Am 30. Juli 1997 flogen sechs US-Amerikaner und fünf Deutsche, von einem Kanadier betreut, mit einer Linienmaschine von Ottawa nach Iqaluit an der Frobisher Bay, wo zwei kanadische "Buschpiloten" mit einer gecharterten Twin Otter die Gruppe erwarteten. Damit begann der "Nordflug", eine Flugexpedition zu den nördlichsten Regionen des kanadischen Archipels jenseits des 80. Breitengrades. Neun Tage waren sie unterwegs, dann setzte die Twin Otter am Abend des 7. August nach 5500 Flugkilometern wieder in Iqaluit auf. Am nächsten Tag erfolgte die Rückkehr nach Ottawa.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.07.2001 Bücher für die Reise
Allerhöchste
Breitengrade
Sein allbekanntes Buch über die Expedition nach Spitzbergen nannte Alfred Andersch seinerzeit „Hohe Breitengrade”, doch die Breitengrade, die Ansgar Walk auf seinem „Nordflug” in den vereisten Insellandschaften Kanadas erreicht hat, sind durchaus höhere. Näher zum Nordpol geht’s fast nimmer, jedenfalls nicht über Land. Folgerichtig wimmelt es in diesem Buch regelrecht von Superlativen. Ausgangspunkt ist der „Boden des nördlichsten Verkehrsflughafens der Welt”, Iqaluit, wo die Temperaturen im Hochsommer um den Gefrierpunkt schwanken. In einem Ort mit dem edlen Namen Polaris finden wir „die nördlichste Mine der Welt für unedle Metalle”, und das in einem Erdboden, der bis in fünfzig Meter Tiefe gefroren ist. Eureka heißt „die nördlichste Wetterstation der Erde” und gleichzeitig „der nördlichste Ort, an dem sich noch Satellitenübertragungen einfangen lassen”. Bylot Island ist „eines der größten Vogelrefugien der Welt”, und nicht weit davon finden wir den „nördlichsten Nationalpark der Welt”, der bis dato Ellesmere Island Park hieß, nach der Übergabe dieser Region in die selbstverwalteten Hände der Eskimos aber in Quttinirtaaq umbenannt wurde. Ist „Eskimoisch” womöglich die Q- reichste Sprache der Welt?
Bis zu siebzig Zentimeter dick ist die Speckschicht des Grönlandwals (der, ausnahmsweise, nicht der größte, sondern nur der zweitgrößte Meeressäuger ist). Ein so dickes Speckpolster wünscht man sich wohl auch als menschlicher Besucher, wenn man von Temperaturen um die fünfzig Grad minus hört. Dennoch sind diese unwirtlichen Gegenden seit rundweg viertausend Jahren von Menschen besiedelt, die es irgendwie zu ertragen lernten, mit dem kürzesten Sommer und der längsten Nacht auf Erden zu leben. Erst vor tausend Jahren kamen, und kurz nur, die Wikinger; erst vor 150Jahren die wackeren Teilnehmer der Franklin-Expedition, die die Nordwestpassage suchten, aber allesamt den Tod fanden – vergiftet vom Blei ihrer Konservendosen!
Ansgar Walk ist sichtlich ein Experte für diese eisigen Regionen. Ein Experte für stimuliertendes Schreiben ist er nicht. Man erfährt zwar, dass die Zahl der Zähne des Weißwals 32 beträgt, aber der Text vermittelt kaum ein Gefühl für die Atmosphäre der Welt, in die der „Nordflug” führt. Entschädigt wird man durch die superben Fotos, die der Autor und seine Frau geschossen haben. Erfreulicherweise stellen diese Fotos die Grandiosität der Motive über die Finesse technischer Kinkerlitzchen, und deshalb fehlt ihnen gänzlich jene hochglänzende Künstlichkeit, die dem Betrachter den Spaß an vielen Bildbänden verdirbt. Die Fotos schaffen ihre eigenen Superlative.
Im übrigen sind auch negative Superlative erlaubt. Der „kürzeste Lande- und Bremsweg, den die Leute vom Tower jemals gesehen haben”, steht am Ende des Nordflugs, hingelegt bei Wind und Wetter von einem „Buschpiloten des Nordens”, der mit allem möglichen zu kämpfen hat, nur nicht mit dem Busch. Bäume und Sträucher nämlich gibt’s hier oben nicht; der einzige Wald weit und breit ist fünfzig Millionen Jahre alt und besteht aus versteinerten und mumifizierten Baumstümpfen. Die größte Gefriertruhe der Erde hat’s in sich. Friedhelm Rathjen
ANSGAR WALK: Nordflug. Eine faszinierende Reise zu den Gletschern und Fjorden der kanadischen Arktis. Pendragon Verlag Bielefeld 2000. 160Seiten, 88Abbildungen. 78Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Allerhöchste
Breitengrade
Sein allbekanntes Buch über die Expedition nach Spitzbergen nannte Alfred Andersch seinerzeit „Hohe Breitengrade”, doch die Breitengrade, die Ansgar Walk auf seinem „Nordflug” in den vereisten Insellandschaften Kanadas erreicht hat, sind durchaus höhere. Näher zum Nordpol geht’s fast nimmer, jedenfalls nicht über Land. Folgerichtig wimmelt es in diesem Buch regelrecht von Superlativen. Ausgangspunkt ist der „Boden des nördlichsten Verkehrsflughafens der Welt”, Iqaluit, wo die Temperaturen im Hochsommer um den Gefrierpunkt schwanken. In einem Ort mit dem edlen Namen Polaris finden wir „die nördlichste Mine der Welt für unedle Metalle”, und das in einem Erdboden, der bis in fünfzig Meter Tiefe gefroren ist. Eureka heißt „die nördlichste Wetterstation der Erde” und gleichzeitig „der nördlichste Ort, an dem sich noch Satellitenübertragungen einfangen lassen”. Bylot Island ist „eines der größten Vogelrefugien der Welt”, und nicht weit davon finden wir den „nördlichsten Nationalpark der Welt”, der bis dato Ellesmere Island Park hieß, nach der Übergabe dieser Region in die selbstverwalteten Hände der Eskimos aber in Quttinirtaaq umbenannt wurde. Ist „Eskimoisch” womöglich die Q- reichste Sprache der Welt?
Bis zu siebzig Zentimeter dick ist die Speckschicht des Grönlandwals (der, ausnahmsweise, nicht der größte, sondern nur der zweitgrößte Meeressäuger ist). Ein so dickes Speckpolster wünscht man sich wohl auch als menschlicher Besucher, wenn man von Temperaturen um die fünfzig Grad minus hört. Dennoch sind diese unwirtlichen Gegenden seit rundweg viertausend Jahren von Menschen besiedelt, die es irgendwie zu ertragen lernten, mit dem kürzesten Sommer und der längsten Nacht auf Erden zu leben. Erst vor tausend Jahren kamen, und kurz nur, die Wikinger; erst vor 150Jahren die wackeren Teilnehmer der Franklin-Expedition, die die Nordwestpassage suchten, aber allesamt den Tod fanden – vergiftet vom Blei ihrer Konservendosen!
Ansgar Walk ist sichtlich ein Experte für diese eisigen Regionen. Ein Experte für stimuliertendes Schreiben ist er nicht. Man erfährt zwar, dass die Zahl der Zähne des Weißwals 32 beträgt, aber der Text vermittelt kaum ein Gefühl für die Atmosphäre der Welt, in die der „Nordflug” führt. Entschädigt wird man durch die superben Fotos, die der Autor und seine Frau geschossen haben. Erfreulicherweise stellen diese Fotos die Grandiosität der Motive über die Finesse technischer Kinkerlitzchen, und deshalb fehlt ihnen gänzlich jene hochglänzende Künstlichkeit, die dem Betrachter den Spaß an vielen Bildbänden verdirbt. Die Fotos schaffen ihre eigenen Superlative.
Im übrigen sind auch negative Superlative erlaubt. Der „kürzeste Lande- und Bremsweg, den die Leute vom Tower jemals gesehen haben”, steht am Ende des Nordflugs, hingelegt bei Wind und Wetter von einem „Buschpiloten des Nordens”, der mit allem möglichen zu kämpfen hat, nur nicht mit dem Busch. Bäume und Sträucher nämlich gibt’s hier oben nicht; der einzige Wald weit und breit ist fünfzig Millionen Jahre alt und besteht aus versteinerten und mumifizierten Baumstümpfen. Die größte Gefriertruhe der Erde hat’s in sich. Friedhelm Rathjen
ANSGAR WALK: Nordflug. Eine faszinierende Reise zu den Gletschern und Fjorden der kanadischen Arktis. Pendragon Verlag Bielefeld 2000. 160Seiten, 88Abbildungen. 78Mark.
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