden, zu viel bietet er dem Ideenhistoriker.
Aber mit Dirlmeier soll diese Besprechung nicht enden. Zurück also zu Fredes beeindruckender Neuedition und einer Überlegung des Aristoteles: „Was die Klugheit ist, können wir dadurch erfassen, dass wir uns anschauen, welche Menschen wir klug nennen. Es kennzeichnet den Klugen, dass er fähig ist, richtig mit sich über das für ihn Gute und Nützliche zurate zu gehen, und zwar nicht in einer besonderen Hinsicht, wie etwa über das, was Gesundheit oder Stärke, sondern über das, was das gute Leben im Ganzen betrifft. Ein Anzeichen dafür ist, dass wir Menschen auch in Bezug auf etwas Bestimmtes als klug bezeichnen, wenn sie gute Überlegungen ein gutes Ziel betreffend anstellen“.
THOMAS MEYER
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Hrsg., übersetzt und kommentiert von Dorothea Frede. De Gruyter Verlag, Berlin 2020. XVIII, 1016 Seiten, 189 Euro.
„Daher hat man zu Recht
das Gute als das bestimmt,
wonach alles strebt.“
Athen, die Welt der Polis,
war Ausgangspunkt
und Ziel seiner Überlegungen
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