Steven und Jabulie erleben im Südafrika der Gegenwart, wie die Folgen der Apartheid, politische Konflikte und soziale Spannungen die hart erkämpfte Freiheit bedrohen.
Mit diesem brillant erzählten, politisch hochaktuellen Roman beweist Nobelpreisträgerin Nadine Gordimer erneut, dass sie zu den herausragenden Autorinnen der Gegenwart zählt.
Mit diesem brillant erzählten, politisch hochaktuellen Roman beweist Nobelpreisträgerin Nadine Gordimer erneut, dass sie zu den herausragenden Autorinnen der Gegenwart zählt.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.09.2012Bis zum jüngsten Tag
In ihrem neuen Roman „Keine Zeit wie diese“ erzählt die südafrikanische
Literaturnobelpreisträgerin Nadine Gordimer von der nachrevolutionären Desillusionierung
VON HANS-PETER KUNISCH
Steve kommt aus einer englischen Familie, der Vater ist Christ, die Mutter Jüdin. Jabulile, Steves Frau, ist schwarz. Die Verbindung war gegen die Rassengesetze, das kümmerte beide wenig. Als sie sich im südafrikanischen Untergrund kennen lernten, waren alle „Genossen“. Sind sie es noch? Zu Beginn von Nadine Gordimers neuem Roman „Keine Zeit wie diese“ zieht das Paar, das damals heimlich heiraten musste, in ein hübsches, kleines Haus in der Vorstadt. Die beiden haben ein Mädchen, Steve ist Naturwissenschaftler an der Uni, Jabulile erfüllt sich einen Traum und studiert Jura. Eine südafrikanische Familie nach der Unabhängigkeit, nicht ganz gewöhnlich, aber das Land, in dem sie entstand, war es auch nicht.
In ihren letzten Romanen, „Ein Mann von der Straße“ und „Fang an zu leben“, hat Gordimer auf die Unabhängigkeit reagiert, indem sie südafrikanische Politik immer unwichtiger werden ließ. Es ging um die Liebe einer höheren weißen Tochter zu einem Mann aus Zimbabwe, dann um Krebs. Aus den immer auch politischen Büchern der Literatur-Nobelpreisträgerin wurden mehr und mehr Human-Interest-Geschichten.
In „Keine Zeit wie diese“ sieht die Situation wieder etwas anders aus. Liebe ist darin ein höchst verblichener Aufreger. Auch wenn Steve Jabulile einmal betrügt – als Assistenzprofessor verbringt er bei einem Kongress in London eine Nacht mit einer Pressefrau –, die Betrogene erfährt nichts davon, die Sache verläuft im Sande. Jabu und Steve gehören zusammen, allmählich etwas weniger leidenschaftlich vielleicht, aber doch mehr als das „normale Leben“, das sie jetzt führen, erwarten lässt.
Es dauert eine Weile, bis das Sujet des neuen Buchs erkennbar wird. Zunächst scheint es Gordimer nur um das Selbstverständnis der ehemaligen Revolutionäre zu gehen, die lernen müssen, sich mit ihrer neuen, relativ etablierten Position in einer partiell offenen Gesellschaft anzufreunden. Ihre Umgebung wird abgesteckt: eine Schwulen-WG in einer verlassenen, benachbarten Ex-Kirche trägt genauso zum Vorstadt-Lokalkolorit bei wie die Besuche in der Heimat Jabus, bei ihrem Vater, einem der Dorfhonoratioren, der sich um die Bildung seiner Tochter gekümmert hat.
Gespannt folgt man dem beiläufig vermittelten Querschnitt durch die südafrikanische Gesellschaft der Gegenwart, der als grobflächige Chronik der Jahre seit der Unabhängigkeit angelegt ist. Gordimer bleibt auf der Spur von Jabu und Steve, die das gemeinsame Leben ganz verschieden erfahren, dabei wird allmählich klar, dass das neue Thema der 89-jährigen Schriftstellerin das alte ist: Südafrika. Die politischen Fragen haben sich doch nicht erledigt. Der einst revolutionäre ANC, der noch heute einen Großteil der politischen Klasse stellt, hat sich in den Strukturen der Macht eingenistet.
Gordimer wird sehr konkret. Es geht ganz direkt um den namentlich genannten Jacob Zuma, den amtierenden südafrikanischen Präsidenten, der verkündet hat, der ANC werde herrschen bis zum jüngsten Tag. Vorwürfe, er sei in Waffengeschäfte verwickelt (gewesen), korrupt, nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht, lässt er nach Möglichkeit abperlen. Nun könnte man zynisch einwenden, dass das bei Politikern, nicht nur in Südafrika, üblich sei, kein Grund, sich zu erhitzen.
Jabus Vater, ansonsten eine Respektsperson, aber wie Zuma zum Stamm der Zulu gehörig, hält ihm die Treue. Doch für Jabu und Steve, selber einst Parteigänger des ANC, ist die Sache komplizierter. Einerseits ekeln sie sich vor dem autokratischen Gehabe des neuen Präsidenten und seinen skurrilen Ausführungen zu AIDS (der bekennende Polygamist aus Tradition ließ verlauten, er habe nach dem Beischlaf mit einer Infizierten geduscht), anderseits war Zuma einst Geheimdienstchef des ANC und als solcher mit verantwortlich für die Waffenbeschaffung im Untergrund. Damals fragte keiner nach der Herkunft der Gewehre.
Doch war der Kampf nicht nur Mittel zum Zweck? Galten nicht andere Gesetze? Sollte sich die post-revolutionäre Gesellschaft nicht langsam von ihren historischen Bedingungen lösen und zur verheißenen werden? Oder was bedeutet die zunehmende Fremdenfeindlichkeit in der arbeitslosen schwarzen Unterschicht, die es noch immer gibt?
Solche Fragen wendet Nadine Gordimer in den Köpfen ihrer Figuren um und um. So ist klar, dass „Keine Zeit wie diese“ nicht nur den „good read“ des klassischen englischen Romans bieten will und kann. Manchmal wird zu viel gesprochen und gedacht. Und doch entkommt Gordimer über weite Strecken der Lähmungs-Gefahr des Thesenromans. Denn sie schreibt nicht anwaltschaftlich, theoretisch, sondern in eigener Sache. Die Fragen, die sich die Figuren stellen, wirken wie ihre, und sie versteht es, ihnen diese Fragen so in den Mund zu legen, dass sie zu denen der Leser werden. Gut lesbar übersetzte, tagebuchähnlich kühle innere Monologe führen zu einer großen Nähe zu Jabu und Steve, mit denen man in Geschichte und Gegenwart eines schwierigen Landes unterwegs ist.
Das hört sich beinahe zu harmonisch an, aber als Jabu bei Steve Zeitungsausschnitte entdeckt, Anzeigen der australischen Regierung, die um Einwanderer wirbt, taucht zum ersten Mal die Ahnung auf, dass es Gordimer mit ihrem Nachdenken über Südafrika ernst meint. Es wird klar, dass die Ex-Revolutionäre ihre mittlerweile zwei Kinder nicht im Paradies, für das beide gekämpft haben, aufwachsen lassen wollen.
Die selbstbeweihräuchernden Lügen der Regierung, die über die Fortschritte des Landes im Umlauf sind, zermürben, die Statik der Verhältnisse entmutigt. Steve bewirbt sich tatsächlich für eine Auswanderung nach Australien – und erhält den passenden Job. Auch wenn ein Freund ihm überflüssigerweise, wie angeklebt, am Ende entgegenhält: „ich bleibe“ – die Kinder der Revolution verlassen das Land. Nadine Gordimer hat einen Roman der Desillusionierung geschrieben. Eindringlich erzählt sie vom Desaster der einst so hoffnungsfrohen, neuen südafrikanischen Gesellschaft.
Nadine Gordimer wird in diesem
Roman sehr konkret: Sie nennt
den Präsidenten beim Namen
Die Literaturnobelpreisträgerin Nadine Gordimer schreibt seit Jahrzehnten über ihr Land, Südafrika. Jetzt besetzt die Befreiungsbewegung, mit der sie sympathisiert hat, die Zentren der Macht. Ihr neuer Roman „Keine Zeit wie diese“ erzählt vom Verlust der Aufbruchshoffnungen im aktuellen Südafrika.
FOTO: WRITER PICTURES LTD
Nadine Gordimer: Keine Zeit wie diese. Roman. Aus dem Englischen von Barbara Schaden. Berlin Verlag, Berlin 2012. 507 Seiten, 22,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In ihrem neuen Roman „Keine Zeit wie diese“ erzählt die südafrikanische
Literaturnobelpreisträgerin Nadine Gordimer von der nachrevolutionären Desillusionierung
VON HANS-PETER KUNISCH
Steve kommt aus einer englischen Familie, der Vater ist Christ, die Mutter Jüdin. Jabulile, Steves Frau, ist schwarz. Die Verbindung war gegen die Rassengesetze, das kümmerte beide wenig. Als sie sich im südafrikanischen Untergrund kennen lernten, waren alle „Genossen“. Sind sie es noch? Zu Beginn von Nadine Gordimers neuem Roman „Keine Zeit wie diese“ zieht das Paar, das damals heimlich heiraten musste, in ein hübsches, kleines Haus in der Vorstadt. Die beiden haben ein Mädchen, Steve ist Naturwissenschaftler an der Uni, Jabulile erfüllt sich einen Traum und studiert Jura. Eine südafrikanische Familie nach der Unabhängigkeit, nicht ganz gewöhnlich, aber das Land, in dem sie entstand, war es auch nicht.
In ihren letzten Romanen, „Ein Mann von der Straße“ und „Fang an zu leben“, hat Gordimer auf die Unabhängigkeit reagiert, indem sie südafrikanische Politik immer unwichtiger werden ließ. Es ging um die Liebe einer höheren weißen Tochter zu einem Mann aus Zimbabwe, dann um Krebs. Aus den immer auch politischen Büchern der Literatur-Nobelpreisträgerin wurden mehr und mehr Human-Interest-Geschichten.
In „Keine Zeit wie diese“ sieht die Situation wieder etwas anders aus. Liebe ist darin ein höchst verblichener Aufreger. Auch wenn Steve Jabulile einmal betrügt – als Assistenzprofessor verbringt er bei einem Kongress in London eine Nacht mit einer Pressefrau –, die Betrogene erfährt nichts davon, die Sache verläuft im Sande. Jabu und Steve gehören zusammen, allmählich etwas weniger leidenschaftlich vielleicht, aber doch mehr als das „normale Leben“, das sie jetzt führen, erwarten lässt.
Es dauert eine Weile, bis das Sujet des neuen Buchs erkennbar wird. Zunächst scheint es Gordimer nur um das Selbstverständnis der ehemaligen Revolutionäre zu gehen, die lernen müssen, sich mit ihrer neuen, relativ etablierten Position in einer partiell offenen Gesellschaft anzufreunden. Ihre Umgebung wird abgesteckt: eine Schwulen-WG in einer verlassenen, benachbarten Ex-Kirche trägt genauso zum Vorstadt-Lokalkolorit bei wie die Besuche in der Heimat Jabus, bei ihrem Vater, einem der Dorfhonoratioren, der sich um die Bildung seiner Tochter gekümmert hat.
Gespannt folgt man dem beiläufig vermittelten Querschnitt durch die südafrikanische Gesellschaft der Gegenwart, der als grobflächige Chronik der Jahre seit der Unabhängigkeit angelegt ist. Gordimer bleibt auf der Spur von Jabu und Steve, die das gemeinsame Leben ganz verschieden erfahren, dabei wird allmählich klar, dass das neue Thema der 89-jährigen Schriftstellerin das alte ist: Südafrika. Die politischen Fragen haben sich doch nicht erledigt. Der einst revolutionäre ANC, der noch heute einen Großteil der politischen Klasse stellt, hat sich in den Strukturen der Macht eingenistet.
Gordimer wird sehr konkret. Es geht ganz direkt um den namentlich genannten Jacob Zuma, den amtierenden südafrikanischen Präsidenten, der verkündet hat, der ANC werde herrschen bis zum jüngsten Tag. Vorwürfe, er sei in Waffengeschäfte verwickelt (gewesen), korrupt, nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht, lässt er nach Möglichkeit abperlen. Nun könnte man zynisch einwenden, dass das bei Politikern, nicht nur in Südafrika, üblich sei, kein Grund, sich zu erhitzen.
Jabus Vater, ansonsten eine Respektsperson, aber wie Zuma zum Stamm der Zulu gehörig, hält ihm die Treue. Doch für Jabu und Steve, selber einst Parteigänger des ANC, ist die Sache komplizierter. Einerseits ekeln sie sich vor dem autokratischen Gehabe des neuen Präsidenten und seinen skurrilen Ausführungen zu AIDS (der bekennende Polygamist aus Tradition ließ verlauten, er habe nach dem Beischlaf mit einer Infizierten geduscht), anderseits war Zuma einst Geheimdienstchef des ANC und als solcher mit verantwortlich für die Waffenbeschaffung im Untergrund. Damals fragte keiner nach der Herkunft der Gewehre.
Doch war der Kampf nicht nur Mittel zum Zweck? Galten nicht andere Gesetze? Sollte sich die post-revolutionäre Gesellschaft nicht langsam von ihren historischen Bedingungen lösen und zur verheißenen werden? Oder was bedeutet die zunehmende Fremdenfeindlichkeit in der arbeitslosen schwarzen Unterschicht, die es noch immer gibt?
Solche Fragen wendet Nadine Gordimer in den Köpfen ihrer Figuren um und um. So ist klar, dass „Keine Zeit wie diese“ nicht nur den „good read“ des klassischen englischen Romans bieten will und kann. Manchmal wird zu viel gesprochen und gedacht. Und doch entkommt Gordimer über weite Strecken der Lähmungs-Gefahr des Thesenromans. Denn sie schreibt nicht anwaltschaftlich, theoretisch, sondern in eigener Sache. Die Fragen, die sich die Figuren stellen, wirken wie ihre, und sie versteht es, ihnen diese Fragen so in den Mund zu legen, dass sie zu denen der Leser werden. Gut lesbar übersetzte, tagebuchähnlich kühle innere Monologe führen zu einer großen Nähe zu Jabu und Steve, mit denen man in Geschichte und Gegenwart eines schwierigen Landes unterwegs ist.
Das hört sich beinahe zu harmonisch an, aber als Jabu bei Steve Zeitungsausschnitte entdeckt, Anzeigen der australischen Regierung, die um Einwanderer wirbt, taucht zum ersten Mal die Ahnung auf, dass es Gordimer mit ihrem Nachdenken über Südafrika ernst meint. Es wird klar, dass die Ex-Revolutionäre ihre mittlerweile zwei Kinder nicht im Paradies, für das beide gekämpft haben, aufwachsen lassen wollen.
Die selbstbeweihräuchernden Lügen der Regierung, die über die Fortschritte des Landes im Umlauf sind, zermürben, die Statik der Verhältnisse entmutigt. Steve bewirbt sich tatsächlich für eine Auswanderung nach Australien – und erhält den passenden Job. Auch wenn ein Freund ihm überflüssigerweise, wie angeklebt, am Ende entgegenhält: „ich bleibe“ – die Kinder der Revolution verlassen das Land. Nadine Gordimer hat einen Roman der Desillusionierung geschrieben. Eindringlich erzählt sie vom Desaster der einst so hoffnungsfrohen, neuen südafrikanischen Gesellschaft.
Nadine Gordimer wird in diesem
Roman sehr konkret: Sie nennt
den Präsidenten beim Namen
Die Literaturnobelpreisträgerin Nadine Gordimer schreibt seit Jahrzehnten über ihr Land, Südafrika. Jetzt besetzt die Befreiungsbewegung, mit der sie sympathisiert hat, die Zentren der Macht. Ihr neuer Roman „Keine Zeit wie diese“ erzählt vom Verlust der Aufbruchshoffnungen im aktuellen Südafrika.
FOTO: WRITER PICTURES LTD
Nadine Gordimer: Keine Zeit wie diese. Roman. Aus dem Englischen von Barbara Schaden. Berlin Verlag, Berlin 2012. 507 Seiten, 22,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.11.2012Mit der Apartheid endeten die Katastrophen nicht
Die Nobelpreisträgerin Nadine Gordimer ist seit sechs Jahrzehnten die epische Chronistin Südafrikas. "Keine Zeit wie diese", der neue Roman, zieht eine bittere Bilanz der Herrschaft des ANC.
In wenigen Tagen, am 20. November, wird Nadine Gordimer neunundachtzig Jahre alt. Vor dreiundsechzig Jahren erschien ihr erstes Buch, die Kurzgeschichtensammlung "Von Angesicht zu Angesicht", vor neunundfünfzig Jahren dann "Entzauberung", der erste Roman. Helen Shaw, dessen Ich-Erzählerin, trägt unverkennbar autobiographische Züge - wie Nadine Gordimer stammt sie aus einer Goldgräbersiedlung in der südafrikanischen Provinz, wächst in einer weißen Mittelstandsfamilie heran, verlässt ihr Elternhaus im Dissens, engagiert sich in Johannesburg karitativ für die notleidende und unterdrückte schwarze Bevölkerung und erkennt zugleich die Grenzen und die Borniertheit ihres eigenen liberalen Milieus. Im Gegensatz zu ihrer Autorin aber wird Helen Shaw am Ende Südafrika in Richtung Europa verlassen, weil sie auf absehbare Zeit keine Chance dafür sieht, dass sich die von der Apartheid zementierten Verhältnisse ändern werden.
Gehen oder bleiben: das ist auch mehr als sechzig Jahre danach die zentrale Frage, die sich den Hauptfiguren dieser Erzählerin stellt - obgleich sich die Verhältnisse inzwischen grundlegend geändert haben. "Keine Zeit wie diese", der jüngste, mittlerweile fünfzehnte Roman, setzt Mitte der neunziger Jahre ein, kurz nach den ersten wirklich freien Wahlen und der Ernennung Nelson Mandelas zum Präsidenten Südafrikas. Er endet 2009, wenige Monate nach der Wahl von Mandelas Nach-Nachfolger Jacob Zuma zum dritten schwarzen Staatsoberhaupt in der Geschichte des Landes - und er endet in der Gewissheit, dass etwas gründlich schiefgelaufen sein muss in der dazwischenliegenden Zeit.
Hauptort der Handlung ist ein wohlhabender nördlicher Vorort von Johannesburg. Hier hat sich seit dem Ende der Apartheid der neue Mittelstand gebildet: Schwarze, Farbige, Weiße, Lehrer, Rechtsanwälte, Universitätsangehörige, Künstler, Kaufleute, Ingenieure, unter ihnen ehemalige Kämpfer des ANC, des African National Congress. Anfangs noch misstrauisch beäugt, gehört inzwischen sogar eine Schwulen-WG dazu, die sich in einer ehemaligen Kirche eingerichtet hat und deren Swimmingpool zur Attraktion des ganzen Viertels wird. Noch legt man großen Wert darauf, nicht in einem rundum von Zäunen und rund um die Uhr von bewaffnetem Sicherheitspersonal geschützten "Compound" zu leben, eine "gemeinsame Schutzstreife" aber ist längst unverzichtbar - am Rand der Vorstadt warten Armut, Arbeitslosigkeit, Verbrechen.
Sie heißt Jabulile, Kosenamen Jabu, ist schwarz und die Tochter eines Methodistenpfarrers aus KwaZulu. Er heißt Steve, ist weiß und der Sohn einer jüdischen Mutter. Kennengelernt haben sich die beiden als Untergrundkämpfer des ANC, sie wurden "ein klandestines Paar". Jetzt arbeitet sie als Rechtsanwältin, er ist Assistenzprofessor am chemischen Institut der Universität. Sindiswa, ihre Tochter, gilt ihnen als "der erste Abkömmling eines neuen Zeitalters", Gary Elias, der Sohn, kommt dann schon in den scheinbar wohlgeordneten Vorstadt-Verhältnissen zur Welt. Und ganz offenbar wohlgeordnet geht es auch in dieser Vorzeigefamilie des neuen Südafrika zu - bis Jabu eines Tages beim Aufräumen auf etwas neuerlich Klandestines stößt: "Versteckt, als wären es die Liebesbriefe einer anderen Frau", hat Steve die Broschüren und Prospekte aus der Botschaft eines fremden Landes. "Australien", liest Jabu, "braucht Ihr Fachwissen! Australien ruft!"
Gut fünfhundert mit enormer Kraft, bisweilen auch mit Wut erzählte Romanseiten wendet Nadine Gordimer auf, um uns, den Lesern, das Unglaubliche plausibel, das Unerhörte verständlich und das ganze Ausmaß des Skandalons erfahrbar zu machen: Die neue Elite will das Land verlassen, Revolutionäre, aus denen Staatsbürger wurden, erwägen nun eine weitere, eine endgültige Emigration, nachdem viele von ihnen in den Zeiten der Apartheid temporär bei den afrikanischen Nachbarstaaten Zuflucht suchen mussten.
Man spürt diesem Buch unterschwellig die große Angst der Autorin vor einem finalen Verlust an, man spürt, wie sie sich mit äußerster Energie gegen ein fatales Resümee stemmt, jenem nämlich, am Ende selbst vergeblich gelebt, gearbeitet, geschrieben und gekämpft zu haben. Es ist eine außerliterarische, eine ganz und gar existentielle Not, die das Buch vorantreibt. Sie wird nie explizit, gibt sich nie offen preis. Aber sie bezeugt sich elementar dadurch, dass "Keine Zeit wie diese", der Roman einer fast Neunzigjährigen, eines mit Gewissheit nicht ist - ein abgeklärtes Alterswerk.
Was Nadine Gordimer an ihren Hauptfiguren Jabu und Steve erzählend zeigt, geschieht in Südafrikas Wirklichkeit Tag für Tag. Mehr als eine Million Menschen hat das Land in den vergangenen zwei Jahrzehnten verlassen. Davon Zeugin zu sein muss für sie, die seit 1948 in Johannesburg lebt und dort auch in den härtesten Zeiten von Unterdrückung und Zensur ausharrte, einer Katastrophe gleichkommen. Denn es sind ja zu einem gewichtigen Teil "ihre" Leute, die da gehen, es sind, es waren die Hoffnungsträger der Post-Apartheid, nicht die Herren und Herrschaften der alten Zeit. Und im Gegensatz zur Heldin des Debütromans gibt es für die neuen Emigranten, gibt es eben für Jabu und Steve auch keine Aussicht auf Revision. "Ich weiß, dass ich zurückkehren werde", hatte Helen Shaw am Ende der "Entzauberung" noch gesagt.
Weil der Roman alles daransetzt, die nach wie vor lastenden Hypotheken der Vergangenheit, drastischer aber noch die Fehlentwicklungen unter den demokratisch gewählten Regierungen des ANC zu beleuchten, nimmt sich Nadine Gordimer kaum Zeit für rein private Passagen. Einmal schickt sie ihr Paar in den Urlaub, einmal geht Steve allein auf einen Kongress und dabei so unromantisch wie folgenlos auch fremd. Ansonsten erleben wir Jabu und Steve in Dauerkonflikten an ihren jeweiligen Arbeitsplätzen und in Dauerdebatten mit den Vorstadt-Nachbarn über das je aktuelle Geschehen.
Selbst wenn sie ihre Eltern besuchen, mit den Kindern reden oder miteinander rechten: Immer geht es darum, was falsch läuft im Großen und Ganzen - und ob es richtig ist, was sie für sich planen und bereits in die Wege geleitet haben. Denn nach dem ersten Schock steht auch für Jabu außer Zweifel, das Abenteuer Australien in illusionsloser Entschiedenheit zu unterstützen, auch wenn dort im Gegensatz zu Naturwissenschaftlern wie Steve auf Anwälte wie sie offensichtlich wenig Wert gelegt wird.
Diskutiert und reportiert wird also über die Waffengeschäfte, die Korruption und die Prozessverschleppungen, von denen die neuen Mächtigen profitieren - Jacob Zumas Weg an die Spitze des Staats ist ein roter Faden und das rote Tuch des Romans. Erzählt wird vom Elend der Flüchtlinge, die etwa aus Zimbabwe kommen und in Südafrika auf die brutale Gewalt der einheimischen Armen stoßen. Statistiken zu Arbeitslosigkeit und Aidserkrankungen werden referiert, die Stromausfälle der vergangenen Woche gezählt, das Black Empowerment der Bildungspolitik wird attackiert. Er müsse schwarze Studenten unterrichten, "die als halbe Analphabeten aus der Schule kommen", sagt Steve einmal - und er bringt dann auch die gesammelten Enttäuschungen auf den Punkt. "Wir sind alle stinksauer über die Entwicklung, die unser Land nimmt."
Es gehört zu den Eigenarten der Erzählerin Nadine Gordimer, am Ende ihrer Romane rasch noch für abrupte Wendungen oder symbolische Überhöhungen zu sorgen. Das ist im Lauf ihres ungemein beeindruckenden Autorenlebens nicht immer gutgegangen. Im neuen Roman gelingt es gar nicht schlecht. Zwar wirkt das Einschmuggeln eines Flüchtlingsjungen aus Zimbabwe in das Gartenhaus der Vorstadt etwas aufgesetzt. Der Überfall auf Jabus und Steves schwarze Haushälterin hingegen wird mit lakonischer Wucht erzählt: eine der nachdrücklichsten Szenen des Buchs.
Und auf der allerletzten Seite öffnet die Autorin das kleine Zukunftsfenster für Südafrika - und sich selbst - dann immerhin einen Spaltbreit. Jake, der ANC-Veteran, sitzt mit Steve am Swimmingpool der Schwulen-WG. Die ganze Problem- und Katastrophenlitanei des Landes haben sie mal wieder aufs Neue durchdekliniert. Er habe das Schlamassel ja nun bald hinter sich, beglückwünscht Jake seinen Nachbarn: "Du bist jetzt draußen." Steves Replik wird ausgespart. Wenig später dann der Schlusssatz: "Ich gehe nicht", lautet er. Wer das sagt, bleibt Nadines Gordimers Geheimnis.
JOCHEN HIEBER
Nadine Gordimer: "Keine Zeit wie diese". Roman.
Aus dem Englischen von Barbara Schaden. Berlin Verlag, Berlin 2012. 498 S., geb., 22,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Nobelpreisträgerin Nadine Gordimer ist seit sechs Jahrzehnten die epische Chronistin Südafrikas. "Keine Zeit wie diese", der neue Roman, zieht eine bittere Bilanz der Herrschaft des ANC.
In wenigen Tagen, am 20. November, wird Nadine Gordimer neunundachtzig Jahre alt. Vor dreiundsechzig Jahren erschien ihr erstes Buch, die Kurzgeschichtensammlung "Von Angesicht zu Angesicht", vor neunundfünfzig Jahren dann "Entzauberung", der erste Roman. Helen Shaw, dessen Ich-Erzählerin, trägt unverkennbar autobiographische Züge - wie Nadine Gordimer stammt sie aus einer Goldgräbersiedlung in der südafrikanischen Provinz, wächst in einer weißen Mittelstandsfamilie heran, verlässt ihr Elternhaus im Dissens, engagiert sich in Johannesburg karitativ für die notleidende und unterdrückte schwarze Bevölkerung und erkennt zugleich die Grenzen und die Borniertheit ihres eigenen liberalen Milieus. Im Gegensatz zu ihrer Autorin aber wird Helen Shaw am Ende Südafrika in Richtung Europa verlassen, weil sie auf absehbare Zeit keine Chance dafür sieht, dass sich die von der Apartheid zementierten Verhältnisse ändern werden.
Gehen oder bleiben: das ist auch mehr als sechzig Jahre danach die zentrale Frage, die sich den Hauptfiguren dieser Erzählerin stellt - obgleich sich die Verhältnisse inzwischen grundlegend geändert haben. "Keine Zeit wie diese", der jüngste, mittlerweile fünfzehnte Roman, setzt Mitte der neunziger Jahre ein, kurz nach den ersten wirklich freien Wahlen und der Ernennung Nelson Mandelas zum Präsidenten Südafrikas. Er endet 2009, wenige Monate nach der Wahl von Mandelas Nach-Nachfolger Jacob Zuma zum dritten schwarzen Staatsoberhaupt in der Geschichte des Landes - und er endet in der Gewissheit, dass etwas gründlich schiefgelaufen sein muss in der dazwischenliegenden Zeit.
Hauptort der Handlung ist ein wohlhabender nördlicher Vorort von Johannesburg. Hier hat sich seit dem Ende der Apartheid der neue Mittelstand gebildet: Schwarze, Farbige, Weiße, Lehrer, Rechtsanwälte, Universitätsangehörige, Künstler, Kaufleute, Ingenieure, unter ihnen ehemalige Kämpfer des ANC, des African National Congress. Anfangs noch misstrauisch beäugt, gehört inzwischen sogar eine Schwulen-WG dazu, die sich in einer ehemaligen Kirche eingerichtet hat und deren Swimmingpool zur Attraktion des ganzen Viertels wird. Noch legt man großen Wert darauf, nicht in einem rundum von Zäunen und rund um die Uhr von bewaffnetem Sicherheitspersonal geschützten "Compound" zu leben, eine "gemeinsame Schutzstreife" aber ist längst unverzichtbar - am Rand der Vorstadt warten Armut, Arbeitslosigkeit, Verbrechen.
Sie heißt Jabulile, Kosenamen Jabu, ist schwarz und die Tochter eines Methodistenpfarrers aus KwaZulu. Er heißt Steve, ist weiß und der Sohn einer jüdischen Mutter. Kennengelernt haben sich die beiden als Untergrundkämpfer des ANC, sie wurden "ein klandestines Paar". Jetzt arbeitet sie als Rechtsanwältin, er ist Assistenzprofessor am chemischen Institut der Universität. Sindiswa, ihre Tochter, gilt ihnen als "der erste Abkömmling eines neuen Zeitalters", Gary Elias, der Sohn, kommt dann schon in den scheinbar wohlgeordneten Vorstadt-Verhältnissen zur Welt. Und ganz offenbar wohlgeordnet geht es auch in dieser Vorzeigefamilie des neuen Südafrika zu - bis Jabu eines Tages beim Aufräumen auf etwas neuerlich Klandestines stößt: "Versteckt, als wären es die Liebesbriefe einer anderen Frau", hat Steve die Broschüren und Prospekte aus der Botschaft eines fremden Landes. "Australien", liest Jabu, "braucht Ihr Fachwissen! Australien ruft!"
Gut fünfhundert mit enormer Kraft, bisweilen auch mit Wut erzählte Romanseiten wendet Nadine Gordimer auf, um uns, den Lesern, das Unglaubliche plausibel, das Unerhörte verständlich und das ganze Ausmaß des Skandalons erfahrbar zu machen: Die neue Elite will das Land verlassen, Revolutionäre, aus denen Staatsbürger wurden, erwägen nun eine weitere, eine endgültige Emigration, nachdem viele von ihnen in den Zeiten der Apartheid temporär bei den afrikanischen Nachbarstaaten Zuflucht suchen mussten.
Man spürt diesem Buch unterschwellig die große Angst der Autorin vor einem finalen Verlust an, man spürt, wie sie sich mit äußerster Energie gegen ein fatales Resümee stemmt, jenem nämlich, am Ende selbst vergeblich gelebt, gearbeitet, geschrieben und gekämpft zu haben. Es ist eine außerliterarische, eine ganz und gar existentielle Not, die das Buch vorantreibt. Sie wird nie explizit, gibt sich nie offen preis. Aber sie bezeugt sich elementar dadurch, dass "Keine Zeit wie diese", der Roman einer fast Neunzigjährigen, eines mit Gewissheit nicht ist - ein abgeklärtes Alterswerk.
Was Nadine Gordimer an ihren Hauptfiguren Jabu und Steve erzählend zeigt, geschieht in Südafrikas Wirklichkeit Tag für Tag. Mehr als eine Million Menschen hat das Land in den vergangenen zwei Jahrzehnten verlassen. Davon Zeugin zu sein muss für sie, die seit 1948 in Johannesburg lebt und dort auch in den härtesten Zeiten von Unterdrückung und Zensur ausharrte, einer Katastrophe gleichkommen. Denn es sind ja zu einem gewichtigen Teil "ihre" Leute, die da gehen, es sind, es waren die Hoffnungsträger der Post-Apartheid, nicht die Herren und Herrschaften der alten Zeit. Und im Gegensatz zur Heldin des Debütromans gibt es für die neuen Emigranten, gibt es eben für Jabu und Steve auch keine Aussicht auf Revision. "Ich weiß, dass ich zurückkehren werde", hatte Helen Shaw am Ende der "Entzauberung" noch gesagt.
Weil der Roman alles daransetzt, die nach wie vor lastenden Hypotheken der Vergangenheit, drastischer aber noch die Fehlentwicklungen unter den demokratisch gewählten Regierungen des ANC zu beleuchten, nimmt sich Nadine Gordimer kaum Zeit für rein private Passagen. Einmal schickt sie ihr Paar in den Urlaub, einmal geht Steve allein auf einen Kongress und dabei so unromantisch wie folgenlos auch fremd. Ansonsten erleben wir Jabu und Steve in Dauerkonflikten an ihren jeweiligen Arbeitsplätzen und in Dauerdebatten mit den Vorstadt-Nachbarn über das je aktuelle Geschehen.
Selbst wenn sie ihre Eltern besuchen, mit den Kindern reden oder miteinander rechten: Immer geht es darum, was falsch läuft im Großen und Ganzen - und ob es richtig ist, was sie für sich planen und bereits in die Wege geleitet haben. Denn nach dem ersten Schock steht auch für Jabu außer Zweifel, das Abenteuer Australien in illusionsloser Entschiedenheit zu unterstützen, auch wenn dort im Gegensatz zu Naturwissenschaftlern wie Steve auf Anwälte wie sie offensichtlich wenig Wert gelegt wird.
Diskutiert und reportiert wird also über die Waffengeschäfte, die Korruption und die Prozessverschleppungen, von denen die neuen Mächtigen profitieren - Jacob Zumas Weg an die Spitze des Staats ist ein roter Faden und das rote Tuch des Romans. Erzählt wird vom Elend der Flüchtlinge, die etwa aus Zimbabwe kommen und in Südafrika auf die brutale Gewalt der einheimischen Armen stoßen. Statistiken zu Arbeitslosigkeit und Aidserkrankungen werden referiert, die Stromausfälle der vergangenen Woche gezählt, das Black Empowerment der Bildungspolitik wird attackiert. Er müsse schwarze Studenten unterrichten, "die als halbe Analphabeten aus der Schule kommen", sagt Steve einmal - und er bringt dann auch die gesammelten Enttäuschungen auf den Punkt. "Wir sind alle stinksauer über die Entwicklung, die unser Land nimmt."
Es gehört zu den Eigenarten der Erzählerin Nadine Gordimer, am Ende ihrer Romane rasch noch für abrupte Wendungen oder symbolische Überhöhungen zu sorgen. Das ist im Lauf ihres ungemein beeindruckenden Autorenlebens nicht immer gutgegangen. Im neuen Roman gelingt es gar nicht schlecht. Zwar wirkt das Einschmuggeln eines Flüchtlingsjungen aus Zimbabwe in das Gartenhaus der Vorstadt etwas aufgesetzt. Der Überfall auf Jabus und Steves schwarze Haushälterin hingegen wird mit lakonischer Wucht erzählt: eine der nachdrücklichsten Szenen des Buchs.
Und auf der allerletzten Seite öffnet die Autorin das kleine Zukunftsfenster für Südafrika - und sich selbst - dann immerhin einen Spaltbreit. Jake, der ANC-Veteran, sitzt mit Steve am Swimmingpool der Schwulen-WG. Die ganze Problem- und Katastrophenlitanei des Landes haben sie mal wieder aufs Neue durchdekliniert. Er habe das Schlamassel ja nun bald hinter sich, beglückwünscht Jake seinen Nachbarn: "Du bist jetzt draußen." Steves Replik wird ausgespart. Wenig später dann der Schlusssatz: "Ich gehe nicht", lautet er. Wer das sagt, bleibt Nadines Gordimers Geheimnis.
JOCHEN HIEBER
Nadine Gordimer: "Keine Zeit wie diese". Roman.
Aus dem Englischen von Barbara Schaden. Berlin Verlag, Berlin 2012. 498 S., geb., 22,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main