Nina ist jung, erfolgreich und intelligent. Sie ist selbstbewußt und desorientiert. Am Bett ihrer sterbenden Mutter schweifen ihre Gedanken ab und sie verliert sich in einer fast vergessenen Vergangenheit. Dort begegnet sie Frauen voller Leidenschaft, die ihr Leben und ihr Lieben der kargen Natur abtrotzten. Die alten Geschichten, an die sie sich erinnert, bruchstückhaft, verschwimmend, lassen Nina an ihrem Leben und an ihrer Selbstgewißheit zweifeln, und auf ihre sterbende Mutter blickend fragt sie sich: Was wird aus mir werden?
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.02.1999Kein Klößchen, kein Knödel
Frida Ø Sigurdardóttír rührt in der Familiensuppe
In diesem Roman werden wir mit Familiengeschichten traktiert. Dagegen läßt sich nichts Grundsätzliches einwenden, schließlich haben in Jahrtausenden, bis hinein in die Moderne, Erzähler ihren Stoff aus Sippenschicksalen gewonnen. Die Heimat der Romanautorin bot dafür von alters her Paradebeispiele: Frída Sigurdardóttiir, geboren 1940, ist Isländerin, also dort zu Hause, wo die Sagas blühten, die Mären vom Leben der Menschen in Europas Norden, Born auch für unser eigenes Literaturerbe, wofür, um nur ein Beispiel zu nennen, des Nibelungenliedes erster Teil zeugt.
So weit ins Überlieferte greift Sigurdardóttir allerdings nicht, ihre Heldin Nina lebt in unserem Jahrhundert der Technik sowie des Widerstreits von Kapitalismus und Sozialismus, was beides auch hinreichend zur Sprache kommt. Dennoch spielt die Gegenwart in Ninas Geschichte nicht die Hauptrolle: Keines von Ninas wesentlichen Problemen rührt aus der Moderne, sondern ein jedes davon aus Vergangenem. Der Autorenblick zurück umfaßt freilich nur wenige Generationen, reicht ungefähr bis zur letzten Jahrhundertwende, gewiß nicht bis zur Ära der Sagas.
Und doch greift jene raunende Urzeit in den Roman ein, zwar nicht als Handlungselement, aber deutlich als kompositorisches Prinzip. Soll heißen, daß die Ereignisse sich nicht bloß aus dem personengebundenen Tun und Lassen der Protagonisten rekrutieren, sondern daß durch die Buchseiten der Atem finsterer Asen weht. Es sieht so aus, als ob über allem, was sich zuträgt, ein kollektives Schicksal düstert, dem die Romanpersonen, was immer sie treiben, nicht entrinnen können.
Bringt man die Fabel auf den Punkt, so scheint sie einfach gestrickt. Die Heldin Nina sitzt am Sterbebett ihrer Mutter Thordis und grübelt, angeregt von einer durch die Zeiten vererbten Stola, über die Ahnfrauen, die mit jener Stola einst ihre Schultern wärmten: zunächst Thordis, vor ihr Großmutter Katrin, Urgroßmutter Solveig, Ururgroßmutter Sunneva. Rechnen wir der Aufzählung Ninas Tochter Sara hinzu - die freilich keine fabelfördernde Rolle spielt -, so begegnen uns insgesamt sechs Generationen Frauen einer Familie. Dazu kommen selbstverständlich auch diverse Vertreter der männlichen Spezies, Väter, Brüder, Söhne und andere Sippensprosse. Zum Glück ist dem Buchtext eine Ahnentafel vorangestellt, die dem Leser bei der Orientierung hilft. Denn um die Wahrheit zu sagen: Es ist eine Sisyphus-Aufgabe, sich durch den Dschungel der Sippenbeziehungen zu kämpfen, und Nina, die hauptsächlich das Wort und ansatzweise auch die Feder führt, macht es einem eben nicht leichter.
Die Autorin Sigurdardóttiir erlaubt ihr nämlich einen Erzählstil, der sich wesentlich aus widerstreitenden Gefühlen und Augenblickseinfällen nährt, also wenig Rücksicht nimmt auf ein Publikum, das für das Mitgeteilte nicht durch Vorwissen gerüstet ist. Nina selbst urteilt beim Durchlesen ihrer einschlägigen Notizen: "Alles bruchstückhaft, nicht systematisch geordnet, so und so und so, Fragment verschiedenster Art, willkürlich aneinandergereiht." So ist es, Gott sei's geklagt. Die Sterbebettwächterin bekennt: "Ich schlage nur die Zeit tot, mit alten Geschichten, Erinnerungen, allem, was mir durch den Kopf geht, während ich warte."
Nina ist der Autorin Geschöpf, aber oft genug könnte man glauben, es sei umgekehrt. Sigurdardóttir läßt sich von ihrer Heldin beherrschen, trägt erkennbar mit an deren Not - Attacken diverser Nachtmahre während der einsamen Wache neben der sterbenden Mutter - und verfällt solidarisch in das Stammeln, das aus unbewältigten Gefühlen herrührt. Das gilt übrigens nicht nur im Fall Nina. Alle vorgeführten Sippenfrauen machen ihr spezielles Drama durch; immer wird, sozusagen eingewickelt in das durch die Generationen wandernde Schultertuch, die Seelenlast der jeweiligen Tochter weitergereicht. In jedem Fall verschlägt das Mitempfinden der Autorin die Sprache. Immer muß der Leser das jeweils behandelte Frauenschicksal aus den Redesplittern zusammensetzen, die Nina von sich gibt oder den Sippenmitgliedern zuordnet.
Aus dem sippenspezifischen Stammeln erfahren wir, daß Sunneva inmitten tradierter Armutsstrenge den Mut zum abenteuerlichen Ehebruch hatte; daß das vermutliche Sündkind Solveig ihre Gefühle und sich selbst im Schnee begrub; daß Solveigs Tochter Katrin wie auch Katrins Tochter Thordis frauliche Leidenschaft gegen die isländische Kargheit setzten. Am Ende tut die Enkelin Nina es ihnen gleich. Deren Eskapaden jedoch fehlt der wabernde Schicksalsschleier, der bei den Vormüttern die Schritte vom Wege dramatisch anhaucht. Was sie unternimmt, scheint banal, Liebes- oder Ehegeschichte aus dem Dutzend. Woran liegt das?
Weniger an Ninas Unternehmungen oder Unterlassungen, die wiegen eigentlich nicht leichter als das, was die Vormütter taten oder zu tun sich weigerten. Es liegt eher daran, daß sich der Tochter des späten zwanzigsten Jahrhunderts die dekorative Wirkung sagaträchtiger Darstellung versagt. Wenn Sigurdardóttiir auf Gegenwärtiges zu sprechen kommt, tritt das Rationale in den Vordergrund, verhallt das uralte Raunen. Nur selten läßt die tradierte Dramatik auch Ninas Anfechtungen bedeutend erscheinen, meist aber verdrießen sie durch fade Beliebigkeit.
Das weckt den Verdacht, die Unternehmungen von Sunneva, Solveig, Katrin, Thordis und so weiter hätten genauso unbefriedigend wirken können, wären sie ohne archaisierende Kniffe dargeboten worden. So viel steht fest, daß eine Familiengeschichte Familienfremde nur dann zu interessieren vermag, wenn sie irgendeine allgemeine Botschaft enthält. Oder wenn sie, auf welche Weise immer, dergleichen zumindest glauben machen kann. Die Autorin Sigurdardóttiir hat schon gewußt, warum sie ihre Nina nicht frei von der Leber weg, sondern aus gepreßter Kehle von der Vergangenheit erzählen ließ, die Bekenntnisfetzen gebündelt in einer rätselhaften "Kraft", die alle Worte "zusammenfügt, den Saft aus ihnen herauspreßt, bis es zur Verschmelzung kommt, dieser unerklärlichen Verschmelzung, die alles verwandelt". Nina, wir haben es nocht nicht erwähnt, ist Reklameexpertin mit eigener PR-Firma, weiß also, was zu tun ist, um die Empfänglichkeit andere Leute zu aktivieren. Ihre Schöpferin weiß es auch. SABINE BRANDT
Frída Á. Sigurdardóttír: "Ninas Geschichte". Roman. Aus dem Isländischen übersetzt von Ingolf Kasper und Hubert Seelow. Steidl Verlag, Göttingen 1998. 253 S., geb., 28,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Frida Ø Sigurdardóttír rührt in der Familiensuppe
In diesem Roman werden wir mit Familiengeschichten traktiert. Dagegen läßt sich nichts Grundsätzliches einwenden, schließlich haben in Jahrtausenden, bis hinein in die Moderne, Erzähler ihren Stoff aus Sippenschicksalen gewonnen. Die Heimat der Romanautorin bot dafür von alters her Paradebeispiele: Frída Sigurdardóttiir, geboren 1940, ist Isländerin, also dort zu Hause, wo die Sagas blühten, die Mären vom Leben der Menschen in Europas Norden, Born auch für unser eigenes Literaturerbe, wofür, um nur ein Beispiel zu nennen, des Nibelungenliedes erster Teil zeugt.
So weit ins Überlieferte greift Sigurdardóttir allerdings nicht, ihre Heldin Nina lebt in unserem Jahrhundert der Technik sowie des Widerstreits von Kapitalismus und Sozialismus, was beides auch hinreichend zur Sprache kommt. Dennoch spielt die Gegenwart in Ninas Geschichte nicht die Hauptrolle: Keines von Ninas wesentlichen Problemen rührt aus der Moderne, sondern ein jedes davon aus Vergangenem. Der Autorenblick zurück umfaßt freilich nur wenige Generationen, reicht ungefähr bis zur letzten Jahrhundertwende, gewiß nicht bis zur Ära der Sagas.
Und doch greift jene raunende Urzeit in den Roman ein, zwar nicht als Handlungselement, aber deutlich als kompositorisches Prinzip. Soll heißen, daß die Ereignisse sich nicht bloß aus dem personengebundenen Tun und Lassen der Protagonisten rekrutieren, sondern daß durch die Buchseiten der Atem finsterer Asen weht. Es sieht so aus, als ob über allem, was sich zuträgt, ein kollektives Schicksal düstert, dem die Romanpersonen, was immer sie treiben, nicht entrinnen können.
Bringt man die Fabel auf den Punkt, so scheint sie einfach gestrickt. Die Heldin Nina sitzt am Sterbebett ihrer Mutter Thordis und grübelt, angeregt von einer durch die Zeiten vererbten Stola, über die Ahnfrauen, die mit jener Stola einst ihre Schultern wärmten: zunächst Thordis, vor ihr Großmutter Katrin, Urgroßmutter Solveig, Ururgroßmutter Sunneva. Rechnen wir der Aufzählung Ninas Tochter Sara hinzu - die freilich keine fabelfördernde Rolle spielt -, so begegnen uns insgesamt sechs Generationen Frauen einer Familie. Dazu kommen selbstverständlich auch diverse Vertreter der männlichen Spezies, Väter, Brüder, Söhne und andere Sippensprosse. Zum Glück ist dem Buchtext eine Ahnentafel vorangestellt, die dem Leser bei der Orientierung hilft. Denn um die Wahrheit zu sagen: Es ist eine Sisyphus-Aufgabe, sich durch den Dschungel der Sippenbeziehungen zu kämpfen, und Nina, die hauptsächlich das Wort und ansatzweise auch die Feder führt, macht es einem eben nicht leichter.
Die Autorin Sigurdardóttiir erlaubt ihr nämlich einen Erzählstil, der sich wesentlich aus widerstreitenden Gefühlen und Augenblickseinfällen nährt, also wenig Rücksicht nimmt auf ein Publikum, das für das Mitgeteilte nicht durch Vorwissen gerüstet ist. Nina selbst urteilt beim Durchlesen ihrer einschlägigen Notizen: "Alles bruchstückhaft, nicht systematisch geordnet, so und so und so, Fragment verschiedenster Art, willkürlich aneinandergereiht." So ist es, Gott sei's geklagt. Die Sterbebettwächterin bekennt: "Ich schlage nur die Zeit tot, mit alten Geschichten, Erinnerungen, allem, was mir durch den Kopf geht, während ich warte."
Nina ist der Autorin Geschöpf, aber oft genug könnte man glauben, es sei umgekehrt. Sigurdardóttir läßt sich von ihrer Heldin beherrschen, trägt erkennbar mit an deren Not - Attacken diverser Nachtmahre während der einsamen Wache neben der sterbenden Mutter - und verfällt solidarisch in das Stammeln, das aus unbewältigten Gefühlen herrührt. Das gilt übrigens nicht nur im Fall Nina. Alle vorgeführten Sippenfrauen machen ihr spezielles Drama durch; immer wird, sozusagen eingewickelt in das durch die Generationen wandernde Schultertuch, die Seelenlast der jeweiligen Tochter weitergereicht. In jedem Fall verschlägt das Mitempfinden der Autorin die Sprache. Immer muß der Leser das jeweils behandelte Frauenschicksal aus den Redesplittern zusammensetzen, die Nina von sich gibt oder den Sippenmitgliedern zuordnet.
Aus dem sippenspezifischen Stammeln erfahren wir, daß Sunneva inmitten tradierter Armutsstrenge den Mut zum abenteuerlichen Ehebruch hatte; daß das vermutliche Sündkind Solveig ihre Gefühle und sich selbst im Schnee begrub; daß Solveigs Tochter Katrin wie auch Katrins Tochter Thordis frauliche Leidenschaft gegen die isländische Kargheit setzten. Am Ende tut die Enkelin Nina es ihnen gleich. Deren Eskapaden jedoch fehlt der wabernde Schicksalsschleier, der bei den Vormüttern die Schritte vom Wege dramatisch anhaucht. Was sie unternimmt, scheint banal, Liebes- oder Ehegeschichte aus dem Dutzend. Woran liegt das?
Weniger an Ninas Unternehmungen oder Unterlassungen, die wiegen eigentlich nicht leichter als das, was die Vormütter taten oder zu tun sich weigerten. Es liegt eher daran, daß sich der Tochter des späten zwanzigsten Jahrhunderts die dekorative Wirkung sagaträchtiger Darstellung versagt. Wenn Sigurdardóttiir auf Gegenwärtiges zu sprechen kommt, tritt das Rationale in den Vordergrund, verhallt das uralte Raunen. Nur selten läßt die tradierte Dramatik auch Ninas Anfechtungen bedeutend erscheinen, meist aber verdrießen sie durch fade Beliebigkeit.
Das weckt den Verdacht, die Unternehmungen von Sunneva, Solveig, Katrin, Thordis und so weiter hätten genauso unbefriedigend wirken können, wären sie ohne archaisierende Kniffe dargeboten worden. So viel steht fest, daß eine Familiengeschichte Familienfremde nur dann zu interessieren vermag, wenn sie irgendeine allgemeine Botschaft enthält. Oder wenn sie, auf welche Weise immer, dergleichen zumindest glauben machen kann. Die Autorin Sigurdardóttiir hat schon gewußt, warum sie ihre Nina nicht frei von der Leber weg, sondern aus gepreßter Kehle von der Vergangenheit erzählen ließ, die Bekenntnisfetzen gebündelt in einer rätselhaften "Kraft", die alle Worte "zusammenfügt, den Saft aus ihnen herauspreßt, bis es zur Verschmelzung kommt, dieser unerklärlichen Verschmelzung, die alles verwandelt". Nina, wir haben es nocht nicht erwähnt, ist Reklameexpertin mit eigener PR-Firma, weiß also, was zu tun ist, um die Empfänglichkeit andere Leute zu aktivieren. Ihre Schöpferin weiß es auch. SABINE BRANDT
Frída Á. Sigurdardóttír: "Ninas Geschichte". Roman. Aus dem Isländischen übersetzt von Ingolf Kasper und Hubert Seelow. Steidl Verlag, Göttingen 1998. 253 S., geb., 28,- DM.
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