Widowed in her forties, with four children and not enough money, Nora has lost the love of her life, Maurice, the man who rescued her from the stifling world to which she was born. And now she fears she may be drawn back into it. Wounded, strong-willed, clinging to secrecy in a tiny community where everyone knows your business, Nora is drowning in her own sorrow and blind to the suffering of her young sons, who have lost their father. Yet she has moments of stunning empathy and kindness, and when she begins to sing again, after decades, she finds solace, engagement, a haven-- herself.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.08.2016Die widerspenstige Witwe von Enniscorthy
Immer wieder kreist der irische Schriftsteller Colm Tóibín in seiner Literatur um das Verhältnis von Müttern und Söhnen: "Nora Webster" ist sein wohl persönlichster Roman - und ein großes Frauenporträt aus dem Irland der sechziger Jahre.
Vor Jahren schrieb der irische Romancier Colm Tóibín in der Erzählung "Eins minus eins" über ein frühes Trauma. Als er zehn Jahre alt war, wurde sein Vater krank, und er und sein jüngerer Bruder wurden für einige Monate zu ihrer Tante geschickt. Nie rief ihre Mutter dort an, um sich nach den Söhnen zu erkundigen, nie kam sie auf dem Weg zum Krankenhaus in der fremden Umgebung bei ihnen vorbei. Es sei eigentlich nichts Schlimmes passiert, erinnerte sich Tóibín in dem kurzen Text, und doch veränderte die routinierte Herzlosigkeit im Haus der Tante die Geschwister, und das Desinteresse der Mutter entfremdete sie von ihnen. Als der Vater starb, hatten die Brüder gelernt, niemandem zu vertrauen und nicht über Dinge zu reden, die ihnen wichtig waren.
Diese Urszene von Verlassenheit findet sich als heimliches Zentrum auch im jüngsten Roman von Colm Tóibín, der dieser Tage erscheint. Benannt nach seiner Hauptfigur Nora Webster, Mutter von vier Kindern, die mit Mitte vierzig gerade ihren Mann verloren hat, ist es Tóibíns bislang persönlichstes Buch geworden. Zwar erkundet der 1955 geborene Schriftsteller auch in seinen früheren Werken ein ums andere Mal die Erinnerungslandschaft seiner Kindheit im Südosten Irlands in der Grafschaft Wexford. Doch der neue Roman erzählt in atemraubend schlichtem Stil fast eins zu eins die eigene Geschichte des Autors. Wie er als Zwölfjähriger den Vater verlor und sich die Geschicke seiner Familie in der kleinen Gemeinde Enniscorthy Ende der sechziger Jahre für immer verschoben.
War "Eins minus eins" aus der Perspektive des Sohns verfasst, der sich Jahre später erinnert, folgt "Nora Webster" ausschließlich den Gedanken, Stimmungen und Gefühlen seiner weiblichen Perspektivfigur. Colm Tóibíns Interesse gilt seit jeher den Müttern. Schon in den Erzählungen "Mütter und Söhne", die 2009 auf Deutsch erschienen sind, und erst recht in der 2014 auf Deutsch erschienenen Novelle "Marias Testament", in der er Jesus' Mutter gegen den Strich porträtierte. Wer Tóibín kennt, weiß, dass er indes an story-telling noch nie interessiert war. Auch in dem Roman "Nora Webster", der auf Englisch bereits 2014 erschien, finden sich keine Pointen und raffinierten Wendungen. Das eigentliche Drama, der frühe Tod von Maurice Webster, einem beliebten Lehrer im Ort, liegt auch deshalb bereits vor Beginn der Erzählung. Was folgt, sind Erkundungen der tektonischen Veränderungen im Hause Webster, in dem eine Mutter mit ihren fast erwachsenen Töchtern und den halbwüchsigen Söhnen Donal und Conor nun allein zurechtkommen muss. Mit diskreter Empathie, dabei nicht ohne Humor dringt der Autor ins innerste Seelenleben seiner Protagonistin vor. So etwa, wenn er beschreibt, wie Nora schmerzlich bewusst wird, dass sie sich in Bezug auf ihre Söhne "nie wieder sicher sein würde".
Zur Trauer über den Verlust, mit dem jeder der Familienmitglieder anders umgeht, der ältere Sohn Donal etwa stottert seither, steht Nora noch vor anderen, handfesten Herausforderungen. Die Witwe hat keine Ersparnisse und bezieht nur eine geringe Rente. Selbst der Verkauf des geliebten Ferienhauses an der Küste löst die Geldprobleme nicht, sodass sie nach Jahrzehnten wieder arbeiten gehen muss. Aber auch die Nachbarn mit ihren fast schon aufdringlichen Mitleidsbekundungen setzen Nora zu, die Abend für Abend ihr kleines Wohnzimmer bevölkern und die alleinstehende Frau plötzlich in einem anderen Ton ansprechen, als sei sie ihnen "irgendwie Rechenschaft schuldig".
Jeder in Enniscorthy scheint jeden zu kennen und alles über die anderen zu wissen, offenbar auch, wie das Leben einer Witwe auszusehen hat. Dass Nora sich gegen diese überwachende Bevormundung sträubt, zwar nicht im Eklat, sondern in kleinen, fast unmerklichen Absatzbewegungen, mit einer neuen Frisur, einem Schweigen, wenn eine Antwort geboten wäre, oder dem Eintritt in die Gewerkschaft, entspricht ihrem Naturell. Denn Nora Webster ist kein einfacher Mensch. Den geselligen Teil in der Familie hatte stets ihr Mann übernommen. Gerade in den Szenen, in denen sie aneckt und sich in Begegnungen mit Vorgesetzten, Tanten oder Nonnen widersetzt, erweist sich Tóibín als Stilist des Beiläufigen, der das, was er mitzuteilen hat, elliptisch erzählt und nicht linear. Sein Buch, könnte man sagen, ist gebaut wie ein Teich. Mit dem Tod von Maurice fällt ein Stein ins Wasser, und nun studiert der Autor die Kreise, die auf die Erschütterung folgen.
Dabei geht es Tóibín vor allem darum, was sich unter der Oberfläche, gleichsam unterhalb der Gespräche und Gesten abspielt. Denn mehr noch als aus dem, was gesagt wird, entfaltet der Roman seine Wirkung aus dem, was verschwiegen wird. Das Innehalten tritt an die Stelle des Dramas, die katastrophischen Emotionen laufen verdeckt ab. Wenn die Söhne sich von der Mutter zurückgesetzt fühlen oder die in Dublin studierende Tochter tagelang verschwindet, stammt der Schmerz nicht aus dem Konflikt, sondern aus dem Versuch, diesen zu vermeiden.
Die eigentliche Geschichte der Nora Webster ist eine innere Reise in ein selbstbestimmtes Leben in einer von Kirche und patriarchalen Strukturen geprägten Welt, die zwischen den Zeilen stattfindet. Als Coming-of-Age-Roman lässt sich "Nora Webster" trotzdem nicht lesen, dafür ist die Heldin mit Mitte vierzig zu alt, und auch nicht als politische Emanzipationsgeschichte. Ende der sechziger Jahre ist die Frauenbewegung in Wexford noch nicht angekommen. Die Unabhängigkeitskämpfe Nordirlands und der "bloody sunday" vom 30. Januar 1972 hingegen zeichnen sich am Horizont bereits ab.
Anders als Tóibíns jüngst verfilmter Roman "Brooklyn", aus dem einige Figuren in "Nora Webster" wiederauftauchen und dessen Heldin nach Amerika aufbricht, spielt diese Geschichte bis auf kurze Ausflüge nach Barcelona und Dublin in und um Enniscorthy. Dabei gelingt es Tóibín, mit diesem Porträt einer Mutter zugleich die Sozialgeschichte eines irischen Ortes zu einem Zeitpunkt zu zeichnen, da sich familiäre Traditionen und dörfliche Hierarchien lautlos verschieben.
Ihre eigene Ehe empfand Nora Webster noch als Schritt in die Freiheit, der es ihr ermöglichte, ihre Arbeit aufzugeben und neben der Familie endlich tun zu können, wofür sie sich interessierte. Dass sie es sich trotzdem erst jetzt, in der erzwungenen Einsamkeit erlaubt, Neigungen wie ihre Liebe zur Musik auszuleben, ist der unmerkliche Beleg für ihre neu gewonnene Souveränität. Er habe, als er mit dem Roman begann, hat Colm Tóibín bei Gelegenheit erzählt, eine Version von Madame Bovary schreiben wollen, aber ohne Madame und ohne Bovary. Von großen Vorbildern wie Flaubert hat er sich freigeschrieben. Vielleicht hat er deshalb fast fünfzehn Jahre gebraucht, bis er "Nora Webster" vollendet hat.
SANDRA KEGEL
Colm Tóibín: "Nora Webster". Roman.
Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini. Carl Hanser Verlag,
München 2016. 384 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Immer wieder kreist der irische Schriftsteller Colm Tóibín in seiner Literatur um das Verhältnis von Müttern und Söhnen: "Nora Webster" ist sein wohl persönlichster Roman - und ein großes Frauenporträt aus dem Irland der sechziger Jahre.
Vor Jahren schrieb der irische Romancier Colm Tóibín in der Erzählung "Eins minus eins" über ein frühes Trauma. Als er zehn Jahre alt war, wurde sein Vater krank, und er und sein jüngerer Bruder wurden für einige Monate zu ihrer Tante geschickt. Nie rief ihre Mutter dort an, um sich nach den Söhnen zu erkundigen, nie kam sie auf dem Weg zum Krankenhaus in der fremden Umgebung bei ihnen vorbei. Es sei eigentlich nichts Schlimmes passiert, erinnerte sich Tóibín in dem kurzen Text, und doch veränderte die routinierte Herzlosigkeit im Haus der Tante die Geschwister, und das Desinteresse der Mutter entfremdete sie von ihnen. Als der Vater starb, hatten die Brüder gelernt, niemandem zu vertrauen und nicht über Dinge zu reden, die ihnen wichtig waren.
Diese Urszene von Verlassenheit findet sich als heimliches Zentrum auch im jüngsten Roman von Colm Tóibín, der dieser Tage erscheint. Benannt nach seiner Hauptfigur Nora Webster, Mutter von vier Kindern, die mit Mitte vierzig gerade ihren Mann verloren hat, ist es Tóibíns bislang persönlichstes Buch geworden. Zwar erkundet der 1955 geborene Schriftsteller auch in seinen früheren Werken ein ums andere Mal die Erinnerungslandschaft seiner Kindheit im Südosten Irlands in der Grafschaft Wexford. Doch der neue Roman erzählt in atemraubend schlichtem Stil fast eins zu eins die eigene Geschichte des Autors. Wie er als Zwölfjähriger den Vater verlor und sich die Geschicke seiner Familie in der kleinen Gemeinde Enniscorthy Ende der sechziger Jahre für immer verschoben.
War "Eins minus eins" aus der Perspektive des Sohns verfasst, der sich Jahre später erinnert, folgt "Nora Webster" ausschließlich den Gedanken, Stimmungen und Gefühlen seiner weiblichen Perspektivfigur. Colm Tóibíns Interesse gilt seit jeher den Müttern. Schon in den Erzählungen "Mütter und Söhne", die 2009 auf Deutsch erschienen sind, und erst recht in der 2014 auf Deutsch erschienenen Novelle "Marias Testament", in der er Jesus' Mutter gegen den Strich porträtierte. Wer Tóibín kennt, weiß, dass er indes an story-telling noch nie interessiert war. Auch in dem Roman "Nora Webster", der auf Englisch bereits 2014 erschien, finden sich keine Pointen und raffinierten Wendungen. Das eigentliche Drama, der frühe Tod von Maurice Webster, einem beliebten Lehrer im Ort, liegt auch deshalb bereits vor Beginn der Erzählung. Was folgt, sind Erkundungen der tektonischen Veränderungen im Hause Webster, in dem eine Mutter mit ihren fast erwachsenen Töchtern und den halbwüchsigen Söhnen Donal und Conor nun allein zurechtkommen muss. Mit diskreter Empathie, dabei nicht ohne Humor dringt der Autor ins innerste Seelenleben seiner Protagonistin vor. So etwa, wenn er beschreibt, wie Nora schmerzlich bewusst wird, dass sie sich in Bezug auf ihre Söhne "nie wieder sicher sein würde".
Zur Trauer über den Verlust, mit dem jeder der Familienmitglieder anders umgeht, der ältere Sohn Donal etwa stottert seither, steht Nora noch vor anderen, handfesten Herausforderungen. Die Witwe hat keine Ersparnisse und bezieht nur eine geringe Rente. Selbst der Verkauf des geliebten Ferienhauses an der Küste löst die Geldprobleme nicht, sodass sie nach Jahrzehnten wieder arbeiten gehen muss. Aber auch die Nachbarn mit ihren fast schon aufdringlichen Mitleidsbekundungen setzen Nora zu, die Abend für Abend ihr kleines Wohnzimmer bevölkern und die alleinstehende Frau plötzlich in einem anderen Ton ansprechen, als sei sie ihnen "irgendwie Rechenschaft schuldig".
Jeder in Enniscorthy scheint jeden zu kennen und alles über die anderen zu wissen, offenbar auch, wie das Leben einer Witwe auszusehen hat. Dass Nora sich gegen diese überwachende Bevormundung sträubt, zwar nicht im Eklat, sondern in kleinen, fast unmerklichen Absatzbewegungen, mit einer neuen Frisur, einem Schweigen, wenn eine Antwort geboten wäre, oder dem Eintritt in die Gewerkschaft, entspricht ihrem Naturell. Denn Nora Webster ist kein einfacher Mensch. Den geselligen Teil in der Familie hatte stets ihr Mann übernommen. Gerade in den Szenen, in denen sie aneckt und sich in Begegnungen mit Vorgesetzten, Tanten oder Nonnen widersetzt, erweist sich Tóibín als Stilist des Beiläufigen, der das, was er mitzuteilen hat, elliptisch erzählt und nicht linear. Sein Buch, könnte man sagen, ist gebaut wie ein Teich. Mit dem Tod von Maurice fällt ein Stein ins Wasser, und nun studiert der Autor die Kreise, die auf die Erschütterung folgen.
Dabei geht es Tóibín vor allem darum, was sich unter der Oberfläche, gleichsam unterhalb der Gespräche und Gesten abspielt. Denn mehr noch als aus dem, was gesagt wird, entfaltet der Roman seine Wirkung aus dem, was verschwiegen wird. Das Innehalten tritt an die Stelle des Dramas, die katastrophischen Emotionen laufen verdeckt ab. Wenn die Söhne sich von der Mutter zurückgesetzt fühlen oder die in Dublin studierende Tochter tagelang verschwindet, stammt der Schmerz nicht aus dem Konflikt, sondern aus dem Versuch, diesen zu vermeiden.
Die eigentliche Geschichte der Nora Webster ist eine innere Reise in ein selbstbestimmtes Leben in einer von Kirche und patriarchalen Strukturen geprägten Welt, die zwischen den Zeilen stattfindet. Als Coming-of-Age-Roman lässt sich "Nora Webster" trotzdem nicht lesen, dafür ist die Heldin mit Mitte vierzig zu alt, und auch nicht als politische Emanzipationsgeschichte. Ende der sechziger Jahre ist die Frauenbewegung in Wexford noch nicht angekommen. Die Unabhängigkeitskämpfe Nordirlands und der "bloody sunday" vom 30. Januar 1972 hingegen zeichnen sich am Horizont bereits ab.
Anders als Tóibíns jüngst verfilmter Roman "Brooklyn", aus dem einige Figuren in "Nora Webster" wiederauftauchen und dessen Heldin nach Amerika aufbricht, spielt diese Geschichte bis auf kurze Ausflüge nach Barcelona und Dublin in und um Enniscorthy. Dabei gelingt es Tóibín, mit diesem Porträt einer Mutter zugleich die Sozialgeschichte eines irischen Ortes zu einem Zeitpunkt zu zeichnen, da sich familiäre Traditionen und dörfliche Hierarchien lautlos verschieben.
Ihre eigene Ehe empfand Nora Webster noch als Schritt in die Freiheit, der es ihr ermöglichte, ihre Arbeit aufzugeben und neben der Familie endlich tun zu können, wofür sie sich interessierte. Dass sie es sich trotzdem erst jetzt, in der erzwungenen Einsamkeit erlaubt, Neigungen wie ihre Liebe zur Musik auszuleben, ist der unmerkliche Beleg für ihre neu gewonnene Souveränität. Er habe, als er mit dem Roman begann, hat Colm Tóibín bei Gelegenheit erzählt, eine Version von Madame Bovary schreiben wollen, aber ohne Madame und ohne Bovary. Von großen Vorbildern wie Flaubert hat er sich freigeschrieben. Vielleicht hat er deshalb fast fünfzehn Jahre gebraucht, bis er "Nora Webster" vollendet hat.
SANDRA KEGEL
Colm Tóibín: "Nora Webster". Roman.
Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini. Carl Hanser Verlag,
München 2016. 384 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main