Ben Lerner ist einer der klügsten und innovativsten amerikanischen Dichter der Gegenwart. No Art zeigt das breite Spektrum lyrischer Formate, das Lerner beherrscht und fortwährend weiterentwickelt: das zerstörte Sonett, das poetische Denkbild, die gestisch verschobene Elegie, die Rekombination und Variation von Reden und sprachlichen Gesten über den einzelnen Text hinaus. Wiederkehrende Themenbereiche, Vertextungsverfahren und sprachliche Referenzsysteme werden sichtbar, an erster Stelle eine doppelte Auseinandersetzung: mit der kulturellen und politischen Gegenwart der Vereinigten Staaten und der Frage, wie sich denkend und sprechend darauf zugreifen lässt. Alexander Kluge bescheinigt Lerners Gedichten »einen völlig autonomen Duktus und Rhythmus« und schreibt in seinem Vorwort: »Zugleich finden sich in dieser Strömung von Worten blitzartig hochkonzentrierte Funken an Information, an Witz und inhaltlicher Präzision. So treffen hier Ideale der Kritischen Theorie (...) mit einer gediegenen New Yorker Modernität zusammen.«
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Andreas Platthaus ist ein Enthusiast, wenn es um die Lyrik von Ben Lerner geht. Daher zeigt er sich enttäuscht von Steffen Popps Übersetzungen in diesem Sammelband, der Lerners lyrisches Schaffen abzubilden versucht. Platthaus vermisst in den "inhaltlich linearen" Übertragungen so ziemlich alles, was Lerners Dichtkunst ausmacht: ein geradezu erotisches Verständnis von Dichtung, das sich in einem besonderen Formbewusstsein niederschlägt, wie Platthaus erklärt, in Rhythmus, Assonanz, Pathos. Nur gut, dass sich die Originalfassungen im Band befinden. Der "Vermittlungserfolg" ist hier ein dialektischer, meint Platthaus.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.05.2021Hinter Gitter
gerettet
„Warum hassen wir Lyrik?“, fragt Ben Lerner. Auf die
Theorie folgt die Praxis: seine gesammelten Gedichte
VON INSA WILKE
Als Barack Obama sich zu seiner ersten Amtseinführung ein Gedicht von Elisabeth Alexander wünschte, kommentierte das der politische Journalist George Packer im New Yorker: Der designierte Präsident möge doch von seiner Idee Abstand nehmen, denn Alexanders Gedichte zeigten die fatalen Eigenschaften der zeitgenössischen amerikanischen Lyrik, „eine Bestimmtheit, die persönlich und wenig welthaltig ist, mit Bewegungen hin zum Allgemeinen, die gehemmt akademisch sind.“ Auch wenn Packer bis dahin nicht durch ausschweifende Lyriklektüren aufgefallen war, stimmt ihm der Dichter Ben Lerner zu: „Das fatale Problem bei der Dichtkunst: Gedichte.“
„Warum hassen wir die Lyrik?“, fragt Ben Lerner in seinem fies dialektisch gedachten Essay. George Packer muss da für den „nostalgischen“ Gedichthasser herhalten, der glaubt: Früher gab es doch den Dichter, der „durch die Magie von Sprache und Prosodie“ ein individuelles Ich schaffen konnte, das zugleich die Masse repräsentiert und für alle spricht.
So naiv diese Vorstellung sei, so brachial findet Lerner die Avantgardisten, die das Gedicht als „imaginäre Bombe mit echtem Schrapnell“ denken, damit es die Dichtkunst sprenge und in die zukünftige Geschichte eindringe. Lerners lakonische Entgegnung an beide Lager: Ein Gedicht bleibe ein Gedicht. Es könne nicht für alle sprechen und eigne sich, eingeschlossen in den Sperrbezirk der Kunst, nicht als revolutionäre Waffe. Das konkrete Gedicht sei immer nur das „Echo einer dichterischen Möglichkeit“, also stets elegisch.
Ben Lerner ist in Deutschland im vergangenen Jahr mit seinem dritten Roman „Die Topeka-Schule“ bekannter geworden. Er analysiert da mit literarischen Mitteln die Pathologien öffentlichen Sprechens und beschreibt, wie die kollektive Psyche unter ihnen zusammenbricht. Vor dem Hintergrund der Wahlen in den USA zog er damit auch hierzulande großes Interesse auf sich. Mit der Neuauflage seines Essays flankiert der Suhrkamp-Verlag jetzt die elegant ausgestattete zweisprachige Gesamtausgabe von Ben Lerners Gedichten. Sie zeigt, wie Lerner sich in der lyrischen Praxis mit Fragen des persönlichen Ausdrucks und des allgemeinen Anspruchs, der poetologischen Reflexion und des politischen Bezugs auseinandersetzt.
Unter dem Titel „No Art“ versammelt die deutsche Fassung die Gedichtbände „Die Lichtenbergfiguren“, „Scherwinkel“ und „Mittlerer freier Weg“. Alle Titel beziehen sich auf physikalische Phänomene und erklären sie zum poetischen Verfahren. Alle wurden von dem Dichter und Schriftsteller Steffen Popp übersetzt, der jüngste in Zusammenarbeit mit Monika Rinck. Gerahmt ist das Ganze von zwei programmatischen Gedichten, von denen das Schlussgedicht dem Band den Titel gibt, sowie einem zum Vorwort umgebauten Auszug aus „Schnee über Venedig“, einer Kollaboration zwischen Alexander Kluge und Ben Lerner aus dem Jahr 2018. Sein Vorwort nennt Kluge „Konstellationen“ und greift damit Lerners Art zu arbeiten auf: „Well, patterning more than plotting is how I think“, erklärt Lerner im Interview mit The Yale Review.
Das kann man wohl sagen. Am deutlichsten wird Lerners Eigenart, in Mustern und Strukturen und nicht in Plänen und Linien zu denken, in „Die Lichtenbergfiguren“, dem nach wie vor herausragenden Debütband. Lichtenbergfiguren nennt man nach ihrem Entdecker Georg Christoph Lichtenberg die Muster, die Hochspannungsentladungen hinterlassen. Etwa auf der Haut von Blitzschlagopfern.
Steffen Popp erklärt es im Nachwort, das auch sehr gut in die Schwierigkeiten der Übersetzung einführt. In einem online veröffentlichten Arbeitsjournal beschreibt er, wie Lerner die Gewalt des Blitzschlags in ein poetisches Verfahren transformiert: „Man schaut in den Maschinenraum des Sonetts, dessen beliebte Nutzeroberflächen entfernt wurden. Teilweise wurden die Maschinen selbst ausgeräumt, nur noch Teile von ihnen stehen herum, mit neuen Maschinen zusammengeschaltet, und über Resten alter Nutzeroberflächen spannen sich neue, wie Solarpanels und Carbonfasern über gesprengten Eichenholzbalken und Stahlträgern.“ Das kann dann so schräg klingen: „Liebling, meine bevorzugte natürliche Abstraktion ist der Baum / gedenke also, wenn du vom Highway aus einen siehst, / des Ablativs, jener lateinischen Kiste, in der ich die Tilde / deines Namens aufbewahre.“
Wenn Ben Lerner auf diese Weise Fachbegriffe theoretischer Disziplinen, Alltagssprache und kulturelle Verweise miteinander kurzschließt, wenn er Bilder zertrümmert und neu kombiniert, fallen umso mehr die stillen Momente in diesen Referenzgewittern auf: „Angesichts der Natur des Mannes füllen Frauen Schnee in Gläser für den Sommer“. Hockt dieses Bild nicht im Gedicht wie in einem faradayschen Käfig, während die Abstraktionen um es herumtoben? Hinter Gittern gerettet, sozusagen? Ist es nicht so, dass Ben Lerner den Nebel seines Intellektualismus verströmt, um klassische Motive der Dichtung in dessen Schutz zu bergen? Man möchte fast sagen: Nicht nur Motive der Dichtung, sondern der menschlichen Existenz.
„Nacht, / Schlaf, Tod und / die Sterne“ werden im Eingangsgedicht „Verzeichnis der Themen“ abgeräumt und doch aufgerufen, einem Gedicht, das seine Verse um eine visuell deutlich markierte vertikale Achse anordnet, als wären zwei Texte durch ein Scharnier ineinander verhakt worden. Eines, das vom Gedicht spricht und eines, das von der Liebe spricht. „Kollektive Verzweiflung in Ich-Sätzen formuliert“, angesichts von Traditionen, die nichts mehr meinen und die keine Wärme mehr erzeugen können. Aber ohne Wärme – was ist dann noch das Gedicht und wer sein Autor, wer seine Leserin?
An einer Stelle in seinem „Passagenwerk“ wundert sich Walter Benjamin darüber, dass die Menschen sich für das banalste aller Gespräche auf ein für sie so existenzielles Phänomen geeinigt haben: das Wetter. „Wie schön“, schreibt Benjamin, „die ironische Verbindung dieses Verhaltens in der Geschichte vom spleenigen Engländer, der eines morgens aufwacht und sich erschießt, weil es regnet.“ Die Ambivalenz der Anekdote ist klar: Gespräche über das Wetter schützen davor, sich der Unerbittlichkeit zu stellen, mit der wir den kosmischen Kräften ausgeliefert sind. Es hat aber zugleich etwas äußerst Gewaltsames, wie auf diese Weise Realität geleugnet wird.
Was Benjamin das Wetter, ist Lerner die Sprache. Das Gedicht als Gespräch über das Wetter und das Gespräch über das Wetter als faradayscher Käfig, der rettet, aber auch verhindert, dass man sich den Bedingungen seiner Existenz aussetzt. Der Titel des ganzen Bandes „No Art“ ist also vielleicht eher Wunsch als Behauptung. Der Wunsch, aus dem Käfig heraustreten zu können und dem Wissen, dass dies unmöglich ist: „ich sehe mich als Teil eines Volks, / eines kleinen Volks, in einem / gescheiterten Staat, und in Liebe // mehr Avantgarde als Scham“.
Da haben wir ihn: den elegischen Gestus. Er meint nichts Vergangenes, sondern das Gedicht als „Figur seiner Unmöglichkeit“. Das schwingt mit, wenn der zweite Band „Scherwinkel“ mit dem ironisch unironischen Ausruf endet: „Leute, um Himmels willen. Öffnet eure Herzen.“ Es schwingt mit, wenn Lerner nationale Mythen infrage stellt und in dem langen Gedicht „Didaktische Elegie“, das sich mit 9/11 auseinandersetzt, zu dem Schluss kommt, nur Bedeutungsverweigerung könne dieses Ereignis „mit Liebe auslegen“, also trauernd auf die Gewalt reagieren. Und es schwingt mit, wenn Ben Lerner auch in seinen Gedichten den Wandel öffentlicher Rede kritisiert und deren rhetorische Bewegungen innerhalb festgefügter Prosaquader ins Schlingern bringt: „Wir sagen, dass sich vertikal arrangierte Texte an die Öffentlichkeit wenden, während sie in Wirklichkeit, außerstande, uns die Demut zu vermitteln, die für ein Gemeinleben nötig ist, eine narzisstische Menge versammeln.“
Wie Ben Lerner mit seinen lyrischen „Strukturerfahrungen“ sein poetologisches, aber eben auch ein gesellschaftliches Dilemma vorführt, und wie Steffen Popp auch in seiner Zusammenarbeit mit Monika Rinck für diese entschiedenen Gedichte im Deutschen ebenso entschiedene Entsprechungen gefunden hat, macht Eindruck. Die Vorstellung vom Gedicht als magische Pille, die alles ändert, davon hält Ben Lerner nichts. In der Literatur könne man von einer solchen Sprache nur träumen. Auch das Universelle sei eine Fantasie, zitiert Lerner in seinem Essay eine Aussage der Dichterin Claudia Rankine. Aufgehoben, als Negativ, ist es aber im Gedicht, in dem Käfig, der dich rettet, aus dem du aber nicht heraustreten kannst.
Der Übersetzer zeigt, wie Lerner
die Gewalt des Blitzschlags in ein
poetisches Verfahren verwandelt
Ironisch unironischer
Ausruf: „Leute, um Himmels
willen. Öffnet eure Herzen.“
„Lichtenbergfiguren“ heißen diese Muster, die bei der Entladung hoher Spannungen entstehen. Und ein Gedichtband von Ben Lerner heißt so.
Foto: Edward Kinsman/mauritius/Science Source
Ben Lerner: No Art.
Poems. Gedichte. Aus dem amerikanischen Englisch von Steffen Popp in
Zusammenarbeit mit Monika Rinck.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021, 512 Seiten, 34 Euro.
Ben Lerner: Warum hassen wir die Lyrik? Essay. Aus dem amerikanischen Englisch von Nikolaus Stingl. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021, 100 Seiten, 14 Euro.
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gerettet
„Warum hassen wir Lyrik?“, fragt Ben Lerner. Auf die
Theorie folgt die Praxis: seine gesammelten Gedichte
VON INSA WILKE
Als Barack Obama sich zu seiner ersten Amtseinführung ein Gedicht von Elisabeth Alexander wünschte, kommentierte das der politische Journalist George Packer im New Yorker: Der designierte Präsident möge doch von seiner Idee Abstand nehmen, denn Alexanders Gedichte zeigten die fatalen Eigenschaften der zeitgenössischen amerikanischen Lyrik, „eine Bestimmtheit, die persönlich und wenig welthaltig ist, mit Bewegungen hin zum Allgemeinen, die gehemmt akademisch sind.“ Auch wenn Packer bis dahin nicht durch ausschweifende Lyriklektüren aufgefallen war, stimmt ihm der Dichter Ben Lerner zu: „Das fatale Problem bei der Dichtkunst: Gedichte.“
„Warum hassen wir die Lyrik?“, fragt Ben Lerner in seinem fies dialektisch gedachten Essay. George Packer muss da für den „nostalgischen“ Gedichthasser herhalten, der glaubt: Früher gab es doch den Dichter, der „durch die Magie von Sprache und Prosodie“ ein individuelles Ich schaffen konnte, das zugleich die Masse repräsentiert und für alle spricht.
So naiv diese Vorstellung sei, so brachial findet Lerner die Avantgardisten, die das Gedicht als „imaginäre Bombe mit echtem Schrapnell“ denken, damit es die Dichtkunst sprenge und in die zukünftige Geschichte eindringe. Lerners lakonische Entgegnung an beide Lager: Ein Gedicht bleibe ein Gedicht. Es könne nicht für alle sprechen und eigne sich, eingeschlossen in den Sperrbezirk der Kunst, nicht als revolutionäre Waffe. Das konkrete Gedicht sei immer nur das „Echo einer dichterischen Möglichkeit“, also stets elegisch.
Ben Lerner ist in Deutschland im vergangenen Jahr mit seinem dritten Roman „Die Topeka-Schule“ bekannter geworden. Er analysiert da mit literarischen Mitteln die Pathologien öffentlichen Sprechens und beschreibt, wie die kollektive Psyche unter ihnen zusammenbricht. Vor dem Hintergrund der Wahlen in den USA zog er damit auch hierzulande großes Interesse auf sich. Mit der Neuauflage seines Essays flankiert der Suhrkamp-Verlag jetzt die elegant ausgestattete zweisprachige Gesamtausgabe von Ben Lerners Gedichten. Sie zeigt, wie Lerner sich in der lyrischen Praxis mit Fragen des persönlichen Ausdrucks und des allgemeinen Anspruchs, der poetologischen Reflexion und des politischen Bezugs auseinandersetzt.
Unter dem Titel „No Art“ versammelt die deutsche Fassung die Gedichtbände „Die Lichtenbergfiguren“, „Scherwinkel“ und „Mittlerer freier Weg“. Alle Titel beziehen sich auf physikalische Phänomene und erklären sie zum poetischen Verfahren. Alle wurden von dem Dichter und Schriftsteller Steffen Popp übersetzt, der jüngste in Zusammenarbeit mit Monika Rinck. Gerahmt ist das Ganze von zwei programmatischen Gedichten, von denen das Schlussgedicht dem Band den Titel gibt, sowie einem zum Vorwort umgebauten Auszug aus „Schnee über Venedig“, einer Kollaboration zwischen Alexander Kluge und Ben Lerner aus dem Jahr 2018. Sein Vorwort nennt Kluge „Konstellationen“ und greift damit Lerners Art zu arbeiten auf: „Well, patterning more than plotting is how I think“, erklärt Lerner im Interview mit The Yale Review.
Das kann man wohl sagen. Am deutlichsten wird Lerners Eigenart, in Mustern und Strukturen und nicht in Plänen und Linien zu denken, in „Die Lichtenbergfiguren“, dem nach wie vor herausragenden Debütband. Lichtenbergfiguren nennt man nach ihrem Entdecker Georg Christoph Lichtenberg die Muster, die Hochspannungsentladungen hinterlassen. Etwa auf der Haut von Blitzschlagopfern.
Steffen Popp erklärt es im Nachwort, das auch sehr gut in die Schwierigkeiten der Übersetzung einführt. In einem online veröffentlichten Arbeitsjournal beschreibt er, wie Lerner die Gewalt des Blitzschlags in ein poetisches Verfahren transformiert: „Man schaut in den Maschinenraum des Sonetts, dessen beliebte Nutzeroberflächen entfernt wurden. Teilweise wurden die Maschinen selbst ausgeräumt, nur noch Teile von ihnen stehen herum, mit neuen Maschinen zusammengeschaltet, und über Resten alter Nutzeroberflächen spannen sich neue, wie Solarpanels und Carbonfasern über gesprengten Eichenholzbalken und Stahlträgern.“ Das kann dann so schräg klingen: „Liebling, meine bevorzugte natürliche Abstraktion ist der Baum / gedenke also, wenn du vom Highway aus einen siehst, / des Ablativs, jener lateinischen Kiste, in der ich die Tilde / deines Namens aufbewahre.“
Wenn Ben Lerner auf diese Weise Fachbegriffe theoretischer Disziplinen, Alltagssprache und kulturelle Verweise miteinander kurzschließt, wenn er Bilder zertrümmert und neu kombiniert, fallen umso mehr die stillen Momente in diesen Referenzgewittern auf: „Angesichts der Natur des Mannes füllen Frauen Schnee in Gläser für den Sommer“. Hockt dieses Bild nicht im Gedicht wie in einem faradayschen Käfig, während die Abstraktionen um es herumtoben? Hinter Gittern gerettet, sozusagen? Ist es nicht so, dass Ben Lerner den Nebel seines Intellektualismus verströmt, um klassische Motive der Dichtung in dessen Schutz zu bergen? Man möchte fast sagen: Nicht nur Motive der Dichtung, sondern der menschlichen Existenz.
„Nacht, / Schlaf, Tod und / die Sterne“ werden im Eingangsgedicht „Verzeichnis der Themen“ abgeräumt und doch aufgerufen, einem Gedicht, das seine Verse um eine visuell deutlich markierte vertikale Achse anordnet, als wären zwei Texte durch ein Scharnier ineinander verhakt worden. Eines, das vom Gedicht spricht und eines, das von der Liebe spricht. „Kollektive Verzweiflung in Ich-Sätzen formuliert“, angesichts von Traditionen, die nichts mehr meinen und die keine Wärme mehr erzeugen können. Aber ohne Wärme – was ist dann noch das Gedicht und wer sein Autor, wer seine Leserin?
An einer Stelle in seinem „Passagenwerk“ wundert sich Walter Benjamin darüber, dass die Menschen sich für das banalste aller Gespräche auf ein für sie so existenzielles Phänomen geeinigt haben: das Wetter. „Wie schön“, schreibt Benjamin, „die ironische Verbindung dieses Verhaltens in der Geschichte vom spleenigen Engländer, der eines morgens aufwacht und sich erschießt, weil es regnet.“ Die Ambivalenz der Anekdote ist klar: Gespräche über das Wetter schützen davor, sich der Unerbittlichkeit zu stellen, mit der wir den kosmischen Kräften ausgeliefert sind. Es hat aber zugleich etwas äußerst Gewaltsames, wie auf diese Weise Realität geleugnet wird.
Was Benjamin das Wetter, ist Lerner die Sprache. Das Gedicht als Gespräch über das Wetter und das Gespräch über das Wetter als faradayscher Käfig, der rettet, aber auch verhindert, dass man sich den Bedingungen seiner Existenz aussetzt. Der Titel des ganzen Bandes „No Art“ ist also vielleicht eher Wunsch als Behauptung. Der Wunsch, aus dem Käfig heraustreten zu können und dem Wissen, dass dies unmöglich ist: „ich sehe mich als Teil eines Volks, / eines kleinen Volks, in einem / gescheiterten Staat, und in Liebe // mehr Avantgarde als Scham“.
Da haben wir ihn: den elegischen Gestus. Er meint nichts Vergangenes, sondern das Gedicht als „Figur seiner Unmöglichkeit“. Das schwingt mit, wenn der zweite Band „Scherwinkel“ mit dem ironisch unironischen Ausruf endet: „Leute, um Himmels willen. Öffnet eure Herzen.“ Es schwingt mit, wenn Lerner nationale Mythen infrage stellt und in dem langen Gedicht „Didaktische Elegie“, das sich mit 9/11 auseinandersetzt, zu dem Schluss kommt, nur Bedeutungsverweigerung könne dieses Ereignis „mit Liebe auslegen“, also trauernd auf die Gewalt reagieren. Und es schwingt mit, wenn Ben Lerner auch in seinen Gedichten den Wandel öffentlicher Rede kritisiert und deren rhetorische Bewegungen innerhalb festgefügter Prosaquader ins Schlingern bringt: „Wir sagen, dass sich vertikal arrangierte Texte an die Öffentlichkeit wenden, während sie in Wirklichkeit, außerstande, uns die Demut zu vermitteln, die für ein Gemeinleben nötig ist, eine narzisstische Menge versammeln.“
Wie Ben Lerner mit seinen lyrischen „Strukturerfahrungen“ sein poetologisches, aber eben auch ein gesellschaftliches Dilemma vorführt, und wie Steffen Popp auch in seiner Zusammenarbeit mit Monika Rinck für diese entschiedenen Gedichte im Deutschen ebenso entschiedene Entsprechungen gefunden hat, macht Eindruck. Die Vorstellung vom Gedicht als magische Pille, die alles ändert, davon hält Ben Lerner nichts. In der Literatur könne man von einer solchen Sprache nur träumen. Auch das Universelle sei eine Fantasie, zitiert Lerner in seinem Essay eine Aussage der Dichterin Claudia Rankine. Aufgehoben, als Negativ, ist es aber im Gedicht, in dem Käfig, der dich rettet, aus dem du aber nicht heraustreten kannst.
Der Übersetzer zeigt, wie Lerner
die Gewalt des Blitzschlags in ein
poetisches Verfahren verwandelt
Ironisch unironischer
Ausruf: „Leute, um Himmels
willen. Öffnet eure Herzen.“
„Lichtenbergfiguren“ heißen diese Muster, die bei der Entladung hoher Spannungen entstehen. Und ein Gedichtband von Ben Lerner heißt so.
Foto: Edward Kinsman/mauritius/Science Source
Ben Lerner: No Art.
Poems. Gedichte. Aus dem amerikanischen Englisch von Steffen Popp in
Zusammenarbeit mit Monika Rinck.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021, 512 Seiten, 34 Euro.
Ben Lerner: Warum hassen wir die Lyrik? Essay. Aus dem amerikanischen Englisch von Nikolaus Stingl. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021, 100 Seiten, 14 Euro.
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»Lerners Gedichte sind genial ...« Anne-Sophie Balzer Berliner Zeitung 20210620