Produktdetails
  • Verlag: Mondadori
  • ISBN-13: 9788804489474
  • Artikelnr.: 25051896
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.11.2002

Das ist die Liebe der Chirurgen
Bewegte Auszeit: Margaret Mazzantinis zwiespältiger Amour fou / Von Harald Hartung

Nichts ist erfolgreicher als der Erfolg - sofern er kein Danaergeschenk ist. Margaret Mazzantini, 1961 in Irland geboren, begann ihre Karriere als Bühnenschauspielerin. 1984 wurde sie in Italien als "Beste Schauspielerin des Jahres" ausgezeichnet. Als sie zehn Jahre später als Autorin debütierte, schien sie perfekt wie Athene, als sie dem Haupt des Zeus entsprang. "Die Zinkwanne", eine über ein Jahrhundert reichende Familienchronik, und "Manola", die Geschichte zweier ungleicher Zwillingsschwestern, fanden auch bei deutschen Lesern Anklang.

Für ihren neuen Roman "Non ti muovere" erhielt Margaret Mazzantini drei italienische Literaturpreise: den renommierten Premio Strega, dazu den Premio Rapallo und den Premio Grinzane Cavour. "Non ti muovere" ist in Italien ein Bestseller. Auch der deutschen Ausgabe dürfte der Erfolg sicher sein. Die Autorin zeigt erneut ihr Geschick, das Effekte nicht verschmäht. Weder die eleganten und ironischen noch die grellen und grotesken.

Glauben wir einem unserer großen Erzähler, so ist Epik sublimierte Langeweile. Daran freilich verschwendet die Mazzantini nicht einen ihrer klugen Gedanken. Auch ihr neuer Roman "Geh nicht fort" ist spannend vom Anfang bis - fast - zum Schluß. Nur wenige Leser wird es kümmern, ob dieses Buch große Literatur ist. Ist es auch nicht. Und doch ist die Sache ein wenig vertrackter. "Geh nicht fort" zeigt alle Züge von Kalkül und routinierter Konfektion. Und doch gelingt der Autorin etwas, das im Programm nicht vorgesehen ist. Durch eine ihrer Figuren und zumindest für einige Szenen wird der Leser aus seiner konsumierenden Haltung herausgerissen. "Geh nicht fort" hat einen faszinierenden bitteren Kern, dessen Geschmack man noch lange nach der Lektüre spürt.

Durchaus suggestiv ist die Exposition. Ein Mann wartet vor dem Operationssaal, in dem seine mit ihrem Motorroller verunfallte fünfzehnjährige Tochter mit schweren Kopfverletzungen zur Operation vorbereitet wird. Genug Zeit, sein bisheriges Leben Revue passieren zu lassen. "Bleib bei uns, Tochter. Geh nicht fort", beschwört er die auf Leben oder Tod Liegende. Ihr, die seine Beichte nicht hören kann, beichtet er sein Leben. Es ist die Geschichte einer verbotenen Liebe. Der Mann ist Timoteo, ein erfolgreicher Chirurg und Gatte einer nicht minder erfolgreichen Journalistin. Der Zufall will, daß er eben an jener Klinik tätig ist, in der Angela im Koma liegt.

Das Leben hält noch ganz andere Zufälle parat. Zum Beispiel die Autopanne irgendwo in einem öden Nest. Die Suche nach einem Telefon führt Timoteo in eine mit Schund und Nippes bestückte armselige Wohnung. Und durch einen Vorhang aus Plastikstreifen zum gesuchten Telefon auf dem Boden neben der Steckdose. An der tapezierten Wand hängt - "ein wenig schief" - ein Kruzifix. Die Frau mit den schlecht gefärbten gelben Haaren, die ihn dorthin gebracht hat, ist weder schön noch jung. Timoteo taxiert sie mit dem Blick des Chirurgen: "Als sie in die Küche ging, musterte ich ihren Hintern, er war mager wie bei einem Mann. Und dann sah ich an ihrem ganzen Körper herunter, der schmale gebeugte Rücken, die zu dünnen Beine. Dieser Körper war nicht begehrenswert, im Gegenteil, er wirkte eher abstoßend."

Hier beginnt die Geschichte einer Obsession, die Ballade einer verrückten und desperaten Liebe. Und ebenso unmöglich wie die Liebe der beiden ist der Name der Frau: Italia. Die Autorin übertreibt ihre Zeichnung ins Groteske. Aber was uns abstoßen könnte, erweckt sukzessiv unsere Teilnahme und Faszination. Diese rührt von jener tiefen Empathie, die das geschundene Geschöpf für den bourgeoisen Protagonisten hat. Selbst die grellste Szene des Buches ändert nichts daran. Timoteo, der zwei Wodka auf nüchternen Magen im Blut hat, gerät in einen bösen Sog. "Noch weiß ich nicht, was sie zu befürchten hat, ich weiß nicht, was ich vorhabe. Ich weiß nur, daß ich mit der anderen Hand nach den gelben Haaren greife, ich packe sie am Schopf und halte sie wie einen Maiskolben. So mache ich alles nieder, sie, mich, diesen verkorksten Nachmittag."

Eine Vergewaltigung, aus der Liebe wird - das ist nur die erste in einer Reihe von Zumutungen. Jede Aufzählung träfe bloß das Kolportagehafte der Geschichte, nicht ihre Qualität. Im Lesen aber rückt uns Italias Schicksal nahe, wächst unsere Anteilnahme an dieser Frau, die in ihrer dürftigen und bedürftigen Existenz zwischen Gelegenheitsarbeit und Prostitution von der Liebe getroffen wird. Italia stirbt an den Folgen einer verpfuschten Abtreibung. Sie wußte, daß der Wunsch ihres merkwürdigen Liebhabers nach einem Kind mit ihr nicht dauerhaft sein würde. Timoteo, der sie zu retten sucht, stößt in ihrem Koffer auf ein Dokument ihrer Liebe, einen Schmuckbeutel, in dem Italia seine abgeschnittenen Fußnägel aufbewahrt hat.

Diese kleine Liebes-, Demuts-, ja Heiligengeschichte, um es pathetisch zu sagen, geht einem nach der Lektüre des Buches noch lange nach. Der andere Erzählstrang, das Stück Gesellschafts- und Eheroman, durchaus nicht. Er wird mit kühler Routine an sein Ende geführt: Elsa, die Ehefrau, mußte ihr Kind, das sie seinerzeit etwa gleichzeitig erwartete, natürlich nicht abtreiben. Die Ehe war gekittet, womöglich befestigt. Auch beruflich ging es aufwärts. Timoteo wird Chefarzt und stellt fest, daß alles wieder ins Lot zu kommen scheint. Sein Fazit desavouiert die Leidenschaft, von der er besessen schien: "Und plötzlich kamen mir die letzten Monate amouröser Irrungen vor wie eine Art Sabbatjahr, eine intensive, bewegte Auszeit, die mein Herz sich genehmigt hatte, bevor es in eine neue Phase wachsender Verantwortung eintrat."

Böse Ironie. Mit ihr wird der Protagonist abserviert. So bleibt auch vom Happy-End nicht viel übrig. Angela wird durchkommen. Unser Chirurg, der uns nicht ganz erfolglos suggerierte, er habe viele Leben gerettet, nur sein eigenes nicht, ist ein Heuchler, ein sentimentaler Faiseur. Wir haben uns täuschen lassen. Nicht ohne Mitwirkung der Autorin. Geschieht uns recht. Margaret Mazzantini präsentiert Timoteo zum Schluß am Tisch der Klinik-Cafeteria, müde und vermutlich unverbesserlich: "Ich habe Hunger. Eine Frau kommt auf mich zu, um die Bestellung aufzunehmen. Sie hat ein flaches Gesicht, eine gestreifte Schürze, ein Tablett unter dem Arm. Die letzte Frau in dieser Geschichte."

Margaret Mazzantini: "Geh nicht fort". Roman. Aus dem Italienischen übersetzt von Petra Kaiser. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2002. 319 S., geb., 22,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr