Produktdetails
- Verlag: Alfaguara
- Seitenzahl: 550
- Erscheinungstermin: September 2006
- Spanisch
- Abmessung: 241mm x 149mm x 52mm
- Gewicht: 868g
- ISBN-13: 9788420470566
- ISBN-10: 8420470562
- Artikelnr.: 21864384
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
- Herstellerkennzeichnung
- AGAPEA FACTORY
- c/ Bodegueros, 43nave5
- 29006 Malaga / SPANIEN, ES
- 0034 902195236
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.06.2009Trost im Hotelaufzug
Jorge Volpis schicksalhaftes Endzeitszenario
Was ein Jahrhundertroman ist, entscheidet üblicherweise die Nachwelt. Ragt ein Werk aus den Kunststücken seiner Zeitgenossen heraus, weil Form und Inhalt den Nerv von mehr als einer Generation treffen, so wird es kanonisiert als epochemachende Meisterleistung. Nicht alle Autoren, die etwas auf sich halten, wollen so lange warten. Ein Jahrhundertroman, so sagen sie sich, wird sich doch wohl auch ohne den Umweg über die Rezeptionsgeschichte herstellen lassen. Beim jungen Mexikaner Jorge Volpi, der vor und während seiner Schriftstellerkarriere schon Politiker, Jurist und Medienmanager war, handelt es sich um solch einen Ungeduldigen. Seine Überlegung scheint es zu sein, dass ein Jahrhundertroman auch dann entsteht, wenn man die wesentlichen Strömungen eines Jahrhunderts identifiziert und ihre Schlüsselbegriffe zusammenschreibt.
Mit dem Klingsor-Paradox, einem Wissenschaftsthriller, der die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts als Synopse aus Quantenphysik und Nationalsozialismus darstellt, hat er sich damit zuletzt auch auf dem deutschen Buchmarkt einen Namen gemacht. In seinem neuesten Buch knöpft Volpi sich nun die wissenschaftlichen und politischen Eckdaten der zweiten Hälfte desselben Jahrhunderts vor - mit dem erkennbaren Ehrgeiz, damit zugleich ein Menetekel für die Zeit nach der Jahrtausendwende zu liefern. Das Rezept ist das gleiche, nur dass es diesmal darum geht, Gentechnik und Kapitalismus miteinander zu verknüpfen - um abermals ein geradezu schicksalhaftes Endzeitszenario zu entwerfen.
Den Erzähler haben die Zeitläufte zum Mörder gemacht. Seine Erinnerungen aus der Zeit der Asche will er als "Abrechnung" verstanden wissen, als Abrechnung mit einer Epoche, in der sich die Menschen vom Leben entfremdet und zu Handlangern ihrer Wissenschaften geworden sind. Die Frau, die er geliebt und im Affekt getötet hat, wurde ihm zum Symbol einer unerträglichen Einstellung dem Leben und der Liebe gegenüber. Sie sei, so sinniert er im Gefängnis, das intelligenteste Mädchen auf der Welt und gleichzeitig das dämlichste gewesen: einerseits Expertin für künstliches Leben, andererseits unfähig, sich für einen geeigneten Partner zu entscheiden und lebenskluge Entscheidungen zu treffen.
Diese Konstellation aus Intelligenz und Unfähigkeit führt Volpi noch an einer ganzen Reihe von Figuren vor, deren Geschichten über Verwandtschafts- und Bekanntschaftsbeziehungen letztlich alle miteinander verbunden sind. Fast alle machen Karriere, sind erfolgreiche Forscher, Politiker, Händler und Banker, und fast alle offenbaren in ihren Lebensläufen blinde Flecken oder schwarze Löcher. Dass die Abgründe des Erfolgs tief sein können, wird im Milieu der Börsenspekulanten illustriert; dass sie nichts weniger als das Schicksal der Menschheit bedrohen, suggeriert der Roman, indem er vorführt, wie auch die Entschlüsselung der Genome zum Gegenstand von Finanzjongleuren werden kann.
Mit seinen über den ganzen Globus verstreuten und bis zum Börsencrash der zwanziger Jahre zurückreichenden Biographien zeichnet Volpi eine Epoche der Selbstermächtigung und -überschätzung nach und veranschaulicht dabei seine These, dass in Ost und West selbstzerstörerische Eliten wirken. Das erste Kapitel ist der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl gewidmet und profiliert den homo sovieticus als Prototypen: von Kindheit an zum Fortschritt dressiert wie Millionen "Versuchskaninchen im Dienste dieses Traums, Teil eines gigantischen Experiments, das die Theorien der Partei beweisen sollte". Die wichtigste Übung besteht in der Selbsttäuschung, alles im Griff zu haben - und im konsequenten Vertuschen, sobald diese Selbsttäuschung nicht mehr aufrechterhalten werden kann.
Der Rest des Romans besteht aus der Globalisierung dieses homo sovieticus über ein insbesondere weibliches Netzwerk geblendeter Karrieristinnen. Sie finden ihr Glück in den Scheinwelten verspiegelter Hotelaufzüge, und wenn das Risiko ihres geschäftlichen Handelns nicht mehr als Aphrodisiakum taugt, werden sie von Melancholie und Schwermut befallen, in einigen Fällen finden sie Trost in der Poesie.
Mehrfach hebt der Erzähler hervor, wie ungern er diese Geschichten aufbereitet. Nachdem er sich einst einen Namen mit Erinnerungen aus Afghanistan und Enthüllungen über Korruption in Russland gemacht hat, empfindet er sich nun als einen glücklosen Kartographen von Unfällen. Wenig mitreißend ist daher auch sein Erzählduktus. Aus jeder Zeile spricht weniger der Versuch, eine plastische Vorstellung des zwanzigsten Jahrhunderts zu vermitteln, als die Anstrengung, auf intelligent konstruierte Weise den Roman zu einem Medium politischer Anklage im Zeitalter des Posthumanismus werden zu lassen. Jorge Volpi unterstreicht diesen Anspruch in Interviews. Doch seine littérature engagée ist eine Prosa der Kapitulation: so zweidimensional und unsinnlich wie die Charaktere selbst, so klinisch und oberflächlich wie der beklagte Lebensbegriff der Herrscher über Petrischalen und Aktienkurse. Sie liest sich wie ein Best-of der "Tagesschau".
ROMAN LUCKSCHEITER
Jorge Volpi: "Zeit der Asche". Roman. Aus dem Spanischen von Catalina Rojas Hauser und Kirstin Bleiel. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2009. 512 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jorge Volpis schicksalhaftes Endzeitszenario
Was ein Jahrhundertroman ist, entscheidet üblicherweise die Nachwelt. Ragt ein Werk aus den Kunststücken seiner Zeitgenossen heraus, weil Form und Inhalt den Nerv von mehr als einer Generation treffen, so wird es kanonisiert als epochemachende Meisterleistung. Nicht alle Autoren, die etwas auf sich halten, wollen so lange warten. Ein Jahrhundertroman, so sagen sie sich, wird sich doch wohl auch ohne den Umweg über die Rezeptionsgeschichte herstellen lassen. Beim jungen Mexikaner Jorge Volpi, der vor und während seiner Schriftstellerkarriere schon Politiker, Jurist und Medienmanager war, handelt es sich um solch einen Ungeduldigen. Seine Überlegung scheint es zu sein, dass ein Jahrhundertroman auch dann entsteht, wenn man die wesentlichen Strömungen eines Jahrhunderts identifiziert und ihre Schlüsselbegriffe zusammenschreibt.
Mit dem Klingsor-Paradox, einem Wissenschaftsthriller, der die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts als Synopse aus Quantenphysik und Nationalsozialismus darstellt, hat er sich damit zuletzt auch auf dem deutschen Buchmarkt einen Namen gemacht. In seinem neuesten Buch knöpft Volpi sich nun die wissenschaftlichen und politischen Eckdaten der zweiten Hälfte desselben Jahrhunderts vor - mit dem erkennbaren Ehrgeiz, damit zugleich ein Menetekel für die Zeit nach der Jahrtausendwende zu liefern. Das Rezept ist das gleiche, nur dass es diesmal darum geht, Gentechnik und Kapitalismus miteinander zu verknüpfen - um abermals ein geradezu schicksalhaftes Endzeitszenario zu entwerfen.
Den Erzähler haben die Zeitläufte zum Mörder gemacht. Seine Erinnerungen aus der Zeit der Asche will er als "Abrechnung" verstanden wissen, als Abrechnung mit einer Epoche, in der sich die Menschen vom Leben entfremdet und zu Handlangern ihrer Wissenschaften geworden sind. Die Frau, die er geliebt und im Affekt getötet hat, wurde ihm zum Symbol einer unerträglichen Einstellung dem Leben und der Liebe gegenüber. Sie sei, so sinniert er im Gefängnis, das intelligenteste Mädchen auf der Welt und gleichzeitig das dämlichste gewesen: einerseits Expertin für künstliches Leben, andererseits unfähig, sich für einen geeigneten Partner zu entscheiden und lebenskluge Entscheidungen zu treffen.
Diese Konstellation aus Intelligenz und Unfähigkeit führt Volpi noch an einer ganzen Reihe von Figuren vor, deren Geschichten über Verwandtschafts- und Bekanntschaftsbeziehungen letztlich alle miteinander verbunden sind. Fast alle machen Karriere, sind erfolgreiche Forscher, Politiker, Händler und Banker, und fast alle offenbaren in ihren Lebensläufen blinde Flecken oder schwarze Löcher. Dass die Abgründe des Erfolgs tief sein können, wird im Milieu der Börsenspekulanten illustriert; dass sie nichts weniger als das Schicksal der Menschheit bedrohen, suggeriert der Roman, indem er vorführt, wie auch die Entschlüsselung der Genome zum Gegenstand von Finanzjongleuren werden kann.
Mit seinen über den ganzen Globus verstreuten und bis zum Börsencrash der zwanziger Jahre zurückreichenden Biographien zeichnet Volpi eine Epoche der Selbstermächtigung und -überschätzung nach und veranschaulicht dabei seine These, dass in Ost und West selbstzerstörerische Eliten wirken. Das erste Kapitel ist der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl gewidmet und profiliert den homo sovieticus als Prototypen: von Kindheit an zum Fortschritt dressiert wie Millionen "Versuchskaninchen im Dienste dieses Traums, Teil eines gigantischen Experiments, das die Theorien der Partei beweisen sollte". Die wichtigste Übung besteht in der Selbsttäuschung, alles im Griff zu haben - und im konsequenten Vertuschen, sobald diese Selbsttäuschung nicht mehr aufrechterhalten werden kann.
Der Rest des Romans besteht aus der Globalisierung dieses homo sovieticus über ein insbesondere weibliches Netzwerk geblendeter Karrieristinnen. Sie finden ihr Glück in den Scheinwelten verspiegelter Hotelaufzüge, und wenn das Risiko ihres geschäftlichen Handelns nicht mehr als Aphrodisiakum taugt, werden sie von Melancholie und Schwermut befallen, in einigen Fällen finden sie Trost in der Poesie.
Mehrfach hebt der Erzähler hervor, wie ungern er diese Geschichten aufbereitet. Nachdem er sich einst einen Namen mit Erinnerungen aus Afghanistan und Enthüllungen über Korruption in Russland gemacht hat, empfindet er sich nun als einen glücklosen Kartographen von Unfällen. Wenig mitreißend ist daher auch sein Erzählduktus. Aus jeder Zeile spricht weniger der Versuch, eine plastische Vorstellung des zwanzigsten Jahrhunderts zu vermitteln, als die Anstrengung, auf intelligent konstruierte Weise den Roman zu einem Medium politischer Anklage im Zeitalter des Posthumanismus werden zu lassen. Jorge Volpi unterstreicht diesen Anspruch in Interviews. Doch seine littérature engagée ist eine Prosa der Kapitulation: so zweidimensional und unsinnlich wie die Charaktere selbst, so klinisch und oberflächlich wie der beklagte Lebensbegriff der Herrscher über Petrischalen und Aktienkurse. Sie liest sich wie ein Best-of der "Tagesschau".
ROMAN LUCKSCHEITER
Jorge Volpi: "Zeit der Asche". Roman. Aus dem Spanischen von Catalina Rojas Hauser und Kirstin Bleiel. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2009. 512 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main