Produktdetails
  • Verlag: Klett Cotta
  • ISBN-13: 9783608006056
  • Artikelnr.: 37697027
  • Herstellerkennzeichnung
  • Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.04.2013

Voodoo im Kombinat

Chemische Reaktion, sozialistische Revolution: Der Roman "Nilowsky" von Torsten Schulz ist eine Wiederbelebung der DDR in schwarzweißen Tönen.

Man fragt sich, warum erwachsene Männer die Pubertät so interessiert. Erwachsene Frauen ebenso. Und zwar meist in einem Alter, in dem dieser schale, undefinierte, lebensoffene Abschnitt so weit zurückliegt, dass er fast verblasst. Statt ihn aber ruhenzulassen, schaut der künstlerisch tätige Erwachsene genau hin. Und plötzlich beginnt diese Zeit durch seine Augen zu leuchten, in all ihrer Peinlichkeit, die mit der spürbar einsetzenden Erneuerungsenergie dieser Jahre seltsam disharmoniert. Fast eine Heiligsprechung ist da durch die Literarisierung im Gang. Torsten Schulz, 1959 in Berlin geboren, hat seine Pubertät in der DDR erlebt. Mit "Boxhagener Platz" schrieb er darüber 2004 einen melancholischen Roman und gleich dazu auch das Drehbuch, aus der Sicht eines Jungen, der um 1968 in Ost-Berlin seine Mitmenschen beobachtet: Fisch-Winkler, Oma Otti oder seinen Vater, den Volkspolizisten Klaus-Dieter. Allein die Namen erzählen eine skurrile Geschichte, 2010 als "Berliner Heimatfilm" untertitelt verfilmt.

Torsten Schulz' neuer Roman heißt "Nilowsky", nach der Hauptfigur Reiner Nilowsky. Er gehört zu den Freunden, vor welchen Eltern einen warnen. Deshalb zieht es den damals vierzehnjährigen farblosen Markus Bäcker, der sich hier an die Zeit um 1976 zurückerinnert, zu ihm hin. Die "pädagogischen Gespräche" zu Hause hat der Junge nämlich satt. Gerade erst mit seinen Eltern von Berlin-Mitte an den Stadtrand gezogen - der Vater leitet jetzt eine Chemiefabrik -, ist Markus ebenso kontaktscheu wie -bedürftig. Die Gegend stinkt und ist unwirtlich, Züge fahren durch gen Westen, und in der Kneipe am Bahndamm qualmen und quatschen sich die nach Schwefelwasserstoff riechenden Arbeiter der Chemiefabrik bei "doppeltem Goldi und Bier zum Nachspülen" in die Nacht.

Nilowsky hingegen, der Sohn des Kneipenwirts, verströmt einen Hauch von Abenteuer. Er lässt Groschen vom Zug plattfahren, kaum dass er selbst zur Seite rückt, und lacht dabei mit offenem Mund. Er weiß alles über chemische Reaktionen und die wahre sozialistische Revolution, die er gern umgesetzt hätte. Torsten Schulz lässt keinen Zweifel daran, dass man es hier mit einem Blender zu tun hat, der mit großem Maul Behauptungen aufstellt, die sich bei näherem Blick als haltlos erweisen würden. Doch Markus in seiner "verwirrend intimen" Beziehung zu Nilowsky, der ihn sogar in Geheimnisse einweiht, möchte vorerst gar nicht so genau hinschauen. Er tritt schutzlos und neugierig in die zwiespältige Aura des etwas Älteren, der von seinem Vater mit dem Feuerhaken geschlagen wird, aber einen ungebrochenen Willen hat. Einen Willen, gepaart mit latenter Aggression. Beides macht ihn attraktiv wie Gift, von dem man weiß, dass es tödlich enden könnte. Torsten Schulz entwirft hier mit allem Pathos einen spinnerten Visionär, einen begabten Rhetoriker, der "langsam und bedeutungsvoll" spricht, wenn er seinem Vater Hass entgegenschleudert; dessen Leidenschaft ansteckt und verbündet; der sich das Recht nimmt, jederzeit aufzutauchen und zu verschwinden, wie es ihm gerade passt. Nilowsky, heißt es, ist "sich selbst sein bester Gast". Ausgestattet ist er aber auch mit einer Suchtstruktur. Und so wird er später den Alkohol ebenso verteidigen wie eine krampfhaft aufrechterhaltene Liebesbeziehung. Eine tragische Figur. Tragisch, weil er sein Unglück hinter der Vision klar sieht und formuliert.

Man ahnt, dass diese Unzuverlässigkeit nicht das richtige Fundament einer Freundschaft ist. Und so verschiebt sich das Interesse auf Markus, der hier so hin- und hergerissen erzählt. Man steht ihm bei, wenn er als Beweis des Vertrauens seine Zunge auf die kalten Bahnschienen legt und der neue Freund mit dem Urin darauf zielt, damit sie sich von den Schienen löse. Und man merkt, wie er von Nilowsky Abstand nimmt und wie schwer ihm das fällt, zumal er dessen Frau liebt und nicht haben darf. Später der erste, unschöne Kuss mit einer anderen und sofortiges Entlieben. Und noch später, auch das liegt nahe, die große Desillusionierung: "Nur der Traum mit Carola war mir inzwischen eine Bürde. Ich wollte ihn vergessen. Um ihn zu vergessen, schrieb ich ihn auf. Indem ich ihn aufschrieb, begann ich, ihn zu verändern. Doch dadurch, dass ich ihn veränderte, wurde mir klar, dass ich ihn nicht würde vergessen können."

Die Melancholie dieses Teufelskreises aus schamhaft und permanent kreisender Vergegenwärtigung alter Geschichten überschattet und strukturiert diesen Roman. Er ist nicht unbedingt sprachlich aufregend. Aber anziehend unspektakulär in dem, was er erzählt. Die hier in Schwarzweißtönen wiederbelebte DDR tritt einem von den trockenen Rändern entgegen, mit vertrautem Personal - auch Funktionäre kommen als Eltern vor, gegen die ohnmächtig rebelliert wird. Aber Schulz mischt Farbtöne unter und hat ein Gespür fürs Szenische, was den Erzählfluss auflockert. Voodoo mit Hühnerblut ist nur eine dieser bizarren filmreifen Schnitte.

Dass dieser Nilowsky geheime Kontakte zu den am Chemiewerk beschäftigten Afrikanern pflegt, eröffnet ein originelles Nebenpflaster dieses Entwicklungsromans: Die von Staats wegen verordnete Erziehung der sogenannten Schwellenländer, die den Sozialismus erst noch lernen müssen, ist wohl eines der merkwürdigsten Kapitel der DDR-Geschichte, die Torsten Schulz hier lebendig werden lässt, in grellen Kontrasten. In der gelb-blauen Baracke, wo die fremdstämmigen Arbeiter wohnen, wird kräftig berlinert, derweil man im Ort Vorurteile hegt oder das Exotische genießt. Für Markus ist die Baracke ein weiteres großes Versprechen, zu Tabuzonen vorgelassen zu werden. Was er dort fürs Leben lernt, rettet ihn auch durch die Pubertät. Er bleibt die zurückhaltende, eher beobachtende, gleichwohl verwickelte Figur, wie sie schon "Boxhagener Platz" beherbergte. Das ermöglicht einen Blick, der sich zusehends weitet.

Und so überzeugt "Nilowsky" vor allem als großes, immer wieder in sich zusammenbrechendes Projektionstheater. Als erzählerisches Mittel gegen die Langeweile des Lebens im Sozialismus, gegen die Langeweile des Lebens überhaupt ist das unterhaltsam genug.

ANJA HIRSCH.

Torsten Schulz: "Nilowsky".

Roman.

Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2013. 285 S., geb., 19,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Angetan zeigt sich Lea Streisand von Torsten Schulz' neuen Roman. Sie schätzt den bärbeißigen Witz und die Melancholie des Autors, der mit "Boxhagener Platz" ein viel beachtetes Debüt vorgelegt hatte. Berührend erzählt "Nilowsky" für sie von einer Jugendfreundschaft in Ostberlin der beginnenden siebziger Jahre. Besonders die Figur des scheinbar omnipotenten, großmäuligen Reiner Nilowsky, dessen Mutter früh verstorben ist und der von seinem Vater, einem Kneipenbesitzer, regelmäßig verdroschen wird, hat sie beeindruckt. Sie hebt Schulz' sprachlich gekonnten Einsatz des Berliner Lokalkolorits hervor, der auf Kitsch verzichtet und ohne folkloristische Elemente auskommt. Entstanden ist für die Rezensenten ein Buch über die Themen Freundschaft, Liebe und Tod. Und über die "Suche nach einer eigenen Sprache".

© Perlentaucher Medien GmbH
»Schulz erzählt mit hintergründigem Witz und einer zärtlichen Liebe zu seinen Figuren über ein unwirtliches Dreieck zwischen Bahndamm, Fabrik und Kneipe. Beim Lesen tauchen sofort (Film-)Bilder auf.« Ronald Klein Berliner Morgenpost 20231130