Es gibt keine Grenzen mehr: Das glaubt man jedenfalls am Beginn der Neunzigerjahre. Die Berliner Mauer fällt, die Welt rückt zusammen, und sie vernetzt sich. Die ersten Knoten des World Wide Web werden geknüpft, die ersten Suchmaschinen programmiert. In Berlin wird Techno zum Soundtrack der Wiedervereinigung, Neonfarben beherrschen das Bild, Piercings und Tätowierungen erobern den Mainstream, das Arschgeweih gerät zum stilistischen Symbol der Dekade. Aber unter der heiteren Oberfläche brechen alte Konflikte auf, Gespenster aus der Vergangenheit kehren zurück. Im Osten Deutschlands, aber nicht nur dort, entsteht eine rechte Jugendkultur bislang ungekannten Ausmaßes. Im zerfallenden Jugoslawien geschieht das Unfassbare: der erste Krieg in Europa seit 1945. Der politische Islam wird zur globalen Bedrohung, und das lange Jahrzehnt endet am 11. September 2001 mit dem Anschlag auf das World Trade Center, das auch ein Symbol der spielerischen, globalisierten Postmoderne gewesen ist.
In einem großen, farbigen Panorama erzählt Jens Balzer von einem Jahrzehnt, in dem man an die Zukunft glaubte und ans «anything goes» - und in dem doch auch ein neues Zeitalter der Grenzen, der Identitäten und der Kämpfe beginnt.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
In einem großen, farbigen Panorama erzählt Jens Balzer von einem Jahrzehnt, in dem man an die Zukunft glaubte und ans «anything goes» - und in dem doch auch ein neues Zeitalter der Grenzen, der Identitäten und der Kämpfe beginnt.
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Tristesse mit Arschgeweih
Der Pop-Historiker Jens Balzer sieht sich die Irrungen und Wirrungen der Neunziger noch einmal an
Haben wir die Postmoderne jetzt eigentlich schon überstanden oder sind wir noch mittendrin oder wie oder was? Der Autor Jens Balzer hat da einen klaren Standpunkt: „In den Neunzigern kommt die Postmoderne zu ihrer Vollendung. Aber sie gelangt auch an ihr Ende“, schreibt er, „und ein neues Zeitalter der Grenzen, der Identitäten und der Kämpfe zwischen ihnen beginnt.“ Und von hier aus, mit post-postmodernem Blick, will sich Balzer in seinem neuen Buch „No Limit: Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit“ eben dieser Freiheit widmen, genauer gesagt der „Dialektik der Freiheit in diesem Jahrzehnt“.
Das tut er vor allem, indem er unermüdlich Details aus diesen zehn Jahren zusammenträgt. „No Limit“ ist – wie Balzers vorherige Bücher über die Siebziger („Das entfesselte Jahrzehnt“) und die Achtziger („High Energy“) eine gründliche, umfassende (pop-)kulturelle Rückschau. So wenig wie möglich soll unerwähnt bleiben. Viele Seiten widmet Balzer aber auch den politischen Rahmenbedingungen: der Wiedervereinigung, dem Ende des Kalten Krieges, dem Balkankonflikt.
Dann kommt er von „Baywatch“ und dem Erfolg der Schönheitsindustrie zur Fatwa gegen den Schriftsteller Salman Rushdie und von da zur Macht der modernen Massenmedien. Es geht kaum um Literatur und bildende Kunst, dafür ausführlich um die Entstehung des World Wide Web und um die Kritik an der Gentechnik, die „Jurassic Park“ mit den Mitteln des Entertainments formulierte. Gütig blickt Balzer zurück auf die „Tristesse Royale“-Runde um Christian Kracht (man fasst sich ungläubig an den Kopf, wenn man daran zurückdenkt, für wie wichtig damals die fünf Burschen und ihr Dandy-Getue einen Moment lang gehalten wurden).
Gut gelingt ihm auch die Analyse des Phänomens der damals neuen und verblüffend erfolgreichen Talkshows im Privatfernsehen, in denen sich merkwürdige Gäste um Kopf und Kragen redeten. Balzer nennt sie „Freakshows“ und schreibt: „Sie werden von Menschen am Bildschirm verfolgt, die etwas Normales erleben möchten und zugleich etwas Abnormes.“
Balzer widmet sich dem Rechtsruck im Osten ebenso wie dem Arzt-Bild in „Emergency Room“, dem frühen deutschen Hip-Hop, dem Film „Matrix“, den „Simpsons“, dem ökologischen Gewissen oder dem Aufkommen des Coffee to go als Zeichen von, nun ja, Mobilität. Das ist alles kundig und unterhaltsam, man sieht dem Autor deshalb auch gern die Momente nach, in denen er aus reiner Entdeckerfreude Details präsentiert, die dann doch gar nicht so wahnsinnig viel belegen (über den Hit „No Limit“, dem das Buch seinen Titel verdankt, ist zu erfahren: „In der Version der Schlümpfe heißt das Stück ‚Keine Schule‘: ‚No no, no no, keine Schule / No no, no no, keine Schule, no no.‘“). Da spaziert man gern noch mal mit, einmal quer durchs Jahrzehnt, schnuppert an den Erinnerungen und schnappt noch mal nach Luft bei den geschmacklichen Verirrungen von „Tutti Frutti“ bis Arschgeweih.
Die Interpretationen Balzers bringen einen dagegen nicht sehr viel weiter. Ist zum Beispiel die Erkenntnis, dass kulturelle Neuerungen eine Zeit prägen und also auch in der Folgezeit Wirkung zeigen, wirklich schon eine Erkenntnis? Und verrät die Tatsache, dass damals Anrufbeantworter-Ansagen als Samples in Popsongs auftauchten, mehr als den Umstand, dass Popkultur gern die jeweiligen Innovationen ihrer Zeit aufgreift und verarbeitet? Oder das hier: „Das Erbe der Neunzigerjahre besteht in der sich unaufhörlich ausbreitenden Kultur der Digitalisierung und der digitalen Vernetzung.“ Ja – und?
Man fühlt sich bei der Lektüre immer wieder an „Generation Golf“ erinnert. Als Florian Illies vor 23 Jahren einfach mal seine Jugend in den Achtzigern nachmalte, schuf er einen unglaublichen Bestseller, weil Menschen sich nun mal gern an früher erinnern, als alles besser und einfacher war (und vor allem: sie selber jünger). Aber von den unzähligen Lesern, die sich mit Illies beim Zurückträumen ins „Wetten, dass ..?“-Wohnzimmer wohlfühlten, lasen dann doch wahrscheinlich nur die wenigsten den angehängten Theorieteil bis zum Ende. Weil es ihnen letztlich nicht um eine neue Einordnung ging, sondern ums heimelige Erinnern.
Der Untertitel von Balzers schöner Kulturgeschichte ist deshalb womöglich etwas arg pompös geraten: „Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit“. Klar, Mauerfall, neue Kommunikationstechniken und so weiter. Aber empfindet nicht jede Generation das Jahrzehnt ihres eigenen Aufblühens als ultimativen Moment der Freiheit? Und wenn Balzer (Jahrgang 1969, in den Neunzigern also ein Twen) feststellt, dass „die größten Hits der Neunziger von den Freuden und Gefahren der Freiheit“ erzählen, dann lässt sich das exakt so auch über die Sechziger-, Siebziger-, Achtziger- und Nullerjahre sagen.
Sei’s drum, im Kern funktioniert „No Limit“ wie die beliebten Rückschausendungen im Fernsehen. Viele bunte Bilder von früher, Erläuterungen aus dem Off, Zahlen, Daten, kuriose Details. Das Gute bei Balzer ist jedoch: Bei ihm sitzt nicht ständig Elton oder einer von den Prinzen im Bild und erzählt, wie es damals so war. Und das muss man ihm unbedingt zugutehalten. Schönes Buch.
MAX FELLMANN
Man schnuppert an Erinnerungen
an „Matrix“, „Tutti Frutti“
und die „Generation Golf“
Aufregende Aufpasser: Alexandra Paul und David Hasselhoff in „Baywatch“.
Foto: imago images/Everett Collection
Jens Balzer: No Limit:
Die Neunziger –
das Jahrzehnt der
Freiheit. Rowohlt
Berlin, Berlin 2023.
384 Seiten, 28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der Pop-Historiker Jens Balzer sieht sich die Irrungen und Wirrungen der Neunziger noch einmal an
Haben wir die Postmoderne jetzt eigentlich schon überstanden oder sind wir noch mittendrin oder wie oder was? Der Autor Jens Balzer hat da einen klaren Standpunkt: „In den Neunzigern kommt die Postmoderne zu ihrer Vollendung. Aber sie gelangt auch an ihr Ende“, schreibt er, „und ein neues Zeitalter der Grenzen, der Identitäten und der Kämpfe zwischen ihnen beginnt.“ Und von hier aus, mit post-postmodernem Blick, will sich Balzer in seinem neuen Buch „No Limit: Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit“ eben dieser Freiheit widmen, genauer gesagt der „Dialektik der Freiheit in diesem Jahrzehnt“.
Das tut er vor allem, indem er unermüdlich Details aus diesen zehn Jahren zusammenträgt. „No Limit“ ist – wie Balzers vorherige Bücher über die Siebziger („Das entfesselte Jahrzehnt“) und die Achtziger („High Energy“) eine gründliche, umfassende (pop-)kulturelle Rückschau. So wenig wie möglich soll unerwähnt bleiben. Viele Seiten widmet Balzer aber auch den politischen Rahmenbedingungen: der Wiedervereinigung, dem Ende des Kalten Krieges, dem Balkankonflikt.
Dann kommt er von „Baywatch“ und dem Erfolg der Schönheitsindustrie zur Fatwa gegen den Schriftsteller Salman Rushdie und von da zur Macht der modernen Massenmedien. Es geht kaum um Literatur und bildende Kunst, dafür ausführlich um die Entstehung des World Wide Web und um die Kritik an der Gentechnik, die „Jurassic Park“ mit den Mitteln des Entertainments formulierte. Gütig blickt Balzer zurück auf die „Tristesse Royale“-Runde um Christian Kracht (man fasst sich ungläubig an den Kopf, wenn man daran zurückdenkt, für wie wichtig damals die fünf Burschen und ihr Dandy-Getue einen Moment lang gehalten wurden).
Gut gelingt ihm auch die Analyse des Phänomens der damals neuen und verblüffend erfolgreichen Talkshows im Privatfernsehen, in denen sich merkwürdige Gäste um Kopf und Kragen redeten. Balzer nennt sie „Freakshows“ und schreibt: „Sie werden von Menschen am Bildschirm verfolgt, die etwas Normales erleben möchten und zugleich etwas Abnormes.“
Balzer widmet sich dem Rechtsruck im Osten ebenso wie dem Arzt-Bild in „Emergency Room“, dem frühen deutschen Hip-Hop, dem Film „Matrix“, den „Simpsons“, dem ökologischen Gewissen oder dem Aufkommen des Coffee to go als Zeichen von, nun ja, Mobilität. Das ist alles kundig und unterhaltsam, man sieht dem Autor deshalb auch gern die Momente nach, in denen er aus reiner Entdeckerfreude Details präsentiert, die dann doch gar nicht so wahnsinnig viel belegen (über den Hit „No Limit“, dem das Buch seinen Titel verdankt, ist zu erfahren: „In der Version der Schlümpfe heißt das Stück ‚Keine Schule‘: ‚No no, no no, keine Schule / No no, no no, keine Schule, no no.‘“). Da spaziert man gern noch mal mit, einmal quer durchs Jahrzehnt, schnuppert an den Erinnerungen und schnappt noch mal nach Luft bei den geschmacklichen Verirrungen von „Tutti Frutti“ bis Arschgeweih.
Die Interpretationen Balzers bringen einen dagegen nicht sehr viel weiter. Ist zum Beispiel die Erkenntnis, dass kulturelle Neuerungen eine Zeit prägen und also auch in der Folgezeit Wirkung zeigen, wirklich schon eine Erkenntnis? Und verrät die Tatsache, dass damals Anrufbeantworter-Ansagen als Samples in Popsongs auftauchten, mehr als den Umstand, dass Popkultur gern die jeweiligen Innovationen ihrer Zeit aufgreift und verarbeitet? Oder das hier: „Das Erbe der Neunzigerjahre besteht in der sich unaufhörlich ausbreitenden Kultur der Digitalisierung und der digitalen Vernetzung.“ Ja – und?
Man fühlt sich bei der Lektüre immer wieder an „Generation Golf“ erinnert. Als Florian Illies vor 23 Jahren einfach mal seine Jugend in den Achtzigern nachmalte, schuf er einen unglaublichen Bestseller, weil Menschen sich nun mal gern an früher erinnern, als alles besser und einfacher war (und vor allem: sie selber jünger). Aber von den unzähligen Lesern, die sich mit Illies beim Zurückträumen ins „Wetten, dass ..?“-Wohnzimmer wohlfühlten, lasen dann doch wahrscheinlich nur die wenigsten den angehängten Theorieteil bis zum Ende. Weil es ihnen letztlich nicht um eine neue Einordnung ging, sondern ums heimelige Erinnern.
Der Untertitel von Balzers schöner Kulturgeschichte ist deshalb womöglich etwas arg pompös geraten: „Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit“. Klar, Mauerfall, neue Kommunikationstechniken und so weiter. Aber empfindet nicht jede Generation das Jahrzehnt ihres eigenen Aufblühens als ultimativen Moment der Freiheit? Und wenn Balzer (Jahrgang 1969, in den Neunzigern also ein Twen) feststellt, dass „die größten Hits der Neunziger von den Freuden und Gefahren der Freiheit“ erzählen, dann lässt sich das exakt so auch über die Sechziger-, Siebziger-, Achtziger- und Nullerjahre sagen.
Sei’s drum, im Kern funktioniert „No Limit“ wie die beliebten Rückschausendungen im Fernsehen. Viele bunte Bilder von früher, Erläuterungen aus dem Off, Zahlen, Daten, kuriose Details. Das Gute bei Balzer ist jedoch: Bei ihm sitzt nicht ständig Elton oder einer von den Prinzen im Bild und erzählt, wie es damals so war. Und das muss man ihm unbedingt zugutehalten. Schönes Buch.
MAX FELLMANN
Man schnuppert an Erinnerungen
an „Matrix“, „Tutti Frutti“
und die „Generation Golf“
Aufregende Aufpasser: Alexandra Paul und David Hasselhoff in „Baywatch“.
Foto: imago images/Everett Collection
Jens Balzer: No Limit:
Die Neunziger –
das Jahrzehnt der
Freiheit. Rowohlt
Berlin, Berlin 2023.
384 Seiten, 28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Schönes Buch, meint Rezensent Max Fellmann über Jens Balzers Popkulturgeschichte der 90er. Auch wenn Balzer ihm mitunter zu arg die Interpretationskeule schwenkt, ohne dass viel dabei herumkommen würde, kann er den vielen zusammengetragenen popkulturellen, politischen und historischen Details etwas abgewinnen. Mehr als Melancholie sogar, denn Balzer vermag das Phänomen Talkshow, deutschen Hip-Hop oder auch die "Burschen" von "Tristesse Royal" mit einem post-postmodernen Blick zu analysieren, der nicht allzu viel Raum für Romantik lässt, findet Fellmann.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.07.2023Tristesse mit Arschgeweih
Der Pop-Historiker Jens Balzer sieht sich die Irrungen und Wirrungen der Neunziger noch einmal an
Haben wir die Postmoderne jetzt eigentlich schon überstanden oder sind wir noch mittendrin oder wie oder was? Der Autor Jens Balzer hat da einen klaren Standpunkt: „In den Neunzigern kommt die Postmoderne zu ihrer Vollendung. Aber sie gelangt auch an ihr Ende“, schreibt er, „und ein neues Zeitalter der Grenzen, der Identitäten und der Kämpfe zwischen ihnen beginnt.“ Und von hier aus, mit post-postmodernem Blick, will sich Balzer in seinem neuen Buch „No Limit: Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit“ eben dieser Freiheit widmen, genauer gesagt der „Dialektik der Freiheit in diesem Jahrzehnt“.
Das tut er vor allem, indem er unermüdlich Details aus diesen zehn Jahren zusammenträgt. „No Limit“ ist – wie Balzers vorherige Bücher über die Siebziger („Das entfesselte Jahrzehnt“) und die Achtziger („High Energy“) eine gründliche, umfassende (pop-)kulturelle Rückschau. So wenig wie möglich soll unerwähnt bleiben. Viele Seiten widmet Balzer aber auch den politischen Rahmenbedingungen: der Wiedervereinigung, dem Ende des Kalten Krieges, dem Balkankonflikt.
Dann kommt er von „Baywatch“ und dem Erfolg der Schönheitsindustrie zur Fatwa gegen den Schriftsteller Salman Rushdie und von da zur Macht der modernen Massenmedien. Es geht kaum um Literatur und bildende Kunst, dafür ausführlich um die Entstehung des World Wide Web und um die Kritik an der Gentechnik, die „Jurassic Park“ mit den Mitteln des Entertainments formulierte. Gütig blickt Balzer zurück auf die „Tristesse Royale“-Runde um Christian Kracht (man fasst sich ungläubig an den Kopf, wenn man daran zurückdenkt, für wie wichtig damals die fünf Burschen und ihr Dandy-Getue einen Moment lang gehalten wurden).
Gut gelingt ihm auch die Analyse des Phänomens der damals neuen und verblüffend erfolgreichen Talkshows im Privatfernsehen, in denen sich merkwürdige Gäste um Kopf und Kragen redeten. Balzer nennt sie „Freakshows“ und schreibt: „Sie werden von Menschen am Bildschirm verfolgt, die etwas Normales erleben möchten und zugleich etwas Abnormes.“
Balzer widmet sich dem Rechtsruck im Osten ebenso wie dem Arzt-Bild in „Emergency Room“, dem frühen deutschen Hip-Hop, dem Film „Matrix“, den „Simpsons“, dem ökologischen Gewissen oder dem Aufkommen des Coffee to go als Zeichen von, nun ja, Mobilität. Das ist alles kundig und unterhaltsam, man sieht dem Autor deshalb auch gern die Momente nach, in denen er aus reiner Entdeckerfreude Details präsentiert, die dann doch gar nicht so wahnsinnig viel belegen (über den Hit „No Limit“, dem das Buch seinen Titel verdankt, ist zu erfahren: „In der Version der Schlümpfe heißt das Stück ‚Keine Schule‘: ‚No no, no no, keine Schule / No no, no no, keine Schule, no no.‘“). Da spaziert man gern noch mal mit, einmal quer durchs Jahrzehnt, schnuppert an den Erinnerungen und schnappt noch mal nach Luft bei den geschmacklichen Verirrungen von „Tutti Frutti“ bis Arschgeweih.
Die Interpretationen Balzers bringen einen dagegen nicht sehr viel weiter. Ist zum Beispiel die Erkenntnis, dass kulturelle Neuerungen eine Zeit prägen und also auch in der Folgezeit Wirkung zeigen, wirklich schon eine Erkenntnis? Und verrät die Tatsache, dass damals Anrufbeantworter-Ansagen als Samples in Popsongs auftauchten, mehr als den Umstand, dass Popkultur gern die jeweiligen Innovationen ihrer Zeit aufgreift und verarbeitet? Oder das hier: „Das Erbe der Neunzigerjahre besteht in der sich unaufhörlich ausbreitenden Kultur der Digitalisierung und der digitalen Vernetzung.“ Ja – und?
Man fühlt sich bei der Lektüre immer wieder an „Generation Golf“ erinnert. Als Florian Illies vor 23 Jahren einfach mal seine Jugend in den Achtzigern nachmalte, schuf er einen unglaublichen Bestseller, weil Menschen sich nun mal gern an früher erinnern, als alles besser und einfacher war (und vor allem: sie selber jünger). Aber von den unzähligen Lesern, die sich mit Illies beim Zurückträumen ins „Wetten, dass ..?“-Wohnzimmer wohlfühlten, lasen dann doch wahrscheinlich nur die wenigsten den angehängten Theorieteil bis zum Ende. Weil es ihnen letztlich nicht um eine neue Einordnung ging, sondern ums heimelige Erinnern.
Der Untertitel von Balzers schöner Kulturgeschichte ist deshalb womöglich etwas arg pompös geraten: „Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit“. Klar, Mauerfall, neue Kommunikationstechniken und so weiter. Aber empfindet nicht jede Generation das Jahrzehnt ihres eigenen Aufblühens als ultimativen Moment der Freiheit? Und wenn Balzer (Jahrgang 1969, in den Neunzigern also ein Twen) feststellt, dass „die größten Hits der Neunziger von den Freuden und Gefahren der Freiheit“ erzählen, dann lässt sich das exakt so auch über die Sechziger-, Siebziger-, Achtziger- und Nullerjahre sagen.
Sei’s drum, im Kern funktioniert „No Limit“ wie die beliebten Rückschausendungen im Fernsehen. Viele bunte Bilder von früher, Erläuterungen aus dem Off, Zahlen, Daten, kuriose Details. Das Gute bei Balzer ist jedoch: Bei ihm sitzt nicht ständig Elton oder einer von den Prinzen im Bild und erzählt, wie es damals so war. Und das muss man ihm unbedingt zugutehalten. Schönes Buch.
MAX FELLMANN
Man schnuppert an Erinnerungen
an „Matrix“, „Tutti Frutti“
und die „Generation Golf“
Aufregende Aufpasser: Alexandra Paul und David Hasselhoff in „Baywatch“.
Foto: imago images/Everett Collection
Jens Balzer: No Limit:
Die Neunziger –
das Jahrzehnt der
Freiheit. Rowohlt
Berlin, Berlin 2023.
384 Seiten, 28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der Pop-Historiker Jens Balzer sieht sich die Irrungen und Wirrungen der Neunziger noch einmal an
Haben wir die Postmoderne jetzt eigentlich schon überstanden oder sind wir noch mittendrin oder wie oder was? Der Autor Jens Balzer hat da einen klaren Standpunkt: „In den Neunzigern kommt die Postmoderne zu ihrer Vollendung. Aber sie gelangt auch an ihr Ende“, schreibt er, „und ein neues Zeitalter der Grenzen, der Identitäten und der Kämpfe zwischen ihnen beginnt.“ Und von hier aus, mit post-postmodernem Blick, will sich Balzer in seinem neuen Buch „No Limit: Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit“ eben dieser Freiheit widmen, genauer gesagt der „Dialektik der Freiheit in diesem Jahrzehnt“.
Das tut er vor allem, indem er unermüdlich Details aus diesen zehn Jahren zusammenträgt. „No Limit“ ist – wie Balzers vorherige Bücher über die Siebziger („Das entfesselte Jahrzehnt“) und die Achtziger („High Energy“) eine gründliche, umfassende (pop-)kulturelle Rückschau. So wenig wie möglich soll unerwähnt bleiben. Viele Seiten widmet Balzer aber auch den politischen Rahmenbedingungen: der Wiedervereinigung, dem Ende des Kalten Krieges, dem Balkankonflikt.
Dann kommt er von „Baywatch“ und dem Erfolg der Schönheitsindustrie zur Fatwa gegen den Schriftsteller Salman Rushdie und von da zur Macht der modernen Massenmedien. Es geht kaum um Literatur und bildende Kunst, dafür ausführlich um die Entstehung des World Wide Web und um die Kritik an der Gentechnik, die „Jurassic Park“ mit den Mitteln des Entertainments formulierte. Gütig blickt Balzer zurück auf die „Tristesse Royale“-Runde um Christian Kracht (man fasst sich ungläubig an den Kopf, wenn man daran zurückdenkt, für wie wichtig damals die fünf Burschen und ihr Dandy-Getue einen Moment lang gehalten wurden).
Gut gelingt ihm auch die Analyse des Phänomens der damals neuen und verblüffend erfolgreichen Talkshows im Privatfernsehen, in denen sich merkwürdige Gäste um Kopf und Kragen redeten. Balzer nennt sie „Freakshows“ und schreibt: „Sie werden von Menschen am Bildschirm verfolgt, die etwas Normales erleben möchten und zugleich etwas Abnormes.“
Balzer widmet sich dem Rechtsruck im Osten ebenso wie dem Arzt-Bild in „Emergency Room“, dem frühen deutschen Hip-Hop, dem Film „Matrix“, den „Simpsons“, dem ökologischen Gewissen oder dem Aufkommen des Coffee to go als Zeichen von, nun ja, Mobilität. Das ist alles kundig und unterhaltsam, man sieht dem Autor deshalb auch gern die Momente nach, in denen er aus reiner Entdeckerfreude Details präsentiert, die dann doch gar nicht so wahnsinnig viel belegen (über den Hit „No Limit“, dem das Buch seinen Titel verdankt, ist zu erfahren: „In der Version der Schlümpfe heißt das Stück ‚Keine Schule‘: ‚No no, no no, keine Schule / No no, no no, keine Schule, no no.‘“). Da spaziert man gern noch mal mit, einmal quer durchs Jahrzehnt, schnuppert an den Erinnerungen und schnappt noch mal nach Luft bei den geschmacklichen Verirrungen von „Tutti Frutti“ bis Arschgeweih.
Die Interpretationen Balzers bringen einen dagegen nicht sehr viel weiter. Ist zum Beispiel die Erkenntnis, dass kulturelle Neuerungen eine Zeit prägen und also auch in der Folgezeit Wirkung zeigen, wirklich schon eine Erkenntnis? Und verrät die Tatsache, dass damals Anrufbeantworter-Ansagen als Samples in Popsongs auftauchten, mehr als den Umstand, dass Popkultur gern die jeweiligen Innovationen ihrer Zeit aufgreift und verarbeitet? Oder das hier: „Das Erbe der Neunzigerjahre besteht in der sich unaufhörlich ausbreitenden Kultur der Digitalisierung und der digitalen Vernetzung.“ Ja – und?
Man fühlt sich bei der Lektüre immer wieder an „Generation Golf“ erinnert. Als Florian Illies vor 23 Jahren einfach mal seine Jugend in den Achtzigern nachmalte, schuf er einen unglaublichen Bestseller, weil Menschen sich nun mal gern an früher erinnern, als alles besser und einfacher war (und vor allem: sie selber jünger). Aber von den unzähligen Lesern, die sich mit Illies beim Zurückträumen ins „Wetten, dass ..?“-Wohnzimmer wohlfühlten, lasen dann doch wahrscheinlich nur die wenigsten den angehängten Theorieteil bis zum Ende. Weil es ihnen letztlich nicht um eine neue Einordnung ging, sondern ums heimelige Erinnern.
Der Untertitel von Balzers schöner Kulturgeschichte ist deshalb womöglich etwas arg pompös geraten: „Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit“. Klar, Mauerfall, neue Kommunikationstechniken und so weiter. Aber empfindet nicht jede Generation das Jahrzehnt ihres eigenen Aufblühens als ultimativen Moment der Freiheit? Und wenn Balzer (Jahrgang 1969, in den Neunzigern also ein Twen) feststellt, dass „die größten Hits der Neunziger von den Freuden und Gefahren der Freiheit“ erzählen, dann lässt sich das exakt so auch über die Sechziger-, Siebziger-, Achtziger- und Nullerjahre sagen.
Sei’s drum, im Kern funktioniert „No Limit“ wie die beliebten Rückschausendungen im Fernsehen. Viele bunte Bilder von früher, Erläuterungen aus dem Off, Zahlen, Daten, kuriose Details. Das Gute bei Balzer ist jedoch: Bei ihm sitzt nicht ständig Elton oder einer von den Prinzen im Bild und erzählt, wie es damals so war. Und das muss man ihm unbedingt zugutehalten. Schönes Buch.
MAX FELLMANN
Man schnuppert an Erinnerungen
an „Matrix“, „Tutti Frutti“
und die „Generation Golf“
Aufregende Aufpasser: Alexandra Paul und David Hasselhoff in „Baywatch“.
Foto: imago images/Everett Collection
Jens Balzer: No Limit:
Die Neunziger –
das Jahrzehnt der
Freiheit. Rowohlt
Berlin, Berlin 2023.
384 Seiten, 28 Euro.
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Ein äußerst unterhaltsames, facettenreiches und somit sehr lesenswertes Buch über eine Dekade, die die Welt von heute entscheidend mitgeprägt hat. SWR 2 "Lesenswert"