Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.10.2009Wo Schmalz und Tränen fließen
Bekannte Karrieren, gefälschte Gefühle: Kazuo Ishiguros erster Erzählungsband kennt die Tücken des Talents und das Gift der musikalischen Gabe.
Von Hubert Spiegel
Es gibt Kochrezepte, die man vielleicht besser nicht nachkochen sollte. Hier ist eines: Man nimmt einen Kochtopf mittlerer Größe, füllt ihn mit einem halben Liter Wasser sowie zwei Brühwürfeln. Dazu kommen ein Teelöffel Kreuzkümmel, ein Esslöffel Paprika, zwei Esslöffel Essig und ein ordentlicher Schwung Lorbeerblätter. Bevor man das Ganze aufkocht, um es dann leise vor sich hin köcheln zu lassen, gibt man noch einen alten Schuh hinein, wobei sorgsam darauf zu achten ist, dass die Sohle, falls sie aus Gummi sein sollte, keinesfalls mitgekocht wird. In der Variante eines gewissen Tony Barton gehören noch Nacktschnecken dazu, aber die sind entbehrlich, wenn es nur darum geht, den gewünschten Effekt zu erzielen. Er besteht darin, dass die gesamte Wohnung, wenn die Brühe nur lange genug geköchelt hat, von einem intensiven Hundegeruch durchzogen wird. Das Rezept findet sich in einem Buch, in dem es den Angaben des deutschen Verlages zufolge vor allem darum geht, zu zeigen, "wie die Musik imstande ist, Menschen zusamenzubringen, die sich sonst nie begegnet wären".
Die fünf Erzählungen, die der englische Booker-Preisträger Kazuo Ishiguro unter dem deutschen Titel "Bei Anbruch der Nacht" zusammengefügt hat, handeln tatsächlich von der Musik. Aber sie berichten eher davon, wie Musik die Menschen auseinanderbringen kann. Sie erzählen vom langsamen Abstieg eines Stars und von der endlosen Durststrecke des ewigen Talents, das sich mit Studioaufträgen durchschlägt und den Glauben an die große Solokarriere längst aufgegeben hat. Sie erzählen von den Tücken des Talents und dem Gift der musikalischen Gabe. Sie beschreiben die Opfer, die nötig sind, um nach oben zu kommen, und die Enttäuschung, die einsetzt, wenn sie vergeblich waren. Und sie machen deutlich, dass Musik zwar noch immer der Liebe Nahrung sein kann, aber dass die Umkehrung von Shakespeares schönem Satz in der Regel nicht lange funktioniert: Die Musik stillt mit der Liebe allenfalls ihren ersten Appetit. Danach nährt sie sich von Mühsal, Schweiß und Illusionen.
In der fünften und letzten Erzählung des Bandes lernt ein Cellist aus Osteuropa eine Amerikanerin kennen. Die nicht mehr ganz junge Frau, offenbar eine Cellovirtuosin von Format, spricht den jungen Musiker nach einem seiner äußerst schlecht besuchten Konzerte an. Rasch etabliert sich ein Verhältnis, das an Uneindeutigkeit nicht zu überbieten ist: Hier sind zwei Seelenverwandte und Schicksalsgenossen aufeinandergestoßen, zwei Auserwählte, zwei Ausnahmemusiker, wie sie nur selten geboren werden, aber zugleich auch zwei eitle Träumer auf der Flucht vor den wahren Verhältnissen.
Woran mag es liegen, dass die erfahrene Lehrerin, als die sie sich dem jungen Mann andient, nie selbst zum Instrument greift? Wovor ist die Virtuosin in die norditalienische Hafenstadt geflohen, hat sie keine Verpflichtungen, keine Konzerttermine? Oder sind ihre wahren Interessen womöglich erotischer Natur? Ishiguro lässt all dies lange in der Schwebe. Sein Erzähler ist, wie bereits in der ersten Geschichte, Mitglied eines Kaffeehausorchesters, ein musikalischer Handwerker also, der tagaus, tagein sein touristentaugliches Repertoire herunterschrammeln muss, solange die Saison andauert.
Virtuosen der Selbstvermarktung.
Es ist kein Zufall, dass Ishiguro gleich mehrfach Figuren aus Osteuropa und aus den Vereinigten Staaten aufeinandertrefffen lässt. Er tut es um der doppelten Desillusionierung willen. Ishiguro, der 1954 in Nagasaki geboren wurde und sechs Jahre später nach London kam, wo er heute mit seiner Familie lebt, weiß aus eigener Erfahrung, wie fruchtbar es sein kann, die Gebräuche und Traditionen eines Kulturkreises mit fremdem Blick zu betrachten. In seinem 1989 erschienenen Roman "Was vom Tage übrigblieb" untersuchte er die britische Klassengesellschaft, und in seinem jüngsten Roman, "Alles, was wir geben mussten", variierte er das urenglische Erzählmuster der Internatsgeschichte, indem er die klassische Erziehungsanstalt zum biotechnologischen Ersatzteillager umfunktionierte: Seine Internatsschüler sind Klonkinder, die nur erzeugt wurden, um als Organspender zu dienen.
Ganz so weit geht er jetzt nicht, aber die beiden Patienten eines Schönheitschirurgen, die Ishiguro in der Titelgeschichte in einem Luxushotel aufeinandertreffen lässt, sind erst in zweiter Linie Menschen. Zunächst einmal sind sie Produkte, die optimiert werden müssen, wenn sie auf einem hart umkämpften Markt noch eine Chance haben sollen.
Lindy Gardner spielt zwar kein Instrument, ist aber dennoch die heimliche Hauptfigur des Buches. Ihren ersten Auftritt hat sie gleich zu Beginn, als sie zusammen mit ihrem Mann, einem einst weltbekannten Schnulzensänger, nach Venedig kommt. Der Erzähler, ein junger Gitarrist aus Osteuropa, spricht das Idol seiner Kindheitstage an und wird sogleich engagiert. Gardner wird seiner Frau am Abend von der Gondel aus ein Ständchen bringen und will sich dabei begleiten lassen. Was der Erzähler zunächst für einen romantischen Einfall zum Hochzeitstag hält, ist in Wahrheit ein Abschiedsgeschenk. Die Gardners lieben sich zwar, aber das Karrierekalkül verlangt die Trennung. Wenn dem alten Schnulzenkönig noch ein Comeback glücken soll, braucht er dazu eine aufsehenerregend junge Frau an seiner Seite. Und wenn die nicht mehr ganz taufrische Lindy noch einmal einen aufstrebenden Star einwickeln will, hat auch sie keine Zeit zu verlieren.
In der vierten Geschichte begegnen wir Lindy noch einmal. Jetzt ist die professionelle Ehefrau bandagiert wie eine Mumie und vertreibt sich die Zeit mit einem Zimmernachbarn, einem Jazzmusiker, der sich einreden ließ, er würde den Durchbruch schaffen, wenn er nur ein kleines bißchen besser aussehen würde. Auf ihren nächtlichen Streifzügen durch das Luxushotel, in dem sie, streng abgeschirmt von den übrigen Gästen, wie im Gefängnis gehalten werden, kommt es zu irrwitzigen Szenen und anrührenden Momenten zwischen zwei Menschen, die nichts, aber auch absolut nichts miteinander gemein haben. Außer einer Kleinigkeit: Sie lassen sich beide die Haut abziehen, um sie besser zu Markte tragen zu können.
Aber wie ist Ishiguro nun von der Musik auf das Rezept für authentisches Hundearoma gekommen? Nur so viel: Es geht darum, dem unschuldigen Nachbarshund eine fatale Indiskretion in die Schuhe zu schieben. Anders gesagt: Eine Ehe soll gerettet werden. Besser gesagt: Ein alter Freund wird schamlos ausgenutzt. Oder, und das trifft es wahrscheinlich am besten: Es geht zu wie bei Loriot. Ishiguro, den sein erster Erzählungsband von einer neuen Seite zeigt, hat alle fünf Geschichten äußerst klug konstruiert und bedient sich bei seinen Handlungskaskaden des Dominoeffekts: Alles schnurrt präzise ab, aber wirklich spannend wird es erst, wenn plötzlich ein Halmastein ins Spiel kommt. Dass der tiefernste Ishiguro, einer der wichtigsten englischen Autoren seiner Generation, zu Szenen von solch absurder Komik fähig ist, ist die größte Überraschung dieses mit unerwarteten Wendungen gespickten Buches.
Kazuo Ishiguro: "Bei Anbruch der Nacht". Aus dem Englischen von Barbara Schaden. Karl Blessing Verlag, München 2009. 240 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bekannte Karrieren, gefälschte Gefühle: Kazuo Ishiguros erster Erzählungsband kennt die Tücken des Talents und das Gift der musikalischen Gabe.
Von Hubert Spiegel
Es gibt Kochrezepte, die man vielleicht besser nicht nachkochen sollte. Hier ist eines: Man nimmt einen Kochtopf mittlerer Größe, füllt ihn mit einem halben Liter Wasser sowie zwei Brühwürfeln. Dazu kommen ein Teelöffel Kreuzkümmel, ein Esslöffel Paprika, zwei Esslöffel Essig und ein ordentlicher Schwung Lorbeerblätter. Bevor man das Ganze aufkocht, um es dann leise vor sich hin köcheln zu lassen, gibt man noch einen alten Schuh hinein, wobei sorgsam darauf zu achten ist, dass die Sohle, falls sie aus Gummi sein sollte, keinesfalls mitgekocht wird. In der Variante eines gewissen Tony Barton gehören noch Nacktschnecken dazu, aber die sind entbehrlich, wenn es nur darum geht, den gewünschten Effekt zu erzielen. Er besteht darin, dass die gesamte Wohnung, wenn die Brühe nur lange genug geköchelt hat, von einem intensiven Hundegeruch durchzogen wird. Das Rezept findet sich in einem Buch, in dem es den Angaben des deutschen Verlages zufolge vor allem darum geht, zu zeigen, "wie die Musik imstande ist, Menschen zusamenzubringen, die sich sonst nie begegnet wären".
Die fünf Erzählungen, die der englische Booker-Preisträger Kazuo Ishiguro unter dem deutschen Titel "Bei Anbruch der Nacht" zusammengefügt hat, handeln tatsächlich von der Musik. Aber sie berichten eher davon, wie Musik die Menschen auseinanderbringen kann. Sie erzählen vom langsamen Abstieg eines Stars und von der endlosen Durststrecke des ewigen Talents, das sich mit Studioaufträgen durchschlägt und den Glauben an die große Solokarriere längst aufgegeben hat. Sie erzählen von den Tücken des Talents und dem Gift der musikalischen Gabe. Sie beschreiben die Opfer, die nötig sind, um nach oben zu kommen, und die Enttäuschung, die einsetzt, wenn sie vergeblich waren. Und sie machen deutlich, dass Musik zwar noch immer der Liebe Nahrung sein kann, aber dass die Umkehrung von Shakespeares schönem Satz in der Regel nicht lange funktioniert: Die Musik stillt mit der Liebe allenfalls ihren ersten Appetit. Danach nährt sie sich von Mühsal, Schweiß und Illusionen.
In der fünften und letzten Erzählung des Bandes lernt ein Cellist aus Osteuropa eine Amerikanerin kennen. Die nicht mehr ganz junge Frau, offenbar eine Cellovirtuosin von Format, spricht den jungen Musiker nach einem seiner äußerst schlecht besuchten Konzerte an. Rasch etabliert sich ein Verhältnis, das an Uneindeutigkeit nicht zu überbieten ist: Hier sind zwei Seelenverwandte und Schicksalsgenossen aufeinandergestoßen, zwei Auserwählte, zwei Ausnahmemusiker, wie sie nur selten geboren werden, aber zugleich auch zwei eitle Träumer auf der Flucht vor den wahren Verhältnissen.
Woran mag es liegen, dass die erfahrene Lehrerin, als die sie sich dem jungen Mann andient, nie selbst zum Instrument greift? Wovor ist die Virtuosin in die norditalienische Hafenstadt geflohen, hat sie keine Verpflichtungen, keine Konzerttermine? Oder sind ihre wahren Interessen womöglich erotischer Natur? Ishiguro lässt all dies lange in der Schwebe. Sein Erzähler ist, wie bereits in der ersten Geschichte, Mitglied eines Kaffeehausorchesters, ein musikalischer Handwerker also, der tagaus, tagein sein touristentaugliches Repertoire herunterschrammeln muss, solange die Saison andauert.
Virtuosen der Selbstvermarktung.
Es ist kein Zufall, dass Ishiguro gleich mehrfach Figuren aus Osteuropa und aus den Vereinigten Staaten aufeinandertrefffen lässt. Er tut es um der doppelten Desillusionierung willen. Ishiguro, der 1954 in Nagasaki geboren wurde und sechs Jahre später nach London kam, wo er heute mit seiner Familie lebt, weiß aus eigener Erfahrung, wie fruchtbar es sein kann, die Gebräuche und Traditionen eines Kulturkreises mit fremdem Blick zu betrachten. In seinem 1989 erschienenen Roman "Was vom Tage übrigblieb" untersuchte er die britische Klassengesellschaft, und in seinem jüngsten Roman, "Alles, was wir geben mussten", variierte er das urenglische Erzählmuster der Internatsgeschichte, indem er die klassische Erziehungsanstalt zum biotechnologischen Ersatzteillager umfunktionierte: Seine Internatsschüler sind Klonkinder, die nur erzeugt wurden, um als Organspender zu dienen.
Ganz so weit geht er jetzt nicht, aber die beiden Patienten eines Schönheitschirurgen, die Ishiguro in der Titelgeschichte in einem Luxushotel aufeinandertreffen lässt, sind erst in zweiter Linie Menschen. Zunächst einmal sind sie Produkte, die optimiert werden müssen, wenn sie auf einem hart umkämpften Markt noch eine Chance haben sollen.
Lindy Gardner spielt zwar kein Instrument, ist aber dennoch die heimliche Hauptfigur des Buches. Ihren ersten Auftritt hat sie gleich zu Beginn, als sie zusammen mit ihrem Mann, einem einst weltbekannten Schnulzensänger, nach Venedig kommt. Der Erzähler, ein junger Gitarrist aus Osteuropa, spricht das Idol seiner Kindheitstage an und wird sogleich engagiert. Gardner wird seiner Frau am Abend von der Gondel aus ein Ständchen bringen und will sich dabei begleiten lassen. Was der Erzähler zunächst für einen romantischen Einfall zum Hochzeitstag hält, ist in Wahrheit ein Abschiedsgeschenk. Die Gardners lieben sich zwar, aber das Karrierekalkül verlangt die Trennung. Wenn dem alten Schnulzenkönig noch ein Comeback glücken soll, braucht er dazu eine aufsehenerregend junge Frau an seiner Seite. Und wenn die nicht mehr ganz taufrische Lindy noch einmal einen aufstrebenden Star einwickeln will, hat auch sie keine Zeit zu verlieren.
In der vierten Geschichte begegnen wir Lindy noch einmal. Jetzt ist die professionelle Ehefrau bandagiert wie eine Mumie und vertreibt sich die Zeit mit einem Zimmernachbarn, einem Jazzmusiker, der sich einreden ließ, er würde den Durchbruch schaffen, wenn er nur ein kleines bißchen besser aussehen würde. Auf ihren nächtlichen Streifzügen durch das Luxushotel, in dem sie, streng abgeschirmt von den übrigen Gästen, wie im Gefängnis gehalten werden, kommt es zu irrwitzigen Szenen und anrührenden Momenten zwischen zwei Menschen, die nichts, aber auch absolut nichts miteinander gemein haben. Außer einer Kleinigkeit: Sie lassen sich beide die Haut abziehen, um sie besser zu Markte tragen zu können.
Aber wie ist Ishiguro nun von der Musik auf das Rezept für authentisches Hundearoma gekommen? Nur so viel: Es geht darum, dem unschuldigen Nachbarshund eine fatale Indiskretion in die Schuhe zu schieben. Anders gesagt: Eine Ehe soll gerettet werden. Besser gesagt: Ein alter Freund wird schamlos ausgenutzt. Oder, und das trifft es wahrscheinlich am besten: Es geht zu wie bei Loriot. Ishiguro, den sein erster Erzählungsband von einer neuen Seite zeigt, hat alle fünf Geschichten äußerst klug konstruiert und bedient sich bei seinen Handlungskaskaden des Dominoeffekts: Alles schnurrt präzise ab, aber wirklich spannend wird es erst, wenn plötzlich ein Halmastein ins Spiel kommt. Dass der tiefernste Ishiguro, einer der wichtigsten englischen Autoren seiner Generation, zu Szenen von solch absurder Komik fähig ist, ist die größte Überraschung dieses mit unerwarteten Wendungen gespickten Buches.
Kazuo Ishiguro: "Bei Anbruch der Nacht". Aus dem Englischen von Barbara Schaden. Karl Blessing Verlag, München 2009. 240 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.11.2009Musik, unhörbar
Kazuo Ishiguros neue Erzählungen „Bei Anbruch der Nacht”
In vier der fünf Erzählungen des neuen Buches von Kazuo Ishiguro stehen Musiker im Zentrum: Ein Saxophonist, der sich einer Schönheitsoperation unterzieht, um seiner Karriere aufzuhelfen, ein Cellist, der zufällig eine neue Lehrerin findet, ein Gitarrist, der einer alten Lehrerin wiederbegegnet und noch ein Gitarrist, der in Cafés auf dem Markusplatz Gassenhauer spielt. In der fünften Erzählung geht es um einen Sprachenlehrer mit einer Vorliebe für Chet Baker, er kommt nach London, in die Heimatstadt des 1954 in Nagasaki geborenen, 1960 nach England gekommenen Ishiguro, um die Beziehung seines besten Freundes zu retten.
Überhaupt spielen Liebe, Verlangen und Verlust eine wichtige Rolle, ja es bildet dieser Dreiklang das eigentliche Thema der Erzählungen Ishiguros. Die Musik schafft dabei jedoch kaum mehr als eine oberflächliche Verbindung. So blau und breit, wie ein Tenorsaxophon auf dem Umschlag des Buches prangt, fühlt man sich in seinen Erwartungen jedoch enttäuscht. Man möchte nämlich etwas hören. Und wenn schon nicht die Musik selbst, nicht die musikalische Erfahrung zum Gegenstand wird, dann erhofft man sich doch wenigstens ein unterschwelliges Grummeln, ein nervöses Flirren, irgendetwas, das die musikalische Saite in einem selbst zum Schwingen bringt. Etwas also, das jede gute Literatur bewirkt.
Sweetheart und andere Dinge
Dass dies nicht passiert, liegt vor allem an der Sprache, in der diese Erzählungen geschrieben sind. Sie wirkt hölzern und gestelzt. Jeder Schmelz, aber auch jedes Gefühl für Rhythmik geht ihr ab. Schuld an diesem Mangel ist jedoch nicht der Autor allein. Auch der Übersetzerin Barbara Schaden fehlt es an Feingefühl. Immer wieder bleibt sie an den englischen Wendungen hängen, statt deutsche Entsprechungen zu suchen. Wenn etwa jemand sagt, „welche Lieder er wollte, welche Tonarten er bevorzugte, solche Dinge”, dann fällt einem sofort das Englische „such things” ein. Im Deutschen aber wirkt „solche Dinge” überaus unnatürlich. Wie auch die nachgestellten Anreden in „wie geht’s dir, Lieber” oder „wissen Sie, Süßer”. „Dear”, „sweetheart” oder „darling” dienen im Englischen der Abrundung und fallen nicht weiter auf. Im Deutschen aber kling „Süßer” und „Lieber” steif und falsch, und es bleibt unverständlich, warum die Übersetzerin dagegen bei „meine Mum” das englische Wort stehen lässt, statt einfach „meine Mutter” zu schreiben.
Am deutlichsten wird wohl die Unsicherheit, ja das Unvertrauen in die deutsche Sprache, wenn es heißt: „mit anderen Worten, Charlie, du hast keinen Rat”. Hier hätte es eine Vielzahl Möglichkeiten gegeben: „du hast also keinen Ratschlag für mich” oder auch „du weißt keinen Rat”. Es fänden sich noch viele weitere Beispiele, aber durch die mangelhafte Übersetzung hindurch lässt sich auch erkennen, dass Ishiguro nicht überragend musikalisch sein kann.
Überdies ist er wahrlich kein Meister im Schreiben von Dialogen – und leider besteht ein Großteil seiner Erzählungen aus Dialogen. Für den Leser endet darum das Gespräch mit diesem Buch ziemlich schnell.TOBIAS LEHMKUHL
KAZUO ISHIGURO: Bei Anbruch der Nacht. Aus dem Englischen von Barbara Schaden. Blessing Verlag, München 2009. 240 Seiten, 19,95 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Kazuo Ishiguros neue Erzählungen „Bei Anbruch der Nacht”
In vier der fünf Erzählungen des neuen Buches von Kazuo Ishiguro stehen Musiker im Zentrum: Ein Saxophonist, der sich einer Schönheitsoperation unterzieht, um seiner Karriere aufzuhelfen, ein Cellist, der zufällig eine neue Lehrerin findet, ein Gitarrist, der einer alten Lehrerin wiederbegegnet und noch ein Gitarrist, der in Cafés auf dem Markusplatz Gassenhauer spielt. In der fünften Erzählung geht es um einen Sprachenlehrer mit einer Vorliebe für Chet Baker, er kommt nach London, in die Heimatstadt des 1954 in Nagasaki geborenen, 1960 nach England gekommenen Ishiguro, um die Beziehung seines besten Freundes zu retten.
Überhaupt spielen Liebe, Verlangen und Verlust eine wichtige Rolle, ja es bildet dieser Dreiklang das eigentliche Thema der Erzählungen Ishiguros. Die Musik schafft dabei jedoch kaum mehr als eine oberflächliche Verbindung. So blau und breit, wie ein Tenorsaxophon auf dem Umschlag des Buches prangt, fühlt man sich in seinen Erwartungen jedoch enttäuscht. Man möchte nämlich etwas hören. Und wenn schon nicht die Musik selbst, nicht die musikalische Erfahrung zum Gegenstand wird, dann erhofft man sich doch wenigstens ein unterschwelliges Grummeln, ein nervöses Flirren, irgendetwas, das die musikalische Saite in einem selbst zum Schwingen bringt. Etwas also, das jede gute Literatur bewirkt.
Sweetheart und andere Dinge
Dass dies nicht passiert, liegt vor allem an der Sprache, in der diese Erzählungen geschrieben sind. Sie wirkt hölzern und gestelzt. Jeder Schmelz, aber auch jedes Gefühl für Rhythmik geht ihr ab. Schuld an diesem Mangel ist jedoch nicht der Autor allein. Auch der Übersetzerin Barbara Schaden fehlt es an Feingefühl. Immer wieder bleibt sie an den englischen Wendungen hängen, statt deutsche Entsprechungen zu suchen. Wenn etwa jemand sagt, „welche Lieder er wollte, welche Tonarten er bevorzugte, solche Dinge”, dann fällt einem sofort das Englische „such things” ein. Im Deutschen aber wirkt „solche Dinge” überaus unnatürlich. Wie auch die nachgestellten Anreden in „wie geht’s dir, Lieber” oder „wissen Sie, Süßer”. „Dear”, „sweetheart” oder „darling” dienen im Englischen der Abrundung und fallen nicht weiter auf. Im Deutschen aber kling „Süßer” und „Lieber” steif und falsch, und es bleibt unverständlich, warum die Übersetzerin dagegen bei „meine Mum” das englische Wort stehen lässt, statt einfach „meine Mutter” zu schreiben.
Am deutlichsten wird wohl die Unsicherheit, ja das Unvertrauen in die deutsche Sprache, wenn es heißt: „mit anderen Worten, Charlie, du hast keinen Rat”. Hier hätte es eine Vielzahl Möglichkeiten gegeben: „du hast also keinen Ratschlag für mich” oder auch „du weißt keinen Rat”. Es fänden sich noch viele weitere Beispiele, aber durch die mangelhafte Übersetzung hindurch lässt sich auch erkennen, dass Ishiguro nicht überragend musikalisch sein kann.
Überdies ist er wahrlich kein Meister im Schreiben von Dialogen – und leider besteht ein Großteil seiner Erzählungen aus Dialogen. Für den Leser endet darum das Gespräch mit diesem Buch ziemlich schnell.TOBIAS LEHMKUHL
KAZUO ISHIGURO: Bei Anbruch der Nacht. Aus dem Englischen von Barbara Schaden. Blessing Verlag, München 2009. 240 Seiten, 19,95 Euro.
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