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Produktdetails
  • Verlag: Editorial Lumen
  • Seitenzahl: 416
  • Erscheinungstermin: Februar 2016
  • Spanisch
  • Abmessung: 228mm x 151mm x 30mm
  • Gewicht: 539g
  • ISBN-13: 9788426402622
  • ISBN-10: 8426402623
  • Artikelnr.: 44514990

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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung

Die widerspenstige Witwe von Enniscorthy

Immer wieder kreist der irische Schriftsteller Colm Tóibín in seiner Literatur um das Verhältnis von Müttern und Söhnen: "Nora Webster" ist sein wohl persönlichster Roman - und ein großes Frauenporträt aus dem Irland der sechziger Jahre.

Vor Jahren schrieb der irische Romancier Colm Tóibín in der Erzählung "Eins minus eins" über ein frühes Trauma. Als er zehn Jahre alt war, wurde sein Vater krank, und er und sein jüngerer Bruder wurden für einige Monate zu ihrer Tante geschickt. Nie rief ihre Mutter dort an, um sich nach den Söhnen zu erkundigen, nie kam sie auf dem Weg zum Krankenhaus in der fremden Umgebung bei ihnen vorbei. Es sei eigentlich nichts Schlimmes passiert, erinnerte sich Tóibín in dem kurzen Text, und doch veränderte die routinierte Herzlosigkeit im Haus der Tante die Geschwister, und das Desinteresse der Mutter entfremdete sie von ihnen. Als der Vater starb, hatten die Brüder gelernt, niemandem zu vertrauen und nicht über Dinge zu reden, die ihnen wichtig waren.

Diese Urszene von Verlassenheit findet sich als heimliches Zentrum auch im jüngsten Roman von Colm Tóibín, der dieser Tage erscheint. Benannt nach seiner Hauptfigur Nora Webster, Mutter von vier Kindern, die mit Mitte vierzig gerade ihren Mann verloren hat, ist es Tóibíns bislang persönlichstes Buch geworden. Zwar erkundet der 1955 geborene Schriftsteller auch in seinen früheren Werken ein ums andere Mal die Erinnerungslandschaft seiner Kindheit im Südosten Irlands in der Grafschaft Wexford. Doch der neue Roman erzählt in atemraubend schlichtem Stil fast eins zu eins die eigene Geschichte des Autors. Wie er als Zwölfjähriger den Vater verlor und sich die Geschicke seiner Familie in der kleinen Gemeinde Enniscorthy Ende der sechziger Jahre für immer verschoben.

War "Eins minus eins" aus der Perspektive des Sohns verfasst, der sich Jahre später erinnert, folgt "Nora Webster" ausschließlich den Gedanken, Stimmungen und Gefühlen seiner weiblichen Perspektivfigur. Colm Tóibíns Interesse gilt seit jeher den Müttern. Schon in den Erzählungen "Mütter und Söhne", die 2009 auf Deutsch erschienen sind, und erst recht in der 2014 auf Deutsch erschienenen Novelle "Marias Testament", in der er Jesus' Mutter gegen den Strich porträtierte. Wer Tóibín kennt, weiß, dass er indes an story-telling noch nie interessiert war. Auch in dem Roman "Nora Webster", der auf Englisch bereits 2014 erschien, finden sich keine Pointen und raffinierten Wendungen. Das eigentliche Drama, der frühe Tod von Maurice Webster, einem beliebten Lehrer im Ort, liegt auch deshalb bereits vor Beginn der Erzählung. Was folgt, sind Erkundungen der tektonischen Veränderungen im Hause Webster, in dem eine Mutter mit ihren fast erwachsenen Töchtern und den halbwüchsigen Söhnen Donal und Conor nun allein zurechtkommen muss. Mit diskreter Empathie, dabei nicht ohne Humor dringt der Autor ins innerste Seelenleben seiner Protagonistin vor. So etwa, wenn er beschreibt, wie Nora schmerzlich bewusst wird, dass sie sich in Bezug auf ihre Söhne "nie wieder sicher sein würde".

Zur Trauer über den Verlust, mit dem jeder der Familienmitglieder anders umgeht, der ältere Sohn Donal etwa stottert seither, steht Nora noch vor anderen, handfesten Herausforderungen. Die Witwe hat keine Ersparnisse und bezieht nur eine geringe Rente. Selbst der Verkauf des geliebten Ferienhauses an der Küste löst die Geldprobleme nicht, sodass sie nach Jahrzehnten wieder arbeiten gehen muss. Aber auch die Nachbarn mit ihren fast schon aufdringlichen Mitleidsbekundungen setzen Nora zu, die Abend für Abend ihr kleines Wohnzimmer bevölkern und die alleinstehende Frau plötzlich in einem anderen Ton ansprechen, als sei sie ihnen "irgendwie Rechenschaft schuldig".

Jeder in Enniscorthy scheint jeden zu kennen und alles über die anderen zu wissen, offenbar auch, wie das Leben einer Witwe auszusehen hat. Dass Nora sich gegen diese überwachende Bevormundung sträubt, zwar nicht im Eklat, sondern in kleinen, fast unmerklichen Absatzbewegungen, mit einer neuen Frisur, einem Schweigen, wenn eine Antwort geboten wäre, oder dem Eintritt in die Gewerkschaft, entspricht ihrem Naturell. Denn Nora Webster ist kein einfacher Mensch. Den geselligen Teil in der Familie hatte stets ihr Mann übernommen. Gerade in den Szenen, in denen sie aneckt und sich in Begegnungen mit Vorgesetzten, Tanten oder Nonnen widersetzt, erweist sich Tóibín als Stilist des Beiläufigen, der das, was er mitzuteilen hat, elliptisch erzählt und nicht linear. Sein Buch, könnte man sagen, ist gebaut wie ein Teich. Mit dem Tod von Maurice fällt ein Stein ins Wasser, und nun studiert der Autor die Kreise, die auf die Erschütterung folgen.

Dabei geht es Tóibín vor allem darum, was sich unter der Oberfläche, gleichsam unterhalb der Gespräche und Gesten abspielt. Denn mehr noch als aus dem, was gesagt wird, entfaltet der Roman seine Wirkung aus dem, was verschwiegen wird. Das Innehalten tritt an die Stelle des Dramas, die katastrophischen Emotionen laufen verdeckt ab. Wenn die Söhne sich von der Mutter zurückgesetzt fühlen oder die in Dublin studierende Tochter tagelang verschwindet, stammt der Schmerz nicht aus dem Konflikt, sondern aus dem Versuch, diesen zu vermeiden.

Die eigentliche Geschichte der Nora Webster ist eine innere Reise in ein selbstbestimmtes Leben in einer von Kirche und patriarchalen Strukturen geprägten Welt, die zwischen den Zeilen stattfindet. Als Coming-of-Age-Roman lässt sich "Nora Webster" trotzdem nicht lesen, dafür ist die Heldin mit Mitte vierzig zu alt, und auch nicht als politische Emanzipationsgeschichte. Ende der sechziger Jahre ist die Frauenbewegung in Wexford noch nicht angekommen. Die Unabhängigkeitskämpfe Nordirlands und der "bloody sunday" vom 30. Januar 1972 hingegen zeichnen sich am Horizont bereits ab.

Anders als Tóibíns jüngst verfilmter Roman "Brooklyn", aus dem einige Figuren in "Nora Webster" wiederauftauchen und dessen Heldin nach Amerika aufbricht, spielt diese Geschichte bis auf kurze Ausflüge nach Barcelona und Dublin in und um Enniscorthy. Dabei gelingt es Tóibín, mit diesem Porträt einer Mutter zugleich die Sozialgeschichte eines irischen Ortes zu einem Zeitpunkt zu zeichnen, da sich familiäre Traditionen und dörfliche Hierarchien lautlos verschieben.

Ihre eigene Ehe empfand Nora Webster noch als Schritt in die Freiheit, der es ihr ermöglichte, ihre Arbeit aufzugeben und neben der Familie endlich tun zu können, wofür sie sich interessierte. Dass sie es sich trotzdem erst jetzt, in der erzwungenen Einsamkeit erlaubt, Neigungen wie ihre Liebe zur Musik auszuleben, ist der unmerkliche Beleg für ihre neu gewonnene Souveränität. Er habe, als er mit dem Roman begann, hat Colm Tóibín bei Gelegenheit erzählt, eine Version von Madame Bovary schreiben wollen, aber ohne Madame und ohne Bovary. Von großen Vorbildern wie Flaubert hat er sich freigeschrieben. Vielleicht hat er deshalb fast fünfzehn Jahre gebraucht, bis er "Nora Webster" vollendet hat.

SANDRA KEGEL

Colm Tóibín: "Nora Webster". Roman.

Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini. Carl Hanser Verlag,

München 2016. 384 S., geb., 26,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung

Aus der Schwimmschule des Lebens
In „Nora Webster“ erzählt Colm Tóibín von einer alleinerziehenden Mutter im Irland
der Sechzigerjahre – und fügt den großen Frauengestalten der Literatur eine neue Ikone hinzu
VON CHRISTOPHER SCHMIDT
Einmal, da ist er schon seit drei Jahren tot, erscheint ihr Maurice in einem Fiebertraum. Nora sieht ihren verstorbenen Mann im Schaukelstuhl am Fenster sitzen und befragt ihn wie ein Orakel nach den Kindern, nach Fiona und Aine, Donal und Conor. Sie will wissen, wie es ihnen ergehen werde in der Zukunft, und schließlich sagt Maurice, dass es da noch jemand anderen gebe, ohne jedoch einen Namen zu nennen, was Nora schier um den Verstand bringt. Dabei hätte sie leicht erraten können, wen Maurice meinte, wäre sie nicht die Person, die sie ist, nämlich jemand, der nie nach sich selbst fragt, der sich vergessen hat seit dem Tod der „Liebe ihres Lebens“, ein Geist gleich ihm mit einem spukhaften Leben, eingeschlossen in die Vergangenheit wie Maurice’ Anzüge, die immer noch oben im Kleiderschrank
hängen, „und in den Taschen mancher seiner Jacketts konnte sogar noch Kreide aus
der Schule sein“.
  Es ist ein langer Abschied, von dem Colm Tóibín in seinem neuen, großartigen und unumwunden autobiografischen Familienroman „Nora Webster“ erzählt, und dass dieser Abschied so viel Zeit braucht, hängt damit zusammen, dass es für ihn keine Zeit gibt. Denn Nora muss sofort da sein, sich kümmern und die Verantwortung übernehmen, als ihr Mann Maurice, dessen Herz in der Mitte des Lebens auf einmal stehen bleibt, sie zurücklässt mit vier Kindern und einer kleinen Witwenrente. Da ist sie 46 Jahre alt. Die Notwendigkeit, allein für die Familie sorgen zu müssen und nicht zu wissen, woher sie die Kraft dafür nehmen soll, macht es so schwer, Maurice’ Sachen aus dem Haus zu schaffen, die unteren Zimmer gründlich zu renovieren,
Farbe und Licht in die Räume zu lassen und die gemeinsamen Fotos im Kamin zu
verbrennen, die sie in einem Holzkästchen verwahrt, zu dem sie den Schlüssel genauso verloren hat wie zu ihrem im Schmerz verkapselten Leben.
  Einen ersten Schritt aus dem Schattenreich wagt Nora, als sie eines Tages spontan beschließt, sich beim Friseur in der Stadt die Haare färben zu lassen – „graue Haare trägt heutzutage keiner mehr“, antwortet Bernie, die Friseurin, auf Noras erschrockene Frage, ob diese Farbe nicht viel zu jugendlich für sie sei. Schließlich weiß sie sehr gut, dass ihre neue, modische Frisur für Gerede sorgen wird im Ort. Wie jede noch so kleine Veränderung für Gerede sorgt in dem Städtchen Enniscorthy im Süden Irlands, in dem auch Colm Tóibín 1955 geboren und aufgewachsen ist.
  Mit langen Ohren hört die Kleinstadt das Innenleben ihrer Leute auf jedes verdächtige Rasseln ab, mit tausend Augen überwacht sie ihre Schäfchen, mit spitzen Zungen säbelt sie sich jede Neuigkeit zu einem kleinen Skandal zurecht. Wer hier lebt, bewegt sich in einem größeren Körper, der mit überscharfen Wahrnehmungsorganen und langen Tentakeln ausgestattet ist. Wie weit die Fangarme der Provinz reichen, wenn sie die Gestalt von Verwandtschaftsverhältnissen und transatlantischen Telefonkabeln annehmen, das hatte schon eine andere Bewohnerin von Enniscorthy erfahren müssen: Eilis Lacey, die junge Heldin in Colm Tóibíns Roman „Brooklyn“ aus dem Jahr 2009 (dt. 2010).
  Sie erlebt, wie sie im großen New York vom kleinen Enniscorthy eingeholt wird und auch in der neuen Welt eine Bürgerin der alten bleibt. Man kann einen Ozean zwischen sich und die Heimat bringen, seiner irischen Herkunft entkommt man trotzdem nicht. Beiläufig ist im neuen Roman zu erfahren, wie es weiterging mit Eilis, ihrem Mann Tony und dem anderen Mann, den sie zwanzig Jahre, bevor die Handlung von „Nora Webster“ einsetzt, in Irland zurückließ; umgekehrt wurde auch Nora Webster in „Brooklyn“ schon einmal kurz erwähnt. Dass es nun um die Zeit zwischen 1969 und 1972 geht, wird nur indirekt mitgeteilt, durch die Erwähnung der Mondlandung, der Unruhen in Derry und des Brands der britischen Botschaft in Dublin.
  Der aufflammende Nordirland-Konflikt bildet die politische Hintergrundstrahlung des Romans. Und die übergeordnete Bedeutung der sozialen Gemeinschaft, dieses zweiten Körpers, stellt Colm Tóibín heraus, indem er seinen Roman über die Ufer der Individualgeschichte treten lässt und in die ungeschriebene Chronik einer ganzen Region einbettet. Kaum zufällig beginnt der erste Teil mit dem Kondolenzbesuch von Eilis’ ebenfalls verwitweter Mutter May, ein halbes Jahr nach dem Tod von Maurice. Dass May seinerzeit, als ihre ältere Tochter Rose ebenso plötzlich starb wie Noras Mann, nicht weniger unter den nicht enden wollenden Beileidsbekundungen litt, die wie ein Bremsklotz den Neubeginn hemmen, hält sie keineswegs davon ab, es Nora nun genauso schwer zu machen.
  Alle sind eingespannt in die Netzwerke von Verwandt- und Nachbarschaft, im Guten wie im Schlechten. Aber die Anteilnahme und tätige Unterstützung, die Nora von jeder Seite zuströmen, hat sie nicht ihrem eigenen guten Ruf zu verdanken, sondern dem ihres verstorbenen Mannes, der ein beliebter Lehrer war und geachteter Bürger, ein Mann, der sich politisch engagierte, abends Zeitungsartikel schrieb und eine genossenschaftliche Bausparkasse mit auf den Weg brachte. Nora hingegen gilt als impulsiv und eigensinnig, als starrsinnige Rebellin und wahre Furie, unverdient beschenkt mit einer Seele von Ehemann. Letztlich aber wird ihr gerade dieses aufbrausende Temperament die Kraft verleihen, sich von der Vergangenheit zu lösen.
  Die Wiederaufnahme ihrer Berufstätigkeit als Buchhalterin empfindet Nora jedoch nicht als Schritt in die Unabhängigkeit, sondern als Ende der Freiheit, die sie in Ehe und Mutterschaft gefunden hatte. Nicht weil sie ungern arbeitet, sondern weil die Arbeit, die sie verrichtet, weit unter ihren Talenten liegt. Das Studium, zu dem sie hervorragend befähigt gewesen wäre, konnte und wollte ihr die Familie nicht finanzieren. Um so erfolgreicher sind nun ihre begabten Kinder. Ein Sorgenkind ist nur Donal, der seit dem Tod des Vaters stottert und sich immer häufiger in seinem
Fotolabor vergräbt.
  Als er wegen nachlassender Schulleistungen heruntergestuft werden soll, droht Nora mit einer Blockade. Mit einem Transparent will sie den Zugang zur Schule versperren und jeden vorbeikommenden Lehrer mit einem Witwenfluch belegen. Und als ihre Vorgesetzte einmal eine spöttische Bemerkungen über Noras Mann macht, geht sie mit einer Schere auf sie los und stürmt dann kopflos aus dem Büro, um ans Meer zu fahren, fest entschlossen, nie wieder ihren Fuß in die Firma zu setzen.
  Doch das wachsame Auge der Gemeinschaft hat bereits einen Schutzengel in Marsch gesetzt. Am Strand kommt ihr unversehens Schwester Thomas entgegen, eine Nonne, die schon für den irischen Freiheitskämpfer Michael Collins als Meldegängerin unterwegs war. Nun ist sie wieder in geheimer Mission im Einsatz, um Nora von einem falschen Schritt abzuhalten.
  Nora Webster ist eine starke Frau und eine Löwenmutter, die selbst vor anonymen
Drohbriefen nicht zurückscheut, wenn es darum geht, ihre Kinder zu beschützen. Als sie erfährt, dass ein 17-Jähriger während einer Demonstration, bei der das britische Militär blindlings in die Menge schoss, getötet worden ist, sagt sie: „Wenn ich die Mutter eines dieser erschossenen Jungen wäre, würde ich mir eine Pistole besorgen. Ich hätte eine Pistole im Haus.“ Aber die verbal so schießwütige Nora ist verkrallt in ihren Schmerz und muss lernen, ihre Krallen zu lockern. Drei Dinge helfen ihr dabei: Zunächst ihr scharfer Verstand, von dem gilt, was Colm Tóibín einmal in einer älteren Erzählung geschrieben hat: „Es war so, als hätte er seine Mutter nur besucht, um in den Gebrauch der Vernunft eingewiesen zu werden.“ Sodann ihre wiederentdeckte Liebe zur Musik. Und schließlich das Meer.
  Denn wie Eilis Lacey aus „Brooklyn“ ist Nora nicht nur gut im Rechnen, sondern auch im Schwimmen, was man in beiden Fällen als Hinweis auf die Gabe nehmen darf, sich nichts vormachen und sich niemals unterkriegen zu lassen. „Es war so, als lebte sie unter Wasser und hätte den Versuch, sich wieder nach oben, an die Luft zu kämpfen, aufgegeben“, heißt es allerdings am Anfang. Dann aber beginnt sie, sich ganz unmetaphorisch im Rückenschwimmen zu üben, flach und reglos auf dem Wasser zu liegen und dem Auftrieb zu vertrauen.
  Während in Belfast und Dublin der Nordirlandkonflikt eskaliert, kämpft Nora Webster um ihre ganz persönlich Selbstermächtigung. Allmählich findet sie heraus, wer sie sonst noch ist außer der treuen Ehefrau eines Mannes, der nicht mehr lebt, und der stolzen Mutter von vier wohlgeratenen Kindern. Sie muss es herausfinden, damit sie im vollen Sinne beides sein kann. Dass Selbstlosigkeit nichts wert ist, wenn man sein Selbst von vornherein preisgibt, auch davon erzählt dieser grandiose Roman. Als Donal sich gegen den Willen der Mutter den Wechsel auf ein Internat ertrotzt und seine erste Heimwehkrise durchleidet, widersteht Nora dem Impuls, ihn abzuholen und den Namen der Schule nie wieder zu erwähnen.
  Statt dessen verspricht sie ihm Flankenschutz mit regelmäßigen Briefen, Fresspaketen und Besuchen, um die Eingewöhnungsphase zu überbrücken. So erspart sie ihrem Sohn eine Niederlage, und indem sie zum ersten Mal von sich selbst und ihren eigenen Bedürfnissen spricht, hilft sie ihm besser, als wenn sie ihn wieder unter
ihre Fittiche genommen hätte. Indem sie Autonomie beweist, macht sie auch ihn autonom. „New Ways to Kill Your Mother“ heißt ein Essayband von Colm Tóibín aus
dem Jahr 2012. In „Nora Webster“ geht es um eine Frau, die die Mutter in sich töten
muss, um zu werden, wer sie ist, zu jemandem, der „gelitten und das Leiden hinter sich gelassen hatte und dann zu ihm zurückgekehrt war und es hatte verweilen und in sich wohnen lassen.“
  Donal spricht einmal etwas geschwollen über das Paradox des Glaubens, das etwas anderes sei als ein Beweis. „Es ist nicht wie zwei und zwei zusammenzählen, sondern eher so, als fügte man zu Wasser Licht hinzu.“ Schwester Thomas, eigentlich eine Expertin für solche Fragen, drückt es profaner aus: „Es wird alles gut. Es ist eine kleine Stadt, und sie wird Sie behüten. Kehren Sie jetzt zu ihr zurück. Und hören Sie auf zu trauern, Nora. Die Zeit dafür ist vorüber.“
  Colm Tóibín hat schon oft über übermächtige Mütter geschrieben. Man denke nur an seinen Erzählungsband „Mütter und Söhne“ (2006, dt. 2009) oder an die ebenso tyrannische wie lebensuntüchtige Monstermutter aus dem Roman „Die Geschichte der Nacht“ (1996, dt. 1999). Zuletzt hat er sogar ein Buch über die Mutter aller Mütter geschrieben. „Marias Testament“ (2012, dt. 2014) erzählt von der Mutter Jesu, die ihrem Sohn nicht verzeihen kann, dass er sie verleugnet, als er sich zum Sohn Gottes erklärt. Wie diese Maria ist auch Nora eine ebenso einfache wie erstaunliche Frau, eine Dulderin, deren Geschichte die Dünung von Tóibíns ruhig und kraftvoll rhythmisierter Prosa so sanft am Strand ablegt wie eine Flaschenpost.
  Die Botschaft aber, die in dieser Flaschenpost steckt, ist eine doppelte, spiegelt sich doch in Nora Websters Kampf um Unabhängigkeit der irische Unabhängigkeitskampf wider. Wer will, kann in ihr also durchaus eine Nationalikone sehen. Wie ihre Ahninnen Anna Karenina, Effi Briest oder Emma Bovary gehört Nora Webster schon jetzt in die Galerie der unsterblichen Frauengestalten der Literatur. Zu Recht meldet Colm Tóibín diesen Anspruch an, indem er den Titel seines Buches allein für ihren Namen reserviert, als wäre dieses Buch ein Monument. „Nora Webster“ ist ein großer Entwicklungsroman über eine Frau in einem über Jahrhunderte unterentwickelten und fremdbestimmten Land, ein stilles Meisterwerk.
Mit spitzen Zungen säbelt die
Kleinstadt sich jede Neuigkeit
zu einem kleinen Skandal zurecht
Schwester Thomas war
Meldegängerin für den
Freiheitskämpfer Michael Collins
In Nora Websters Kampf um
Selbständigkeit spiegelt sich der
irische Freiheitskampf wider
„Liebling, es ist nur ein Traum. Jeder hat mal schlimme Träume“, sagt Nora Webster zu ihrem Sohn. Colm Tóibín kennt ihre Innenwelt.
Foto: Matsas/Opale/Leemage/laif
  
  
  
  
Colm Tóibín: Nora Webster. Roman. Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini. Carl Hanser Verlag, München 2016. 384 Seiten, 26 Euro. E-Book 19,99 Euro.
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