Markus Bäcker ist alles andere als begeistert, als er mit seinen Eltern an den Rand von Berlin zieht. Dort blickt er vom dritten Stock ihres Eckhauses auf ein stinkendes Chemiewerk und vorbeiratternde Züge, die alles zum Vibrieren bringen. Erst als er Nilowsky kennenlernt, wird ihm die Gegend um den Bahndamm zur Heimat. Eine Heimat voller Merkwürdigkeiten und intensiver Erfahrungen. Dazu gehören kuriose Anwendungen von Vodoo-Ritualen, um der Liebe auf die Sprünge zu helfen. Erotische Annäherungen einer Frau, die nicht älter als dreizehn sein will, sowie perfide Vertrauensforderungen von Seiten Nilowskys, die ihn fast das Leben kosten. Abgründe und Höhepunkte des Erwachsenwerdens, die Markus Bäcker ein Leben lang nicht loslassen werden. Mit großer Intensität und viel Humor schildert Torsten Schulz eine eigenartige Dreiecksbeziehung in den Wirren der Pubertät.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Angetan zeigt sich Lea Streisand von Torsten Schulz' neuen Roman. Sie schätzt den bärbeißigen Witz und die Melancholie des Autors, der mit "Boxhagener Platz" ein viel beachtetes Debüt vorgelegt hatte. Berührend erzählt "Nilowsky" für sie von einer Jugendfreundschaft in Ostberlin der beginnenden siebziger Jahre. Besonders die Figur des scheinbar omnipotenten, großmäuligen Reiner Nilowsky, dessen Mutter früh verstorben ist und der von seinem Vater, einem Kneipenbesitzer, regelmäßig verdroschen wird, hat sie beeindruckt. Sie hebt Schulz' sprachlich gekonnten Einsatz des Berliner Lokalkolorits hervor, der auf Kitsch verzichtet und ohne folkloristische Elemente auskommt. Entstanden ist für die Rezensenten ein Buch über die Themen Freundschaft, Liebe und Tod. Und über die "Suche nach einer eigenen Sprache".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.03.2013Ein Klecks Hühnerblut wird die Liebe richten
Torsten Schulz feiert die
Verrücktheiten des Lebens
in der DDR, verliert dabei
zuletzt aber den Faden
Markus Bäcker ist ein lieber Junge. Einer, der einfach mitgeht, wenn ein anderer zu ihm sagt: „Komm mit!“ Spezialisiert auf dieses Kommando ist Reiner Nilowsky, Sohn des gefährlich versoffenen Kneipenwirts vom „Bahndamm-Eck“, und weil Reiner schon 17 ist, Markus aber erst 14 und zudem neu in der Gegend am östlichen Stadtrand von Berlin, hat er mehr als nur einen Grund, Reiners Anordnungen zu folgen.
Es ist das Jahr 1976 in der DDR, und Markus Bäcker, den Ich-Erzähler in Torsten Schulz’ neuem Roman „Nilowsky“, hat es in diesen verkommenen Landstrich zwischen Chemiewerk, Bahndamm und Kneipe verschlagen, weil sein Vater im Werk als leitender Ingenieur eine vielversprechende Position gefunden hat, während seine Mutter dort zur Chefsekretärin des Betriebsleiters aufsteigt. Der verwirrte Junge muss selbst sehen, wie er mit dem Verlust seines gewohnten Prenzlauer-Berg-Umfelds klarkommt, und Nilowsky ist genau der Richtige, ihn in die speziellen Gepflogenheiten am Bahndamm einzuführen.
Da sind einmal die Züge – „der Vierachtzehner“, „der Siebzehnneuner“ oder „der Vierneununddreißiger“ –, da ist die Kneipe, und da ist nicht zuletzt eine rotgelbe Baracke, in der „die Mozambiquaner“ hausen, der Einfachheit halber auch „die Neger“ genannt, die aus Gründen der Internationalen Solidarität im Chemiewerk arbeiten bzw. arbeiten sollen und Markus’ Vater unterstehen. Und es gibt eine Riege aufgeschlossener älterer Damen – „Neger-Wally“, Elli und Mariechen –, die den Fremden in der Baracke als Köchinnen zur Hand gehen und wer weiß, wobei sonst noch.
Damit ist erstmal fürs Schnurren-Erzählen alles bestens eingerichtet, zwischendurch gern auch im Berliner Dialekt, und das kann Torsten Schulz ja besonders gut, wie wir seit seinem 2004 erschienenen Roman „Boxhagener Platz“ wissen. Wie dort, so spielt auch in „Nilowsky“ ein weitgehend nichtsahnender Junge eine der Hauptrollen, auch die liebevoll-ironisch beäugten alten Damen sind wieder da, und der Friedhof ist einer der Schauplätze. Denn alsbald stirbt Nilowskys Trinker-Vater an einer Überdosis „Meldekorn“ (oder hat ihn doch der Sohn, wie er’s geschworen hatte, zu Tode gebracht?), die Großmutter erleidet einen tödlichen Blutsturz, und das Leben der nunmehrigen Vollwaise Nilowsky gerät ins Trudeln.
Bis dahin aber steckt der Roman voller schräger Begebenheiten, und Markus’ großer Freund macht sich prächtig als Cicerone in dieser von grünlich-gelben Schwefeldioxidschwaden durchzogenen Welt: Er kennt hier jeden, und vor allem hat er für jedes Vorkommnis eine Theorie. Die durch den Vorort donnernden Reichsbahn-Züge fahren für ihn bis an den Atlantik – er legt Groschen auf die Gleise, damit die Räder eine Spur von der DDR ins westliche Ausland tragen. Das giftige Schwefeldioxid wiederum kann, tief eingeatmet, zur Stabilisierung des Blutdrucks dienen, Lenins Revolutionslehre hilft beim Verständnis entgleister Familienverhältnisse, und von seiner Großmutter hat Nilowsky das Karma-Denken mit individueller Interpretation übernommen: „Karma bedeutet, dass wir die Probleme, die wir selbst geschaffen haben, auflösen müssen, das bedeutet es. Jedenfalls mein Alter, mit seinem ekelhaften Karma, der hat sich gemeldet bei ihr, ausgerechnet der, eine Nacht nachdem er tot war, hat er sich schon gemeldet bei ihr“ – worauf die Großmutter sich zu Tode blutete. Als der revolutionäre Mozambiquaner Roberto sich für eine Geldspende mit den Worten „Gott segne dich“ bedankt, erläutert Reiner: „Für die Afrikaner ist Gott der größte Revolutionär, das ist Gott. Wie Lenin. Oder noch größer als Lenin. So ist das bei den Afrikanern.‘‘
Dass es durch deren Anwesenheit im Vorort drei Grad wärmer ist als im Zentrum Ost-Berlins (zwei Grad gehen auf das Konto des Chemiewerks, den Rest erzeugen die Mozambiquaner) ist für alle ausgemacht, und während die Rentnerin Elli im KaDeWe für das fremdländische Essen die passenden Gewürze klaut, findet im Wohnzimmer von Wally ein „Wudu“-Ritual mit Huhn statt: „Beschützt vor böse Geister.“ Außerdem soll Nilowskys Angebetete Carola ihm durch einen Klecks Hühnerblut gewogen gemacht werden, während Markus seine Mutter, deren blonden Haarturm Roberto so bewundert, mit einem Blutspritzer auf dessen Seite bringen soll.
Die herrlichsten verdrehten Geschichten also aus jenem Tollhaus, das die DDR eben auch war, lernen wir in Markus' Erzählungen vom Leben am Bahndamm kennen. Und alles wäre gut, würde die Familie nicht nach nur fünf Monaten wieder ins Stadtgebiet zurückziehen: Den Vater hat der Hang der afrikanischen Freunde zur Nicht-Arbeit – „brauchen Pause für Revolution“ – zermürbt, auch für die Mutter und den pubertierenden Sohn scheint der Wechsel das Richtige. Doch leider nicht für Torsten Schulz’ Roman.
Denn von nun an sehen wir einerseits dem Abstieg Nilowskys zum Alkoholiker, Brandstifter und zunehmend überschnappenden Theoretiker zu. Andererseits müssen wir dem kreuzbraven Ich-Erzähler durch Schulzeit, Wehrdienst und Studium folgen. Immer mal wieder tritt er mit Carola und Nilowsky in Kontakt, wirkt aber bei allem doch seltsam ferngesteuert: ein Streber, ohne eigene Kontur auch noch als Erwachsener. „Dit is eben schön“, hatte die einsichtsvolle Elli nach dem Verschwinden der Mozambiquaner aus der Baracke festgestellt, „dass wir Deutschen die Fleißigen sind, aber manchmal isset nich nützlich. Schon gar nich, wenn et um die sozialistische Solidarität geht“. Und leider auch beim Romanschreiben nicht: „Nilowsky“, dessen erste Hälfte eine Feier verquerer Menschlichkeit unter realsozialistischen Bedingungen war, verliert sich im zweiten Teil ins Öde.
FRAUKE MEYER-GOSAU
Fürs Schnurren-Erzählen
ist hier erstmal alles
bestens eingerichtet
Torsten Schulz: Nilowsky. Roman. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2013. 284 Seiten, 19,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Torsten Schulz feiert die
Verrücktheiten des Lebens
in der DDR, verliert dabei
zuletzt aber den Faden
Markus Bäcker ist ein lieber Junge. Einer, der einfach mitgeht, wenn ein anderer zu ihm sagt: „Komm mit!“ Spezialisiert auf dieses Kommando ist Reiner Nilowsky, Sohn des gefährlich versoffenen Kneipenwirts vom „Bahndamm-Eck“, und weil Reiner schon 17 ist, Markus aber erst 14 und zudem neu in der Gegend am östlichen Stadtrand von Berlin, hat er mehr als nur einen Grund, Reiners Anordnungen zu folgen.
Es ist das Jahr 1976 in der DDR, und Markus Bäcker, den Ich-Erzähler in Torsten Schulz’ neuem Roman „Nilowsky“, hat es in diesen verkommenen Landstrich zwischen Chemiewerk, Bahndamm und Kneipe verschlagen, weil sein Vater im Werk als leitender Ingenieur eine vielversprechende Position gefunden hat, während seine Mutter dort zur Chefsekretärin des Betriebsleiters aufsteigt. Der verwirrte Junge muss selbst sehen, wie er mit dem Verlust seines gewohnten Prenzlauer-Berg-Umfelds klarkommt, und Nilowsky ist genau der Richtige, ihn in die speziellen Gepflogenheiten am Bahndamm einzuführen.
Da sind einmal die Züge – „der Vierachtzehner“, „der Siebzehnneuner“ oder „der Vierneununddreißiger“ –, da ist die Kneipe, und da ist nicht zuletzt eine rotgelbe Baracke, in der „die Mozambiquaner“ hausen, der Einfachheit halber auch „die Neger“ genannt, die aus Gründen der Internationalen Solidarität im Chemiewerk arbeiten bzw. arbeiten sollen und Markus’ Vater unterstehen. Und es gibt eine Riege aufgeschlossener älterer Damen – „Neger-Wally“, Elli und Mariechen –, die den Fremden in der Baracke als Köchinnen zur Hand gehen und wer weiß, wobei sonst noch.
Damit ist erstmal fürs Schnurren-Erzählen alles bestens eingerichtet, zwischendurch gern auch im Berliner Dialekt, und das kann Torsten Schulz ja besonders gut, wie wir seit seinem 2004 erschienenen Roman „Boxhagener Platz“ wissen. Wie dort, so spielt auch in „Nilowsky“ ein weitgehend nichtsahnender Junge eine der Hauptrollen, auch die liebevoll-ironisch beäugten alten Damen sind wieder da, und der Friedhof ist einer der Schauplätze. Denn alsbald stirbt Nilowskys Trinker-Vater an einer Überdosis „Meldekorn“ (oder hat ihn doch der Sohn, wie er’s geschworen hatte, zu Tode gebracht?), die Großmutter erleidet einen tödlichen Blutsturz, und das Leben der nunmehrigen Vollwaise Nilowsky gerät ins Trudeln.
Bis dahin aber steckt der Roman voller schräger Begebenheiten, und Markus’ großer Freund macht sich prächtig als Cicerone in dieser von grünlich-gelben Schwefeldioxidschwaden durchzogenen Welt: Er kennt hier jeden, und vor allem hat er für jedes Vorkommnis eine Theorie. Die durch den Vorort donnernden Reichsbahn-Züge fahren für ihn bis an den Atlantik – er legt Groschen auf die Gleise, damit die Räder eine Spur von der DDR ins westliche Ausland tragen. Das giftige Schwefeldioxid wiederum kann, tief eingeatmet, zur Stabilisierung des Blutdrucks dienen, Lenins Revolutionslehre hilft beim Verständnis entgleister Familienverhältnisse, und von seiner Großmutter hat Nilowsky das Karma-Denken mit individueller Interpretation übernommen: „Karma bedeutet, dass wir die Probleme, die wir selbst geschaffen haben, auflösen müssen, das bedeutet es. Jedenfalls mein Alter, mit seinem ekelhaften Karma, der hat sich gemeldet bei ihr, ausgerechnet der, eine Nacht nachdem er tot war, hat er sich schon gemeldet bei ihr“ – worauf die Großmutter sich zu Tode blutete. Als der revolutionäre Mozambiquaner Roberto sich für eine Geldspende mit den Worten „Gott segne dich“ bedankt, erläutert Reiner: „Für die Afrikaner ist Gott der größte Revolutionär, das ist Gott. Wie Lenin. Oder noch größer als Lenin. So ist das bei den Afrikanern.‘‘
Dass es durch deren Anwesenheit im Vorort drei Grad wärmer ist als im Zentrum Ost-Berlins (zwei Grad gehen auf das Konto des Chemiewerks, den Rest erzeugen die Mozambiquaner) ist für alle ausgemacht, und während die Rentnerin Elli im KaDeWe für das fremdländische Essen die passenden Gewürze klaut, findet im Wohnzimmer von Wally ein „Wudu“-Ritual mit Huhn statt: „Beschützt vor böse Geister.“ Außerdem soll Nilowskys Angebetete Carola ihm durch einen Klecks Hühnerblut gewogen gemacht werden, während Markus seine Mutter, deren blonden Haarturm Roberto so bewundert, mit einem Blutspritzer auf dessen Seite bringen soll.
Die herrlichsten verdrehten Geschichten also aus jenem Tollhaus, das die DDR eben auch war, lernen wir in Markus' Erzählungen vom Leben am Bahndamm kennen. Und alles wäre gut, würde die Familie nicht nach nur fünf Monaten wieder ins Stadtgebiet zurückziehen: Den Vater hat der Hang der afrikanischen Freunde zur Nicht-Arbeit – „brauchen Pause für Revolution“ – zermürbt, auch für die Mutter und den pubertierenden Sohn scheint der Wechsel das Richtige. Doch leider nicht für Torsten Schulz’ Roman.
Denn von nun an sehen wir einerseits dem Abstieg Nilowskys zum Alkoholiker, Brandstifter und zunehmend überschnappenden Theoretiker zu. Andererseits müssen wir dem kreuzbraven Ich-Erzähler durch Schulzeit, Wehrdienst und Studium folgen. Immer mal wieder tritt er mit Carola und Nilowsky in Kontakt, wirkt aber bei allem doch seltsam ferngesteuert: ein Streber, ohne eigene Kontur auch noch als Erwachsener. „Dit is eben schön“, hatte die einsichtsvolle Elli nach dem Verschwinden der Mozambiquaner aus der Baracke festgestellt, „dass wir Deutschen die Fleißigen sind, aber manchmal isset nich nützlich. Schon gar nich, wenn et um die sozialistische Solidarität geht“. Und leider auch beim Romanschreiben nicht: „Nilowsky“, dessen erste Hälfte eine Feier verquerer Menschlichkeit unter realsozialistischen Bedingungen war, verliert sich im zweiten Teil ins Öde.
FRAUKE MEYER-GOSAU
Fürs Schnurren-Erzählen
ist hier erstmal alles
bestens eingerichtet
Torsten Schulz: Nilowsky. Roman. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2013. 284 Seiten, 19,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.04.2013Voodoo im Kombinat
Chemische Reaktion, sozialistische Revolution: Der Roman "Nilowsky" von Torsten Schulz ist eine Wiederbelebung der DDR in schwarzweißen Tönen.
Man fragt sich, warum erwachsene Männer die Pubertät so interessiert. Erwachsene Frauen ebenso. Und zwar meist in einem Alter, in dem dieser schale, undefinierte, lebensoffene Abschnitt so weit zurückliegt, dass er fast verblasst. Statt ihn aber ruhenzulassen, schaut der künstlerisch tätige Erwachsene genau hin. Und plötzlich beginnt diese Zeit durch seine Augen zu leuchten, in all ihrer Peinlichkeit, die mit der spürbar einsetzenden Erneuerungsenergie dieser Jahre seltsam disharmoniert. Fast eine Heiligsprechung ist da durch die Literarisierung im Gang. Torsten Schulz, 1959 in Berlin geboren, hat seine Pubertät in der DDR erlebt. Mit "Boxhagener Platz" schrieb er darüber 2004 einen melancholischen Roman und gleich dazu auch das Drehbuch, aus der Sicht eines Jungen, der um 1968 in Ost-Berlin seine Mitmenschen beobachtet: Fisch-Winkler, Oma Otti oder seinen Vater, den Volkspolizisten Klaus-Dieter. Allein die Namen erzählen eine skurrile Geschichte, 2010 als "Berliner Heimatfilm" untertitelt verfilmt.
Torsten Schulz' neuer Roman heißt "Nilowsky", nach der Hauptfigur Reiner Nilowsky. Er gehört zu den Freunden, vor welchen Eltern einen warnen. Deshalb zieht es den damals vierzehnjährigen farblosen Markus Bäcker, der sich hier an die Zeit um 1976 zurückerinnert, zu ihm hin. Die "pädagogischen Gespräche" zu Hause hat der Junge nämlich satt. Gerade erst mit seinen Eltern von Berlin-Mitte an den Stadtrand gezogen - der Vater leitet jetzt eine Chemiefabrik -, ist Markus ebenso kontaktscheu wie -bedürftig. Die Gegend stinkt und ist unwirtlich, Züge fahren durch gen Westen, und in der Kneipe am Bahndamm qualmen und quatschen sich die nach Schwefelwasserstoff riechenden Arbeiter der Chemiefabrik bei "doppeltem Goldi und Bier zum Nachspülen" in die Nacht.
Nilowsky hingegen, der Sohn des Kneipenwirts, verströmt einen Hauch von Abenteuer. Er lässt Groschen vom Zug plattfahren, kaum dass er selbst zur Seite rückt, und lacht dabei mit offenem Mund. Er weiß alles über chemische Reaktionen und die wahre sozialistische Revolution, die er gern umgesetzt hätte. Torsten Schulz lässt keinen Zweifel daran, dass man es hier mit einem Blender zu tun hat, der mit großem Maul Behauptungen aufstellt, die sich bei näherem Blick als haltlos erweisen würden. Doch Markus in seiner "verwirrend intimen" Beziehung zu Nilowsky, der ihn sogar in Geheimnisse einweiht, möchte vorerst gar nicht so genau hinschauen. Er tritt schutzlos und neugierig in die zwiespältige Aura des etwas Älteren, der von seinem Vater mit dem Feuerhaken geschlagen wird, aber einen ungebrochenen Willen hat. Einen Willen, gepaart mit latenter Aggression. Beides macht ihn attraktiv wie Gift, von dem man weiß, dass es tödlich enden könnte. Torsten Schulz entwirft hier mit allem Pathos einen spinnerten Visionär, einen begabten Rhetoriker, der "langsam und bedeutungsvoll" spricht, wenn er seinem Vater Hass entgegenschleudert; dessen Leidenschaft ansteckt und verbündet; der sich das Recht nimmt, jederzeit aufzutauchen und zu verschwinden, wie es ihm gerade passt. Nilowsky, heißt es, ist "sich selbst sein bester Gast". Ausgestattet ist er aber auch mit einer Suchtstruktur. Und so wird er später den Alkohol ebenso verteidigen wie eine krampfhaft aufrechterhaltene Liebesbeziehung. Eine tragische Figur. Tragisch, weil er sein Unglück hinter der Vision klar sieht und formuliert.
Man ahnt, dass diese Unzuverlässigkeit nicht das richtige Fundament einer Freundschaft ist. Und so verschiebt sich das Interesse auf Markus, der hier so hin- und hergerissen erzählt. Man steht ihm bei, wenn er als Beweis des Vertrauens seine Zunge auf die kalten Bahnschienen legt und der neue Freund mit dem Urin darauf zielt, damit sie sich von den Schienen löse. Und man merkt, wie er von Nilowsky Abstand nimmt und wie schwer ihm das fällt, zumal er dessen Frau liebt und nicht haben darf. Später der erste, unschöne Kuss mit einer anderen und sofortiges Entlieben. Und noch später, auch das liegt nahe, die große Desillusionierung: "Nur der Traum mit Carola war mir inzwischen eine Bürde. Ich wollte ihn vergessen. Um ihn zu vergessen, schrieb ich ihn auf. Indem ich ihn aufschrieb, begann ich, ihn zu verändern. Doch dadurch, dass ich ihn veränderte, wurde mir klar, dass ich ihn nicht würde vergessen können."
Die Melancholie dieses Teufelskreises aus schamhaft und permanent kreisender Vergegenwärtigung alter Geschichten überschattet und strukturiert diesen Roman. Er ist nicht unbedingt sprachlich aufregend. Aber anziehend unspektakulär in dem, was er erzählt. Die hier in Schwarzweißtönen wiederbelebte DDR tritt einem von den trockenen Rändern entgegen, mit vertrautem Personal - auch Funktionäre kommen als Eltern vor, gegen die ohnmächtig rebelliert wird. Aber Schulz mischt Farbtöne unter und hat ein Gespür fürs Szenische, was den Erzählfluss auflockert. Voodoo mit Hühnerblut ist nur eine dieser bizarren filmreifen Schnitte.
Dass dieser Nilowsky geheime Kontakte zu den am Chemiewerk beschäftigten Afrikanern pflegt, eröffnet ein originelles Nebenpflaster dieses Entwicklungsromans: Die von Staats wegen verordnete Erziehung der sogenannten Schwellenländer, die den Sozialismus erst noch lernen müssen, ist wohl eines der merkwürdigsten Kapitel der DDR-Geschichte, die Torsten Schulz hier lebendig werden lässt, in grellen Kontrasten. In der gelb-blauen Baracke, wo die fremdstämmigen Arbeiter wohnen, wird kräftig berlinert, derweil man im Ort Vorurteile hegt oder das Exotische genießt. Für Markus ist die Baracke ein weiteres großes Versprechen, zu Tabuzonen vorgelassen zu werden. Was er dort fürs Leben lernt, rettet ihn auch durch die Pubertät. Er bleibt die zurückhaltende, eher beobachtende, gleichwohl verwickelte Figur, wie sie schon "Boxhagener Platz" beherbergte. Das ermöglicht einen Blick, der sich zusehends weitet.
Und so überzeugt "Nilowsky" vor allem als großes, immer wieder in sich zusammenbrechendes Projektionstheater. Als erzählerisches Mittel gegen die Langeweile des Lebens im Sozialismus, gegen die Langeweile des Lebens überhaupt ist das unterhaltsam genug.
ANJA HIRSCH.
Torsten Schulz: "Nilowsky".
Roman.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2013. 285 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Chemische Reaktion, sozialistische Revolution: Der Roman "Nilowsky" von Torsten Schulz ist eine Wiederbelebung der DDR in schwarzweißen Tönen.
Man fragt sich, warum erwachsene Männer die Pubertät so interessiert. Erwachsene Frauen ebenso. Und zwar meist in einem Alter, in dem dieser schale, undefinierte, lebensoffene Abschnitt so weit zurückliegt, dass er fast verblasst. Statt ihn aber ruhenzulassen, schaut der künstlerisch tätige Erwachsene genau hin. Und plötzlich beginnt diese Zeit durch seine Augen zu leuchten, in all ihrer Peinlichkeit, die mit der spürbar einsetzenden Erneuerungsenergie dieser Jahre seltsam disharmoniert. Fast eine Heiligsprechung ist da durch die Literarisierung im Gang. Torsten Schulz, 1959 in Berlin geboren, hat seine Pubertät in der DDR erlebt. Mit "Boxhagener Platz" schrieb er darüber 2004 einen melancholischen Roman und gleich dazu auch das Drehbuch, aus der Sicht eines Jungen, der um 1968 in Ost-Berlin seine Mitmenschen beobachtet: Fisch-Winkler, Oma Otti oder seinen Vater, den Volkspolizisten Klaus-Dieter. Allein die Namen erzählen eine skurrile Geschichte, 2010 als "Berliner Heimatfilm" untertitelt verfilmt.
Torsten Schulz' neuer Roman heißt "Nilowsky", nach der Hauptfigur Reiner Nilowsky. Er gehört zu den Freunden, vor welchen Eltern einen warnen. Deshalb zieht es den damals vierzehnjährigen farblosen Markus Bäcker, der sich hier an die Zeit um 1976 zurückerinnert, zu ihm hin. Die "pädagogischen Gespräche" zu Hause hat der Junge nämlich satt. Gerade erst mit seinen Eltern von Berlin-Mitte an den Stadtrand gezogen - der Vater leitet jetzt eine Chemiefabrik -, ist Markus ebenso kontaktscheu wie -bedürftig. Die Gegend stinkt und ist unwirtlich, Züge fahren durch gen Westen, und in der Kneipe am Bahndamm qualmen und quatschen sich die nach Schwefelwasserstoff riechenden Arbeiter der Chemiefabrik bei "doppeltem Goldi und Bier zum Nachspülen" in die Nacht.
Nilowsky hingegen, der Sohn des Kneipenwirts, verströmt einen Hauch von Abenteuer. Er lässt Groschen vom Zug plattfahren, kaum dass er selbst zur Seite rückt, und lacht dabei mit offenem Mund. Er weiß alles über chemische Reaktionen und die wahre sozialistische Revolution, die er gern umgesetzt hätte. Torsten Schulz lässt keinen Zweifel daran, dass man es hier mit einem Blender zu tun hat, der mit großem Maul Behauptungen aufstellt, die sich bei näherem Blick als haltlos erweisen würden. Doch Markus in seiner "verwirrend intimen" Beziehung zu Nilowsky, der ihn sogar in Geheimnisse einweiht, möchte vorerst gar nicht so genau hinschauen. Er tritt schutzlos und neugierig in die zwiespältige Aura des etwas Älteren, der von seinem Vater mit dem Feuerhaken geschlagen wird, aber einen ungebrochenen Willen hat. Einen Willen, gepaart mit latenter Aggression. Beides macht ihn attraktiv wie Gift, von dem man weiß, dass es tödlich enden könnte. Torsten Schulz entwirft hier mit allem Pathos einen spinnerten Visionär, einen begabten Rhetoriker, der "langsam und bedeutungsvoll" spricht, wenn er seinem Vater Hass entgegenschleudert; dessen Leidenschaft ansteckt und verbündet; der sich das Recht nimmt, jederzeit aufzutauchen und zu verschwinden, wie es ihm gerade passt. Nilowsky, heißt es, ist "sich selbst sein bester Gast". Ausgestattet ist er aber auch mit einer Suchtstruktur. Und so wird er später den Alkohol ebenso verteidigen wie eine krampfhaft aufrechterhaltene Liebesbeziehung. Eine tragische Figur. Tragisch, weil er sein Unglück hinter der Vision klar sieht und formuliert.
Man ahnt, dass diese Unzuverlässigkeit nicht das richtige Fundament einer Freundschaft ist. Und so verschiebt sich das Interesse auf Markus, der hier so hin- und hergerissen erzählt. Man steht ihm bei, wenn er als Beweis des Vertrauens seine Zunge auf die kalten Bahnschienen legt und der neue Freund mit dem Urin darauf zielt, damit sie sich von den Schienen löse. Und man merkt, wie er von Nilowsky Abstand nimmt und wie schwer ihm das fällt, zumal er dessen Frau liebt und nicht haben darf. Später der erste, unschöne Kuss mit einer anderen und sofortiges Entlieben. Und noch später, auch das liegt nahe, die große Desillusionierung: "Nur der Traum mit Carola war mir inzwischen eine Bürde. Ich wollte ihn vergessen. Um ihn zu vergessen, schrieb ich ihn auf. Indem ich ihn aufschrieb, begann ich, ihn zu verändern. Doch dadurch, dass ich ihn veränderte, wurde mir klar, dass ich ihn nicht würde vergessen können."
Die Melancholie dieses Teufelskreises aus schamhaft und permanent kreisender Vergegenwärtigung alter Geschichten überschattet und strukturiert diesen Roman. Er ist nicht unbedingt sprachlich aufregend. Aber anziehend unspektakulär in dem, was er erzählt. Die hier in Schwarzweißtönen wiederbelebte DDR tritt einem von den trockenen Rändern entgegen, mit vertrautem Personal - auch Funktionäre kommen als Eltern vor, gegen die ohnmächtig rebelliert wird. Aber Schulz mischt Farbtöne unter und hat ein Gespür fürs Szenische, was den Erzählfluss auflockert. Voodoo mit Hühnerblut ist nur eine dieser bizarren filmreifen Schnitte.
Dass dieser Nilowsky geheime Kontakte zu den am Chemiewerk beschäftigten Afrikanern pflegt, eröffnet ein originelles Nebenpflaster dieses Entwicklungsromans: Die von Staats wegen verordnete Erziehung der sogenannten Schwellenländer, die den Sozialismus erst noch lernen müssen, ist wohl eines der merkwürdigsten Kapitel der DDR-Geschichte, die Torsten Schulz hier lebendig werden lässt, in grellen Kontrasten. In der gelb-blauen Baracke, wo die fremdstämmigen Arbeiter wohnen, wird kräftig berlinert, derweil man im Ort Vorurteile hegt oder das Exotische genießt. Für Markus ist die Baracke ein weiteres großes Versprechen, zu Tabuzonen vorgelassen zu werden. Was er dort fürs Leben lernt, rettet ihn auch durch die Pubertät. Er bleibt die zurückhaltende, eher beobachtende, gleichwohl verwickelte Figur, wie sie schon "Boxhagener Platz" beherbergte. Das ermöglicht einen Blick, der sich zusehends weitet.
Und so überzeugt "Nilowsky" vor allem als großes, immer wieder in sich zusammenbrechendes Projektionstheater. Als erzählerisches Mittel gegen die Langeweile des Lebens im Sozialismus, gegen die Langeweile des Lebens überhaupt ist das unterhaltsam genug.
ANJA HIRSCH.
Torsten Schulz: "Nilowsky".
Roman.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2013. 285 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Schulz erzählt mit hintergründigem Witz und einer zärtlichen Liebe zu seinen Figuren über ein unwirtliches Dreieck zwischen Bahndamm, Fabrik und Kneipe. Beim Lesen tauchen sofort (Film-)Bilder auf.« Ronald Klein Berliner Morgenpost 20231130