20,00 €
inkl. MwSt.
Versandkostenfrei*
Sofort lieferbar
  • Gebundenes Buch

Wie aus dem rauchenden Pott das Land der Zeit wurde
Einst Agrarwelt, dann Industriemoloch, heute dicht besiedelter Landschaftspark - kaum eine Region Europas hat sich in den letzten 150 Jahren so radikal verändert wie das Ruhrgebiet. Die notorische Frage, was seine Identität ausmacht, muss unter diesen Umständen ins Leere laufen. Außer man stellt sie selbst radikal. Per Leo versucht es und findet überraschende Antworten. Liegt der Schlüssel zum Ruhrgebiet womöglich in seinem Reichtum an Zeitbezügen, im endlosen Spiel zwischen dem, was nicht mehr, und dem, was noch nicht ist?
Dieses Buch
…mehr

Produktbeschreibung
Wie aus dem rauchenden Pott das Land der Zeit wurde

Einst Agrarwelt, dann Industriemoloch, heute dicht besiedelter Landschaftspark - kaum eine Region Europas hat sich in den letzten 150 Jahren so radikal verändert wie das Ruhrgebiet. Die notorische Frage, was seine Identität ausmacht, muss unter diesen Umständen ins Leere laufen. Außer man stellt sie selbst radikal. Per Leo versucht es und findet überraschende Antworten. Liegt der Schlüssel zum Ruhrgebiet womöglich in seinem Reichtum an Zeitbezügen, im endlosen Spiel zwischen dem, was nicht mehr, und dem, was noch nicht ist?

Dieses Buch widmet sich dem Phänomen Ruhrgebiet in zwei Anläufen. Ausgehend vom Schlüsseljahr 1958, dem Beginn der Kohlekrise, befasst sich der Schriftsteller Per Leo zunächst mit Ruhrgebietstexten von Heinrich Böll, Joseph Roth, Erik Reger, Paul Berglar-Schröer, Wolfram Eilenberger u. a. Aus der Vogelperspektive, so zeigt sich, schwankte die Region immer schon zwischen unvollendetem Projektund nostalgischer Sehnsucht. Doch aus der Innensicht ergibt sich ein differenzierteres Bild. Als Historiker nimmt Leo nämlich noch ein anderes
Schlüsseljahr unter die Lupe - und rekonstruiert dabei die Geschichte eines Aufbruchs. Als 1978 die Montanindustrie im Sterben lag, brachte ein historisch interessiertes Netzwerk in Essen die Zeiten zum Tanzen. Das Beispiel zeigt auch, wo die Zukunft des Ruhrgebiets liegt: nicht in den visionären Entwürfen einer »Modellregion«, sondern im lokalen Gelingen. Das Echo von Essen ist heute im ganzen Ruhr-Emscher-Park zu hören. Und besonders deutlich in Gelsenkirchen!
Autorenporträt
Per Leo, geb. 1972, wurde mit einer Arbeit über die Geschichte des Antisemitismus in Deutschland promoviert. Sein Debütroman 'Flut und Boden' stand auf der Shortlist des Leipziger Buchpreises. Der von ihm mitverfassten Leitfaden 'Mit Rechten reden' wurde zum vieldiskutierten Bestseller. Leo lebt als freier Autor und Schatullenproduzent in Berlin.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Eine äußerst originelle Geschichte des Ruhrgebiets schreibt Per Leo in seinem neuen Buch, findet Rezensent Andreas Rossmann. So lesen wir im ersten Teil des Buches, laut Rossmann, nicht von Kulturschauplätzen in Essen oder Bochum, sondern Auszüge aus einem "Oral-History-Projekt", das von Lutz Niethammer 1980 an der Uni Essen initiiert wurde, klärt der Kritiker auf. Dem Ruhrgebiet nähert sichi Leo literarisch, seine Darstellung ist gelegentlich feuilletonistisch, mitunter satirisch, so Rossmann. Im zweiten Teil geht Leo auf die "Essener Schule" um Lutz Niethammer und Ernst Schmidt ein, die im Ruhrgebiet die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit betrieben und diese mit der "Erforschung der Industriegesellschaft" verbunden haben, erfahren wir. Dies liest sich alles "eloquent, assoziativ, pointiert", so der Kritiker, den ersten Teil des Buches auf den zweiten zu beziehen bleibt aber dem Leser überlassen, schließt er.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.11.2023

Zwischen den Zeiten
Per Leos Essay über das Ruhrgebiet

Wo spürt man den Herzschlag des Ruhrgebiets? Auf der Zeche Zollverein in Essen, vor dem Schauspielhaus Bochum, auf dem Schalker Markt, auf dem Borsigplatz in Dortmund? Per Leo führt an keinen dieser Orte und überrascht mit der Auskunft, dass "man den Herzschlag des Reviers kaum irgendwo deutlicher" als in den Beiträgen von LUSIR hören könne. LUSIR? Das ist das Akronym von "Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930 bis 1960", einem Oral-History-Projekt, das Lutz Niethammer 1980 an der Universität Essen auf den Weg gebracht und die Fernuniversität Hagen als Onlinearchiv bereitgestellt hat.

Auf "diese Diamanten in einem Meer von Rost" stieß Leo als "Metropolenschreiber Ruhr", als der er auf Einladung der Brost-Stiftung ein halbes Jahr in Mülheim residierte. Die Entdeckung kennzeichnet seine Annäherung, die nicht so sehr über die eigene Anschauung als über die Literatur erfolgte. Dass sie nicht in, aber mit Bielefeld beginnt, das als Gegenbild, auch als Gegenklang des "zerklüfteten Ballungsraums" ausgemacht wird, ist nur die erste Besonderheit seines Buches, und wie Leo einem "Vater" die Klischees um die Ohren haut, gibt den Anstoß seiner kritischen Lektüren: "Heinrich Böll schreibt über das Ruhrgebiet wie ein Hausmeister, der lieber auf seinem Schlüsselbund musiziert, als den Konzertsaal zu öffnen. Ständig klimpert er mit Worten herum, die einfach nicht zum Gegenstand passen wollen."

"Das Ruhrgebiet ist noch nicht entdeckt worden": Bölls viel zitierter erster Satz von 1958 enthält aber auch die blochsche Kategorie des "Noch-nicht", die den von früheren "schreibenden Ruhrgebietsgästen" (Joseph Roth, Heinrich Hauser, auch Paul Berglar-Schröer) geschärften Außenblick des Autors leitet. Die Radikalität, mit der es sich verändert hat, mache das Ruhrgebiet zu einem "bipolaren Sozialraum", in dem es - da folgt Leo einem seiner Vorgänger als Metropolenschreiber, dem Philosophen Wolfram Eilenberger - simultan, doch unverbunden in "mythischer Nachzeitigkeit" und als "ewige Zukunftsspur" existiere. Eine Wechselbeziehung von Altem und Neuem habe sich in der Region nie stabilisiert, das bestimme ihre Identitätskrise. Der Titel bringt sie aufs Wortspiel: "Noch nicht mehr".

Die Darstellung springt zwischen Diskurskritik und Feuilleton, Reportage und Recherche und leistet sich satirische Abschweifungen. Im zweiten Teil nimmt Leo einen neuen Anlauf und zeichnet nach, wie die Gründung der Heinrich-Heine-Buchhandlung in Essen 1978 zum Impuls für eine Gegenöffentlichkeit wurde, in der Geschichtswerkstatt und akademische Wissenschaft zusammenfanden, um die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und die Erforschung der Industriegesellschaft zu verknüpfen. Der in sowjetischer Gefangenschaft geschulte Antifaschist Ernst Schmidt und der aus Schwaben eingewanderte Lutz Niethammer waren ihre Protagonisten, die Alte Synagoge ihr Treffpunkt, der von Ludger Claßen geführte Klartext-Verlag ihr Forum. Die Erinnerung an die "Essener Schule", von der Niethammer lieber, mit Reverenz an den Ort, als "Essener Schul" spricht, gerät zu einer Würdigung, die Studien ihrer Exponenten (Ulrich Herbert, Detlev Peukert, Michael Zimmermann, Franz-Josef Brüggemeier, Dirk van Laak) vorstellt und einordnet.

Wie die regionale Geschichtskultur der Internationalen Bauausstellung Emscher Park das Terrain bereiten half, wird nicht erörtert: Der "Narbenpark" kommt über den Münchner Olympiapark ins Ruhrgebiet. Der Umweg lässt den Historiker Leo hinter den Metropolenschreiber Leo zurücktreten. In der Nachspielzeit besucht er die Arena Auf Schalke, um ein Satyrspiel zu inszenieren: Das Steigerlied kontrapunktiert ein Gespräch, in das ihn der Impresario der Mythos-Schalke-Tour verwickelte. Innensicht und Außenperspektive geraten über Kreuz.

Per Leo schreibt eloquent, assoziativ, pointiert, auch polemisch. Wie die beiden Teile von "Noch nicht mehr" sich aufeinander beziehen, wird zur Frage an den Leser; wie aus dem Spiel mit Zeitbezügen eine Ruhrgebietsidentität erwachsen soll, bleibt Zukunftsmusik. Der Essay setzt Noten für eine Melodie, die noch nicht gefunden ist. ANDREAS ROSSMANN

Per Leo:

"Noch nicht mehr".

Die Zeit des Ruhrgebiets.

Tropen Verlag, Stuttgart 2023, 192 S., Abb., geb., 20,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr
»Per Leo schreibt eloquent, assoziativ, bildreich, pointiert, auch polemisch. [...] Der Essay setzt Noten für eine Melodie, die noch nicht gefunden ist.« Andreas Rossmann, Geschichtskultur Ruhr, Ausgabe 01/2024 Andreas Rossmann Geschichtskultur Ruhr 20240401