Produktdetails
- Verlag: Drava
- Seitenzahl: 256
- Deutsch
- Abmessung: 210mm x 135mm
- Gewicht: 442g
- ISBN-13: 9783854353096
- ISBN-10: 385435309X
- Artikelnr.: 26221139
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.10.1999Ahnungen eines toten Herzens
Ivan Cankar und die Sehnsucht der verspäteten slowenischen Nation · Von Karl-Markus Gauß
Im Jahre 1898, im Alter von 22 Jahren, verlässt der slowenische Schriftsteller Ivan Cankar das kleinstädtische Laibach und zieht nach Wien. Elf Jahre der Not und des Triumphes wird er bleiben, in der Arbeitervorstadt Ottakring wohnen und die moderne slowenische Literatur begründen. Cankar war der erste slowenische Schriftsteller, der das Schreiben auch als Beruf praktizierte, seine vielen Briefe kennen fast nur ein einziges Thema: das Geld. "Öfter hungrig als satt", vermochte sich das Kind kleiner Leute nie aus der Armut herauszuarbeiten. Und wiewohl er schon mit 35 Jahren als größter Dichter seiner Zeit verehrt wurde, hauste er zeitlebens in schäbigen Kammern zur Untermiete, in Hinterzimmern von Wirtshäusern, in düsteren Waldhütten. In einem dieser Quartiere des Elends wird er 1918 im Rausch die Treppe hinunterstürzen und sterben, gerade erst 42 Jahre alt: "Das Leben prügelte mich bis aufs Blut, ich aber feilte glatte Reime."
In so vielen Richtungen hat Cankar der slowenischen Literatur Neuland erobert, dass sich seither alle auf ihn berufen können: die sozialen Realisten, die Romantiker, die Symbolisten, die Aufrührer, selbst die Dandies. Vom Staatsfeind zum Pornografen, vom religiösen Schwärmer zum Gotteslästerer gab es nur wenige Schmähungen und Ehrentitel, die nicht auf ihn gemünzt wurden, und tatsächlich haben sie auch alle etwas für sich, so vielgestaltig ist das Werk dieses gehetzten Menschen, der früh um seine Bedeutung als klassischer Autor seiner kleinen Nation wusste.
Einen bedeutsamen Teil seines literarischen Werkes hat Cankar in Wien geschrieben. Tschechische Proletarier, slowakische Dienstmädchen, aus der Bahn geworfene Studenten vom Balkan sind die Helden seiner Wiener Prosa, und was er in Erzählungen, Feuilletons, Romanen, Skizzen und Impressionen zeigt, das ist die andere, die pechschwarze Seite der glänzenden Metropole. Unendlich fern ist das prächtige Wien, die Weltstadt des Fin de siècle, in der sich der Reichtum kulturell verfeinert und die Lebenslust ins Morbide läutert.
Liest man seine Wiener Geschichten, so wähnt man sich in einer ganz anderen Stadt unterwegs als in jener, deren welke Pracht ein Hofmannsthal rühmt, deren urbane Lebendigkeit ein Arthur Schnitzler präzise kartografiert. In der großen Sterbegeschichte "Nina", die jetzt, mit neunzigjähriger Verspätung, erstmals auch auf Deutsch zu lesen ist, heißt es von Wien, wo alle Gestalten Cankars zugrunde gehen, an der Schwindsucht verlöschen, im Alkohol ertrinken, in der Prostitution enden: "Die Gassen waren staubig, laut, voller Arbeiter, die aus den Fabriken kamen. Du erinnerst dich, wie wir tief gebeugt eilten, denn der Staub trieb uns direkt ins Gesicht. Wir hielten uns an der Hand und sahen zu Boden, und dennoch sahen wir die Menschen, die vorübergingen, und die hohen, finsteren Häuser, die auf uns starrten, die finstere Mauer unseres Kerkers. Und alle Frauen waren wie du . . . klein, ängstlich, krank . . . aus dem Dunkel geboren und sich ins Dunkel verzehrend. Und alle Männer waren wie ich . . . finster, misstrauisch, bei allem Ekel vor Sünde von Sünde besudelt, in Jauche watend, einen Fluch im Mund und im Herzen Verzweiflung. Wir gingen mitten unter ihnen."
Der Form nach ist "Nina" der innere Monolog eines Mannes, der sieben Nächte am Sterbelager eines Mädchens zubringt und sich in einer mitreißenden Suada wider das soziale Unrecht, die metaphysische Enttäuschung, die Herren der Welt und den abwesenden Gott empört. Die Zeitgenossen waren von der Vehemenz, mit der Cankar eine Lebensbeichte als Generalanklage anlegte, überfordert und haben auch die kunstvolle Komposition des kreisenden Monologs nicht erkannt.
Im Jahr 1909, drei Jahre nach der Großstadtgeschichte "Nina", erschien "Kurent", eine ganz anders geartete Erzählung, die ihren Stoff aus der slowenischen Volksmythologie holt und jetzt doch mit gutem Grund mit "Nina" zu einem Band vereint wurde. Das vereinende Element der beiden Erzählungen ist die Beschwörung der "Hrepenenje", der alles verzehrenden Sehnsucht, die in Cankars Bild vom Slowenentum immer wiederkehrt und noch heute im Selbstbild dieser verspäteten Nation eine Rolle spielt. Die "tausendjährige Sehnsucht nach Freiheit", von der in "Kurent" gesprochen wird, ist nur ein Moment dieser Sehnsucht, die Cankar mit geradezu betörenden Worten verklärt und dann doch mit unerbittlicher Schärfe analysiert. Es ist diese Sehnsucht, die den Menschen in seinem Leid und seiner Schwäche rechtfertigt, aber sie hat auch etwas gefährlich Selbstbezogenes und droht sich am Ende nur mehr mit sich selbst zu beschäftigen: "Das Herz lebt nicht mehr, es ahnt nur noch; die Augen sehen nicht mehr; sie träumen nur noch . . ."
Über dreißig Bände umfasst die Gesamtausgabe Cankars in slowenischer Sprache. Immerhin sechs Bände davon sind, von Erwin Köstler vorzüglich ediert, in den letzten Jahren im Drava-Verlag auch auf Deutsch erschienen. Es gibt also gar keine Ausrede mehr, diesen großen europäischen Dichter nicht zu kennen.
Ivan Cankar: "Nina. Kurent". Zwei Erzählungen. Aus dem Slowenischen übersetzt von Erwin Köstler und Kristina Kallert. Drava-Verlag, Klagenfurt/Celovec 1999. 256 S., geb., 38,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ivan Cankar und die Sehnsucht der verspäteten slowenischen Nation · Von Karl-Markus Gauß
Im Jahre 1898, im Alter von 22 Jahren, verlässt der slowenische Schriftsteller Ivan Cankar das kleinstädtische Laibach und zieht nach Wien. Elf Jahre der Not und des Triumphes wird er bleiben, in der Arbeitervorstadt Ottakring wohnen und die moderne slowenische Literatur begründen. Cankar war der erste slowenische Schriftsteller, der das Schreiben auch als Beruf praktizierte, seine vielen Briefe kennen fast nur ein einziges Thema: das Geld. "Öfter hungrig als satt", vermochte sich das Kind kleiner Leute nie aus der Armut herauszuarbeiten. Und wiewohl er schon mit 35 Jahren als größter Dichter seiner Zeit verehrt wurde, hauste er zeitlebens in schäbigen Kammern zur Untermiete, in Hinterzimmern von Wirtshäusern, in düsteren Waldhütten. In einem dieser Quartiere des Elends wird er 1918 im Rausch die Treppe hinunterstürzen und sterben, gerade erst 42 Jahre alt: "Das Leben prügelte mich bis aufs Blut, ich aber feilte glatte Reime."
In so vielen Richtungen hat Cankar der slowenischen Literatur Neuland erobert, dass sich seither alle auf ihn berufen können: die sozialen Realisten, die Romantiker, die Symbolisten, die Aufrührer, selbst die Dandies. Vom Staatsfeind zum Pornografen, vom religiösen Schwärmer zum Gotteslästerer gab es nur wenige Schmähungen und Ehrentitel, die nicht auf ihn gemünzt wurden, und tatsächlich haben sie auch alle etwas für sich, so vielgestaltig ist das Werk dieses gehetzten Menschen, der früh um seine Bedeutung als klassischer Autor seiner kleinen Nation wusste.
Einen bedeutsamen Teil seines literarischen Werkes hat Cankar in Wien geschrieben. Tschechische Proletarier, slowakische Dienstmädchen, aus der Bahn geworfene Studenten vom Balkan sind die Helden seiner Wiener Prosa, und was er in Erzählungen, Feuilletons, Romanen, Skizzen und Impressionen zeigt, das ist die andere, die pechschwarze Seite der glänzenden Metropole. Unendlich fern ist das prächtige Wien, die Weltstadt des Fin de siècle, in der sich der Reichtum kulturell verfeinert und die Lebenslust ins Morbide läutert.
Liest man seine Wiener Geschichten, so wähnt man sich in einer ganz anderen Stadt unterwegs als in jener, deren welke Pracht ein Hofmannsthal rühmt, deren urbane Lebendigkeit ein Arthur Schnitzler präzise kartografiert. In der großen Sterbegeschichte "Nina", die jetzt, mit neunzigjähriger Verspätung, erstmals auch auf Deutsch zu lesen ist, heißt es von Wien, wo alle Gestalten Cankars zugrunde gehen, an der Schwindsucht verlöschen, im Alkohol ertrinken, in der Prostitution enden: "Die Gassen waren staubig, laut, voller Arbeiter, die aus den Fabriken kamen. Du erinnerst dich, wie wir tief gebeugt eilten, denn der Staub trieb uns direkt ins Gesicht. Wir hielten uns an der Hand und sahen zu Boden, und dennoch sahen wir die Menschen, die vorübergingen, und die hohen, finsteren Häuser, die auf uns starrten, die finstere Mauer unseres Kerkers. Und alle Frauen waren wie du . . . klein, ängstlich, krank . . . aus dem Dunkel geboren und sich ins Dunkel verzehrend. Und alle Männer waren wie ich . . . finster, misstrauisch, bei allem Ekel vor Sünde von Sünde besudelt, in Jauche watend, einen Fluch im Mund und im Herzen Verzweiflung. Wir gingen mitten unter ihnen."
Der Form nach ist "Nina" der innere Monolog eines Mannes, der sieben Nächte am Sterbelager eines Mädchens zubringt und sich in einer mitreißenden Suada wider das soziale Unrecht, die metaphysische Enttäuschung, die Herren der Welt und den abwesenden Gott empört. Die Zeitgenossen waren von der Vehemenz, mit der Cankar eine Lebensbeichte als Generalanklage anlegte, überfordert und haben auch die kunstvolle Komposition des kreisenden Monologs nicht erkannt.
Im Jahr 1909, drei Jahre nach der Großstadtgeschichte "Nina", erschien "Kurent", eine ganz anders geartete Erzählung, die ihren Stoff aus der slowenischen Volksmythologie holt und jetzt doch mit gutem Grund mit "Nina" zu einem Band vereint wurde. Das vereinende Element der beiden Erzählungen ist die Beschwörung der "Hrepenenje", der alles verzehrenden Sehnsucht, die in Cankars Bild vom Slowenentum immer wiederkehrt und noch heute im Selbstbild dieser verspäteten Nation eine Rolle spielt. Die "tausendjährige Sehnsucht nach Freiheit", von der in "Kurent" gesprochen wird, ist nur ein Moment dieser Sehnsucht, die Cankar mit geradezu betörenden Worten verklärt und dann doch mit unerbittlicher Schärfe analysiert. Es ist diese Sehnsucht, die den Menschen in seinem Leid und seiner Schwäche rechtfertigt, aber sie hat auch etwas gefährlich Selbstbezogenes und droht sich am Ende nur mehr mit sich selbst zu beschäftigen: "Das Herz lebt nicht mehr, es ahnt nur noch; die Augen sehen nicht mehr; sie träumen nur noch . . ."
Über dreißig Bände umfasst die Gesamtausgabe Cankars in slowenischer Sprache. Immerhin sechs Bände davon sind, von Erwin Köstler vorzüglich ediert, in den letzten Jahren im Drava-Verlag auch auf Deutsch erschienen. Es gibt also gar keine Ausrede mehr, diesen großen europäischen Dichter nicht zu kennen.
Ivan Cankar: "Nina. Kurent". Zwei Erzählungen. Aus dem Slowenischen übersetzt von Erwin Köstler und Kristina Kallert. Drava-Verlag, Klagenfurt/Celovec 1999. 256 S., geb., 38,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Die Rezensentin Ilma Rakusa stellt einen Band der neu übersetzten Werke Ivan Cankars vor. Jeder der neun ins Deutsche übertragenen Bände (die Originalausgabe zählt 30 Bände) beweist die "herausragende Bedeutung dieses Klassikers der slowenischen literarischen Moderne", rühmt die Rezensentin. Cankars Romane, Novellen und Erzählungen widmeten sich der Randgesellschaft vom Lande und der Stadt, wobei sie dem Pessimismus mit einer "unbändigen Sehnsucht" begegnen. Besonders einnehmend findet Rakusa die "poetische Diktion" Cankars, die "Höhen und Tiefen" vereinigt. In den besprochenen zwei Erzählungen "Nina" und "Kurent" trete diese Sprachkunst deutlich zutage. In "Kurent" gehe es um das "leidgeprüfte slowenische Volk", das in rettende "Morgenröten" hinausgeführt wird. Trotz solcher Thematik wirken die Texte Cankars nicht "ideologisch" oder "pathetisch", so Rakusa. Sie seien eher ein Beispiel dafür, wie die Utopie ihre Realisation im Text finden könne.
© Perlentaucher Medien GmbH
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