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Produktdetails
  • Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte
  • Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht
  • Seitenzahl: 462
  • Deutsch, Französisch
  • Abmessung: 250mm
  • Gewicht: 930g
  • ISBN-13: 9783525354483
  • Artikelnr.: 35043684
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.09.1997

Adel verpflichtete zum Raubrittertum
Von der Erfindung einer soziologischen Kategorie und ihren Folgen für die Gesellschaft

"Was ist und woher kommt der Adel?" Mit dieser Frage brachte der Frühhumanist Niklas von Wyle das alteuropäische Nachdenken über den Adel auf den Punkt: Die Frage nach dem Wesen des Adels war immer zugleich auch die nach seiner Herkunft. Die mußte sich nicht in der Tiefe der Vergangenheit verlieren, wenn die Geschichte konkreter Geschlechter zu ermitteln war. So bescheinigte Niklas seinem Herrn, dem Grafen Eberhard von Württemberg, daß dessen Vaterstamm "bis uf Romulum oder Eneam" zurückgerechnet werden könne.

"Adel", das deutsche Wort, war für Niklas auch das Äquivalent für das lateinische "nobilitas", und wo humanistische Adelsapologie noch Aristoteles bemühte, wurde gar die Gleichsetzung mit der griechischen "Aristokratie" vollzogen. Wie der württembergische Kanzlist verfahren bis heute auch die Historiker; Adel, Aristokratie und Nobilität sind für sie kaum trennbare Begriffe, auch wenn Entstehung, Kontinuität und Erscheinungsweisen des Adels zu den schwierigsten Fragen der vormodernen Geschichte gehören.

Der von Otto Gerhard Oexle und Werner Paravicini herausgegebene Sammelband ist an einem "bewußt anthropologisch-sozialwissenschaftlichen Ansatz" orientiert. Die Autoren fragen nach dem adligen Verhalten und der Adelslegitimation, nach dem Adel in Bild und Repräsentation und nach der adligen Kontinuität in Abstammung, Funktion und Bewußtsein. Das diffizile Problem von Adel und Nobilität selbst streift Klaus Schreiner (Bielefeld); und bei dem jungen französischen Mediävisten Joseph Morsel rückt es ins Zentrum. Schreiner fragt im Sinne Max Webers nach der Legitimation der Adelsherrschaft im späten Mittelalter, wie sie Theologen und Juristen erörterten.

Zwar haben schon die Gelehrten der Zeit der "Nobilitas" einen weiten Bedeutungsreichtum bescheinigt, so daß sich etwa Bartolus von Sassoferato (1314 - 1357) damit behalf, "drei Nobilitäten" zu unterscheiden; aber in Mittelalter wie Moderne hat der Begriff "Adel" nach Schreiner doch Strukturelemente einer mit rechtlichen und sozialen Privilegien ausgestatteten Herrenschicht erfaßt, die eine Verallgemeinerung rechtfertigen. Nach den Sprachgewohnheiten des späten Mittelalters bestünden diese Gemeinsamkeiten des Adelsbegriffs in den Merkmalen Abstammung von einem alten Geschlecht, Herrschaft über das Handeln anderer, materieller Reichtum sowie Ehre als Grundlage einer Standeskultur.

Einen ganz anderen und hochinteressanten Weg schlägt Morsel ein: Er resümiert in seiner Abhandlung die Ergebnisse seiner Pariser These von 1993 über ein "deutsches" Thema, den Adel Frankens zwischen dem dreizehnten und dem sechzehnten Jahrhundert. "Adel" dürfe nicht einfach als Übersetzung des lateinischen Wortes "nobilitas" betrachtet werden; "nobilitas wurde fast ausschließlich benutzt, um die adlige Qualität einer Person oder ihres Handelns zu bezeichnen". "Adel" dagegen sei seit dem fünfzehnten Jahrhundert als gesellschaftliche Kategorie gebraucht worden, um die Gesamtheit der Adligen zu bezeichnen. Freilich sei der neue Begriff nicht nur aufgekommen, um soziale Wirklichkeit zu erfassen, er habe diese vielmehr auch selbst hervorgebracht.

In bester Tradition Durkheims betrachtet Morsel "Adel" als ideelle Konstruktion, die den Wandel des sozialen Systems sowohl dargestellt als auch befördert habe. Insbesondere habe der Kollektivsingular dazu gedient, die Gesamtheit der Adligen im Spannungsfeld mit der entstehenden Landesherrschaft sowie im Gegensatz zu den Städten abzugrenzen. Der Begriff "Ritterschaft", dem die gleiche Funktion zugedacht war, setzte sich dagegen nicht durch.

Die Etablierung des "Adels" vollzog sich in einem Diskurs, der durch Gegendiskurse noch gefördert wurde. So beruhten der Vorwurf der Räuberei, den die Städte gegen den Adel erhoben, und die Bewertung der Fehde als Beweis von Kraft und Überlegenheit seitens des Adels auf je eigenen Selbstbehauptungsstrategien, aber auch auf zwei völlig verschiedenen Logiken der Güterzirkulation. Der Adel betrachtete Nehmen und Geben traditionell als Zeichen und Mittel der Macht, die Bürger sahen hingegen im ökonomisch-städtischen Sinne Kaufen und Verkaufen als Zeichen und Mittel des Vermögens. Die Schaffung einer Adelsidentität, die sich großenteils gegen den Nicht-Adel gerichtet habe, sei deshalb wohl die wichtigste Erklärung für die von den Städten angeprangerten Gewalttaten, die ihrerseits untrennbar mit der Schaffung einer städtischen Identität verbunden waren.

Morsels Untersuchung beruht zwar auf fränkischem Quellenmaterial, seine These scheint jedoch vom Gesamtbefund der Überlieferung bestätigt zu werden. Zwar glaubt er selbst nicht daran, daß der Begriff "Adel" durch seine Historisierung entbehrlich werde. Aber sorgfältiger als bisher wird nun zu unterscheiden sein, ob mit "Adel" die Lebensform der Adligen gemeint sein soll oder aber die Gesamtheit ihrer Personen. Jetzt muß auch neu gefragt werden, was "nobilitas" bedeutet. Dabei könnte ein Problem besonders wichtig werden, das vielleicht die europäische Verständigung über den Adel im ganzen betrifft: Wieso kann im Lateinischen von "nobilitates" und im Französischen von "noblesses" die Rede sein, während das deutsche "Adel" stets im Singular erscheint? MICHAEL BORGOLTE

Otto Gerhard Oexle, Werner Paravicini (Hrsg.): "Nobilitas". Funktion und Repräsentation des Adels in Alteuropa. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1997. 463 S., Abb., geb., 98,- DM.

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