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1980 hielt man einen Menschen für normal, wenn er ein Jahr lang um einen nahen Angehörigen trauerte. 1994 empfahl man Psychiatern mindestens zwei Monate Trauerzeit abzuwarten, bevor man Traurigkeit, Schlaflosigkeit, Konzentrationsstörungen und Apathie als behandlungsbedürftige Depression einstufte. Mit dem neuen Katalog psychischer Störungen 'DSM 5' wird ab Mai 2013 empfohlen, schon nach wenigen Wochen die Alarmglocken zu läuten. Vor einer Inflation der Diagnosen in der Psychiatrie warnt deshalb der international renommierte Psychiater Allen Frances. Er zeigt auf, welche brisanten Konsequenzen…mehr

Produktbeschreibung
1980 hielt man einen Menschen für normal, wenn er ein Jahr lang um einen nahen Angehörigen trauerte. 1994 empfahl man Psychiatern mindestens zwei Monate Trauerzeit abzuwarten, bevor man Traurigkeit, Schlaflosigkeit, Konzentrationsstörungen und Apathie als behandlungsbedürftige Depression einstufte. Mit dem neuen Katalog psychischer Störungen 'DSM 5' wird ab Mai 2013 empfohlen, schon nach wenigen Wochen die Alarmglocken zu läuten. Vor einer Inflation der Diagnosen in der Psychiatrie warnt deshalb der international renommierte Psychiater Allen Frances. Er zeigt auf, welche brisanten Konsequenzen die Veröffentlichung haben wird: Alltäg-liche und zum Leben gehörende Sorgen und Seelenzustände werden als behandlungsbedürftige, geistige Krankheiten kategorisiert.

Verständlich und kenntnisreich schildert Allen Frances, was diese Änderungen bedeuten, wie es zu der überhandnehmenden Pathologisierung allgemein-menschlicher Verhaltensweisen kommen konnte, welche Interessen dahinterstecken und welche Gegenmaßnahmen es gibt. Ein fundamentales Buch über Geschichte, Gegenwart und Zukunft psychiatrischer Diagnosen sowie über die Grenzen der Psychiatrie - und ein eindrückliches Plädoyer für das Recht, normal zu sein.
Autorenporträt
BARBARA SCHADEN übertrug u. a. Bücher von Margaret Atwood, Nadine Gordimer, Kazuo Ishiguro, Siddhartha Mukherjee, Dava Sobel und Jayne Anne Phillips ins Deutsche.
Rezensionen
"Der Mann kennt sich aus - an der vierten DSM-Ausgabe hat er als Apa-Funktionär noch maßgeblich mitgewirkt. Jetzt gibt sich Frances geläutert und kritisiert wie kein zweiter die neuen Seelenleiden der Krankheitserfinder." SPIEGEL "Empirisch fundiert, gelehrt und spannend geschrieben- ist ein Glücksfall für die Medizingeschichte." SÜDDEUTSCHE ZEITUNG "Fachkundig und verständlich [...] Ein fundamentales Buch über Geschichte, Gegenwart und Zukunft psychiatrischer Diagnosen und ein eindrückliches Plädoyer für das Recht darauf, normal zu sein." BERLINER ZEITUNG "Eine leidenschaftlich kluge Verteidigungsschrift des normal Menschlichen [...] das Buch verdient weit über Amerika hinaus Beachtung [...] Die Alles-wird-gut-Gesellschaft bekommt durch Frances einen vitalen Einspruch zu hören [...]." Elisabeth von Thadden, DIE ZEIT "Mit seinem Buch geht er in die Tiefe [...] lesenswert." NEW SCIENTIST "Frances weiß, von was er redet." NEUE ZÜRCHER ZEITUNG "Frances trifft mit seinem Versuch, die "Normalität zu retten" in die Mitte der Zielscheibe eines gesellschaftlichen Problems [...] Ein Buch, das hoffentlich Einfluss gewinnt und möglichst breit wahrgenommen wird [...] Frances ist ein eloquenter und scharfzüngiger Kritiker." DIE PRESSE "Eine souveräne und entlarvende Streitschrift gegen die Akteure des mentalen Mainstreaming, in dem die manische Sorge um das seelische Wohlbefinden gefördert wird. Greifen Sie am nächsten Büfett also ruhig wieder etwas entspannter zu!" FAZ "Das lesenswerte Buch zeigt, wie fließend die Übergänge zwischen krank und gesund sind." BÜCHER "Frances Buch ist ein Plädoyer auf das Recht, 'normal' zu sein. BR LESEZEICHEN "Frances ist ein Insider der Szene." MAINECHO "Für mich war es eine spannende und bedenklich stimmende Lektüre, die mich mehrere Zielbahnhöfe verpassen ließ." Jürgen Schiebert, TROKKEN PRESSE "Ein fundamentales Buch über Geschichte, Gegenwart und Zukunft psychiatrischer Diagnosen sowie über die Grenzen der Psychiatrie - und ein eindrückliches Plädoyer für das Recht, normal zu sein." PTA "Der amerikanische Psychiater Allen Frances hat den Nerv der Zeit getroffen." ZEITPUNKT "Ich habe selten so ein exzellentes und fesselndes Sachbuch gelesen." Dr. med. Dieter Lehmkuhl, SOZIALPSYCHIATRISCHE INFORMATIONEN…mehr

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Dass sich mit Allen Frances ausgerechnet eine Koryphäe der Psychiatrie gegen die inflationäre Pathologisierung des Menschen (Night Eating Syndrome, Disruptive Launenfehlregulationsstörung) stellt, ist für Volker Breidecker ein Glücksfall der Medizingeschichte. Wenn der pensionierte Frances anstelle von Psychopharmaka die kontrollierte Selbstheilung propagiert, das von ihm ursprünglich selbst mitverantwortete Diagnosehandbuch DSM kritisiert und dabei empirisch fundiert, gelehrt und zugleich spannend schreibt, nickt Breidecker zustimmend. Die vom Autor eingestreuten Passagen zur Geschichte seiner Zunft runden den guten Eindruck für Breidecker ab.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.05.2013

Normalität ist ein ziemlicher Luxus

Pathologisierung des Alltags zum Vorteil der Pharmaindustrie: Der Psychiater Allen Frances lässt am einflussreichen neuen "Handbuch für psychische Erkrankungen" kein gutes Haar.

Ich zögere, diesem fremden Gefühl, dessen sanfter Schmerz mich bedrückt, seinen schönen und ernsten Namen zu geben: Traurigkeit. Es ist ein so ausschließliches, so egoistisches Gefühl, dass ich mich seiner fast schäme - und Traurigkeit erschien mir immer als ein Gefühl, das man achtet. Ich kannte es nicht; ich hatte Kummer empfunden, Bedauern und manchmal Reue. Jetzt hüllt mich etwas ein wie Seide, weich und ermattend, und trennt mich von den anderen." - Mit diesen Sätzen beginnt Françoise Sagan ihren berühmten Roman "Bonjour tristesse".

Und wenn in diesen Tagen das fünfte "Diagnostische und statistische Handbuch für psychische Erkrankungen" (DSM: Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) in den Vereinigten Staaten herauskommt, wird dieses Zögern wieder einmal in einem neuen Sinn lesbar sein. Manche werden sich vielleicht etwas früher fragen, ob ihre Melancholie wirklich noch schön und ernst ist oder schon matt und düster, vielleicht bereits eine Depression?

Im neuen Handbuch werden die Kriterien der Depression jedenfalls neu bestimmt. War früher ein Jahr die als normal empfundene Trauerzeit beim Verlust einer nahestehenden Person und durfte nach bisherigem psychiatrischen Standard beim Trauernden zumindest zwei Monate lang keine Depression diagnostiziert werden, so wird sich die Frist nach dem neuen Handbuch auf zwei Wochen verkürzen. Danach sollten die Kräfte des positiven Denkens wieder die Regie übernehmen.

Es ist das schlagendste Beispiel für die vielen Schwellensenkungen, die das neue Handbuch bringt und die einen kaum zu überschätzenden Einfluss auf unser Verständnis von Normalität nehmen werden. Das DSM, herausgegeben von der American Psychiatric Assocation, gilt als Bibel der Psychiatrie, an der sich auch der von der Weltgesundheitsorganisation erstellte ICD-Index (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) orientiert. Es schreibt die Grenzen zwischen Normalität und Störungen fest und bestimmt so über Fördergelder, Rentenansprüche, Strafmaße und Therapien. Der Arzt braucht es, wenn er seine Leistungen abrechnen will, die Pharmaindustrie braucht die Definitionen, um ihre Medikamente abzusetzen. Manchen liefert es den Vorwand, sich in Krankheiten zu flüchten oder Versorgungsansprüche anzumelden.

Der aktuellen fünften Version ging eine heftige öffentliche Debatte voraus. Die Novelle, klagten über zehntausend Mediziner, werde mit ihren permissiven Definitionen und neuen Krankheitsbildern ein Heer von eingebildeten Kranken ausheben. An der Spitze der Kampagne, die in letzter Minute noch einige Änderungen abwenden konnte, stand der amerikanische Psychiater Allen Frances. Parallel zum Erscheinen des DSM hat Frances selbst ein Buch vorgelegt, das alle Vorwürfe in einer fulminanten Polemik bündelt. Die Streitschrift lebt von der Autorität ihres Autors. Unter der Ägide von Frances entstand vor zwanzig Jahren die Vorgängerversion, das DSM-IV.

Frances spricht aus Erfahrung, und er spart nicht mit Selbstkritik. Der größte Fehler sei damals gewesen, in bester Absicht den Missbrauch der Kriterien durch die Pharmabranche nicht vorausgeahnt zu haben. Auf die Veröffentlichung des DSM-IV reagierte sie mit Kampagnen, und es folgte ein rasanter Anstieg an Diagnosen. Regelrechte Epidemien von bipolaren Störungen, Autismus und ADHS wurden losgetreten. Das neue Handbuch, sagt Frances, werde die diagnostische Inflation zur Hyperinflation steigern.

Überall sieht er die Schwellen sinken. Vergesslichkeit und Zerstreutheit würden zur leichten neurokognitiven Störung umdeutbar, Stimmungsschwankungen zur bipolaren Störung, Jähzorn zur Affektregulationsstörung. Aus allgemeinen Sorgen werden "Angst und depressive Störung, gemischt", für reizbare und aggressive Kinder wurde die "Disruptive Mood Dysregulation Disorder" erfunden, für Schüchterne steht die soziale Phobie bereit. Zu allem Überfluss habe das neue DSM die substanzlosen Verhaltenssüchte eingeführt, von der Kaufsucht bis zur Sexsucht. Ein unproblematisches Seelenleben können bald nur noch Haushaltsroboter führen.

Die geraffte Darstellung wird den Problemen, die hinter den vieldeutigen Begriffen oft liegen, sicher nicht ganz gerecht. An manchen Stellen hätte man sich in dem Buch auch einen vertieften Blick auf die neuen Definitionen gewünscht. Alles in allem beruft sich Frances aber zu Recht auf die Evidenz der enormen Wachstumsraten des Psychopharmakamarktes und des rasanten Anstiegs psychischer Leiden. Er führt Studien an, nach denen fast die Hälfte der Amerikaner und vierzig Prozent der Europäer von psychischen Störungen betroffen seien. Die Zahl bipolarer Störungen stieg seit der letzten Version des DSM bei Kindern um das Vierzigfache, die Autismusfälle nahmen um das Zwanzigfache zu. Zehn Prozent der Kinder wird heute ADHS bescheinigt. Ist das Leben bald nur noch medikamentös zu bewältigen?

Frances liest aus dem Handbuch überall die Gewinninteressen der Pharmaindustrie heraus. Es sei kein Zufall, dass die Pharmabranche mehr Geld für Werbung als für Forschung ausgibt und über beste Kontakte zur Politik verfügt. Geschickt beute sie die Grauzonen aus, die es bei psychischen Leiden immer geben wird. Das DSM-V arbeite dem umstrittenen Paradigmenwechsel zu einer neurowissenschaftlich fundierten Psychiatrie zu. Fragile Konstrukte erhielten so den Anschein biologischer Tatsachen, während man sich in Wirklichkeit weiter an Symptomen orientiert. Kurz: Patienten, denen ihre Krankheit von der Werbung eingeredet wurde - in den Vereinigten Staaten ist solche Direktwerbung für Arzneimittel erlaubt - , treffen auf von der Pharmaindustrie fortgebildete Hausärzte, welche die entsprechenden Pillen verschreiben.

Die finanzielle Verflechtung der Autoren des DSM mit der Pharmabranche wurde schon oft kritisiert. Frances nimmt sich selbst vom Vorwurf einer zu großen Nähe während seiner eigenen DSM-Autorschaft nicht aus. Er will die American Psychiatric Association, die als Auftraggeber des DSM dem ökonomischen Druck erlegen sei, am liebsten ganz abschaffen. Das DSM, von Beginn an darauf ausgerichtet, soziale Probleme und individuelle Eigenheiten in psychische Krankheiten umzudefinieren, ist für ihn eine einzige Misserfolgsgeschichte, der man wenigstens den Nimbus nehmen sollte. Als Paradebeispiel führt Frances die Heißhungerstörung an, das binge eating, das von den eigentlichen Ursachen, Fehlernährung und Bewegungsarmut, nur ablenke.

In seiner Wut auf die Pharmaindustrie begeht er aber selbst den Fehler, Umweltfaktoren auszublenden. Seine Empfehlung eines maximalen Konservatismus bei der Aufnahme neuer Krankheitsbilder (im Grunde könne alles beim Alten bleiben) erweckt den Eindruck, man habe es in der Psychiatrie mit einem fixen Set von Störungen zu tun, das immun gegen äußeren Wandel ist. Dass Anonymisierung und Flexibilisierung, Beschleunigung und zeitliche Entgrenzung, maschineller und globaler Konkurrenzdruck psychische Nebenwirkungen haben könnten - reine Erfindung der Pharmaindustrie!

Das Buch ist mit Blick auf die amerikanischen Verhältnisse geschrieben, wo Direktwerbung für Arzneimittel anders als in Europa erlaubt ist. Wie ist es dann aber zu erklären, dass auch in Europa die Zahl der Diagnosen rasant steigt? Vielleicht antwortet Frances' Kritik hier mit einem taktischen Manöver auf die Taktik der Pharmaindustrie und nimmt Verharmlosungen in Kauf. Der Philosoph Geert Keil warnt die Wissenschaft in einem klugen Nachwort davor, sich solches strategische Denken zu eigen zu machen.

Trotz dieses irritierenden Moments ist Frances eine souveräne und entlarvende Streitschrift gegen die Akteure des mentalen Mainstreaming gelungen, in dem die manische Sorge um das seelische Wohlbefinden gefördert wird. Greifen Sie am nächsten Büfett also ruhig wieder etwas entspannter zu!

THOMAS THIEL

Allen Frances: "Normal". Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen.

Aus dem Englischen von Barbara Schaden. DuMont Buchverlag, Köln 2013. 430 S., geb., 22,- [Euro].

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