Die Geschichte einer intensiven Liebe: Connell und Marianne wachsen in derselben Kleinstadt im Westen Irlands auf, aber das ist auch schon alles, was sie gemein haben. In der Schule ist Connell beliebt, der Star der Fußballmannschaft, Marianne die komische Außenseiterin. Doch als die beiden miteinander reden, geschieht etwas mit ihnen, das ihr Leben verändert. Und auch später, an der Universität in Dublin, werden sie, obwohl sie versuchen, einander fern zu bleiben, immer wieder magnetisch, unwiderstehlich voneinander angezogen. Eine Geschichte über Faszination und Freundschaft, über Sex und Macht.
Perlentaucher-Notiz zur FAS-Rezension
Auch der zweite Roman von Sally Rooney, in dem es um die Liebe zweier College-Studenten geht, über Klassengrenzen hinweg, und ein Leben im intellektuellen Rausch, hat Rezensentin Miryam Schellbach begeistert: Die Verliebten sind über die Verhältnisse zwar vollkommen aufgeklärt, wie sie mit hochgeistigen Dialogen auch immer wieder kundtun, dem Aufeinanderprallen ihrer beiden Welten aber dennoch schonungslos ausgeliefert, erzählt die amüsierte Kritikerin. Für sie gelingt es Rooney in Perfektion, Literatur zu schreiben, die den Nerv der Zeit trifft: "Serialität, Dialogbasiertheit, ein ironischer Aufruf von Bekanntem" und schematische Figuren sorgen für eine leichte Lektüre, die dennoch insgeheim eine solche zeitdiagnostische Schärfe transportiert, dass sie im Gedächtnis bleibt, lobt Schellbach.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.08.2020Gefallene
Vögel
In Sally Rooneys Roman
„Normale Menschen“ gehen
zwei Liebende bis in
alle Ewigkeit aufeinander zu
VON GUSTAV SEIBT
Sie ist die Tochter einer Anwältin. Er ist der Sohn einer Putzfrau. Seine Mutter arbeitet für ihre Mutter. Sie besuchen dieselbe Oberschule in einem Provinzstädtchen im äußersten Westen von Irland. Beide sind begabt und erfolgreich. Sie fangen eine Beziehung an, die sie vor ihren Mitschülern und Mitschülerinnen, die sonst sehr viel voneinander wissen, geheim halten. Denn die soziale Hierarchie erscheint im Binnenraum der Schule umgedreht: Er, der Junge Connell, ist ein Star, gut aussehend, umgänglich, intelligent, ein guter Fußballspieler; sie, das Mädchen Marianne, erscheint unansehnlich – jedenfalls macht sie nichts aus sich –, verschlossen, sie ist eine Außenseiterin, die in den Pausen für sich bleibt und „Auf dem Weg zu Swann“ liest, den ersten Band von Marcel Prousts Riesenzyklus. Eine „hässliche Loserin“ nennt sie sich später im Rückblick auf diese Zeit. Marianne ist von Anfang an von den beiden die interessantere Figur.
Das Geheimnis macht ihre Sexualität aufregender als die sonstigen im Pausenhof beredeten Versuche der jungen Liebesanfänger. „Ihr Geheimnis wog angenehm schwer in ihrem Körper“, heißt es von Marianne, „und drückte auf ihre Beckenknochen, wenn sie sich bewegte.“ Connell geht es ähnlich: „Er trug das Geheimnis wie etwas Großes und Heißes mit sich herum, wie ein überfülltes Tablett mit Heißgetränken.“
Das ist die Ausgangskonstellation von Sally Rooney zweitem Roman „Normale Menschen“. Er wurde nicht weniger enthusiastisch gefeiert als ihr Debüt mit dem ähnlich absichtsvoll farblosen Titel „Gespräche unter Freunden“. „Normale Menschen“ ist einfacher, wuchtiger als das erste Buch; man könnte sich die Reihenfolge gut umgekehrt vorstellen.
Aber „Normale Menschen“ wirkt auch klassischer, der Tradition stärker verpflichtet. Hinter der sozial und psychologisch präzise konturierten Anordnung schimmert das Modell englischer Romane des 19. Jahrhunderts durch: Gefühl und Vorurteil im Widerstreit, Seelenlage und Klassenlage in handlungstreibender Disharmonie. Und dies in einer unverkennbar auch weiblichen Perspektive. Dass Rooney ein Zitat von George Eliot, der neben Goethe in Geschlechterfragen unparteilichsten Erzählerin aller Zeiten, vor ihr Buch gestellt hat, ist ein treffendes Signal.
Im Sozialraum der Schule ist Connell der Stärkere der beiden. So wird es zu einer großen, bis zum Ende des Romans nachhallenden Verletzung, dass er Marianne nicht als Partnerin für den Abschlussball einlädt, mit der Folge, dass die Unbeliebte diesem ganz fernbleibt. Das Geheimnis, von dem sich später herausstellt, dass es schon keines mehr war, erweist sich als Gefängnis. Die Geschichte könnte hier schon zu Ende sein, wenn die gesellschaftlichen Gegensätze greifen würden: Denn dann würde Connell als Bildungsaufsteiger einen praktisch verwertbaren Beruf anstreben und möglichst nah zu Hause Jura studieren. Doch Marianne, die Proust-Leserin, geht für Literatur ans Trinity-College in Dublin, und sie überredet Connell, es ihr nachzutun.
Hier nun verschiebt sich das zunächst widersprüchliche Gefüge von Klassenlage und sozialem Ansehen in der Peergroup. Marianne wird elegant, ihre Herkunft wird nun auch zu kulturellem und sozialem Kapital, während Connell sich als ungeschicktes Landei in billigen Klamotten erweist. Rooney macht kein sehr großes Ding aus der Klassenfrage, ihr Roman ist im Kern eine Beziehungsgeschichte, deren Quellen sie in den tieferen Schichten von persönlichen Verletzungen findet, aber sie lässt die objektiven gesellschaftlichen Umstände doch konstant mitlaufen. Der mittellose Connell muss als Kellner jobben, bevor seine Begabung ihm den Gewinn eines Stipendiums erlaubt, das ihn ökonomisch freistellt. Auch Marianne bewirbt sich erfolgreich um ein Stipendium, doch ihr dient es zur Reparatur eines brüchigen Selbstbewusstseins.
Im Roman des 19. Jahrhunderts würde die komplexe Gefühls- und Klassenlage der beiden auf die Ehe zulaufen, womöglich auf eine scheiternde. Diesen institutionellen Parameter stellt die Gegenwart – das Buch ist historisch genau datiert, zwischen 2011 und 2015 – nicht mehr zur Verfügung. Die beiden sind zurückgeworfen auf Liebe als Kommunikation, als von Tag zu Tag fluides Bereden und Befragen, immer in der Interaktion mit nahen Beobachtern, den Müttern, Freundinnen, Kommilitonen, deren Beobachtungen unbarmherzig und meist falsch sind.
Eigentlich müssten die beiden, nachdem Marianne ihren Außenseiterstatus überwunden und Connell seine materielle Notlage aufgelöst hat, harmonisch zueinander finden. Denn dass sie voneinander nicht lassen können, das zeigen alle Versuche mit anderen Partnern. Und wie oft sagen sie einander, dass sie sich lieben! Aber es ist immer wie dahingesagt und wird durch andere Formulierungen sogleich in Frage gestellt: „Wir waren nie richtig zusammen.“ Dieses Wogen der Aussagen, der wechselseitigen Beschreibungen, der immer neuen Anläufe zu Verbindlichkeit, ist der eigentliche Inhalt des Romans. Beziehungsstatus: unklar. Wir müssen reden und es immer wieder mit Sex versuchen.
Man begreift, dass das eine perfekte Vorlage für eine Verfilmung mit guten, einnehmenden Schauspielern ist. Die BBC-Serie „Normal People“, die der Rezensent aus literaturkritischem Ethos sich versagt hat, überholt inzwischen auch hierzulande schon das Buch. Sie dürfte dessen Wahrnehmung längst determinieren, sodass die Kritik gut beraten ist, hier eine medienästhetische Reflexion anzustellen.
Rooney nämlich zeigt ihre Figuren überwiegend von außen. Das heißt nicht, dass sie viel beschreibt. Wer popliterarische Bewertungen von Anziehsachen und Konsumartikeln erwartet, wird nicht völlig enttäuscht, aber prägend ist es nicht. Auch werden Nebenfiguren kaum visualisiert, sogar ein Mitschüler, der später Suizid begeht und eine Trauerfeier erhält, ist kaum mehr als ein kurzangebundener Name: Rob heißt er.
Dafür zeigt Rooney ihre Menschen beim Reden und gleichzeitigen Etwastun: Diese kleinen Tätigkeiten – eine Schokocreme essen, einen Tisch decken, einen Drink holen – sind so unspektakulär, so fern aller Poetisierung des Alltags, dass sich gelegentlich Langeweile einstellen kann. Warum macht Rooney etwas, das man ihr sogar als mechanisch, wie im Schreibkurs erlernt ankreiden könnte? Eigentlich ist es ein visuelles Nähesignal, eine Handkamera, die nah auf den Figuren bleibt: „Eric nahm einen großen Mundvoll Tee, schluckte ihn runter und schmatzte mit den Lippen.“ Dabei erfahren wir kaum, wie dieser Eric aussieht.
Daraus könnte man einen gewichtigen Einwand entwickeln: Rooney nähert sich von vornherein einer möglichen filmischen Umsetzung an, sie legt Physiognomien nicht fest, nur Gesten. Ein erzählendes Drehbuch also, das die eigentliche Chance von Literatur, die sie dem Film voraus hat, verschenkt, nämlich die Introspektion. Nichts von proustischem Drehen und Wenden der seelischen Zustände und Motive, keine psychologischen George-Eliot-Exkurse samt ihrer tiefen Lustigkeit. Dabei ist die Erzählerinstanz in dem Roman durchaus übergeordnet, durch aparte Metaphern ausgewiesen. Warum also die psychologische Zurückhaltung?
Die Figuren kennen und verstehen sich selbst nicht, sie wissen kaum, wie ihnen geschieht. Denn sie sind sehr jung, zwischen 17 und 22 Jahre alt etwa. Alles, was sie tun und erfahren, machen sie zum ersten Mal. Sie irren sich, machen Fehler, verletzen sich, verpassen sich, weil sie einander missverstehen. Erst diese Undeutlichkeit lässt die eigentlichen Dramen der zunächst so beiläufig dahinplätschernden Geschichte – was ist beiläufiger als „normal“ zu sein – mit leiser Wucht hervortreten. Marianne hat eine familiäre Gewaltgeschichte hinter sich; Connell bricht unter der Last der Erwartungen an sich selbst zusammen und entwickelt eine depressive Störung.
Nachdem ihm eine Therapie kaum helfen konnte – das Fragebogenwesen und Pillenverschreiben der einschlägigen „Beratungen“ wird sarkastisch vorgeführt –, scheint literarische Begabung, eine im Mailkontakt mit Marianne erworbene Formulierungskraft, ihm einen Ausweg zu bieten. Marianne versucht sich in kurzen sadomasochistischen Beziehungen; sie bleibt trostlos. Auch Connell empfindet den Literaturbetrieb, der ihn aufzunehmen beginnt, als hohl und schaustellerisch. So bleiben die beiden am Ende aufeinander verwiesen, zwei aus dem Nest gefallene junge Vögel. Werden sie zusammenbleiben? Nicht einmal das ist sicher. Sally Rooney hat ein Buch geschrieben, in dem alles offen bleibt. Dieses Schweben, diese Unverbindlichkeit, diese kunstvolle Verschwommenheit dürfte das Hauptgeheimnis seines Erfolgs sein.
Sally Rooney: Normale Menschen. Roman. Aus dem Englischen von Zoe Beck. Luchterhand Verlag, München 2020. 317 Seiten, 20 Euro.
Der Roman wirkt klassischer
als der Vorgänger, stärker der
Tradition verpflichtet
Viele Gesten, wenig
Innerlichkeit: Der Text liest sich
wie ein erzählendes Drehbuch
Beide Protagonisten empfinden
den Literaturbetrieb als
hohl und schaustellerisch
Sally Rooney wurde 1991 im irischen
Castlebar geboren. Ihre Romane „Gespräche mit Freunden“ und „Normale Menschen“ wurden internationale Bestseller. Die BBC-
Serienadaption von „Normale Menschen“ ist auch in
Deutschland verfügbar.
Foto: Klaus Holsting
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Vögel
In Sally Rooneys Roman
„Normale Menschen“ gehen
zwei Liebende bis in
alle Ewigkeit aufeinander zu
VON GUSTAV SEIBT
Sie ist die Tochter einer Anwältin. Er ist der Sohn einer Putzfrau. Seine Mutter arbeitet für ihre Mutter. Sie besuchen dieselbe Oberschule in einem Provinzstädtchen im äußersten Westen von Irland. Beide sind begabt und erfolgreich. Sie fangen eine Beziehung an, die sie vor ihren Mitschülern und Mitschülerinnen, die sonst sehr viel voneinander wissen, geheim halten. Denn die soziale Hierarchie erscheint im Binnenraum der Schule umgedreht: Er, der Junge Connell, ist ein Star, gut aussehend, umgänglich, intelligent, ein guter Fußballspieler; sie, das Mädchen Marianne, erscheint unansehnlich – jedenfalls macht sie nichts aus sich –, verschlossen, sie ist eine Außenseiterin, die in den Pausen für sich bleibt und „Auf dem Weg zu Swann“ liest, den ersten Band von Marcel Prousts Riesenzyklus. Eine „hässliche Loserin“ nennt sie sich später im Rückblick auf diese Zeit. Marianne ist von Anfang an von den beiden die interessantere Figur.
Das Geheimnis macht ihre Sexualität aufregender als die sonstigen im Pausenhof beredeten Versuche der jungen Liebesanfänger. „Ihr Geheimnis wog angenehm schwer in ihrem Körper“, heißt es von Marianne, „und drückte auf ihre Beckenknochen, wenn sie sich bewegte.“ Connell geht es ähnlich: „Er trug das Geheimnis wie etwas Großes und Heißes mit sich herum, wie ein überfülltes Tablett mit Heißgetränken.“
Das ist die Ausgangskonstellation von Sally Rooney zweitem Roman „Normale Menschen“. Er wurde nicht weniger enthusiastisch gefeiert als ihr Debüt mit dem ähnlich absichtsvoll farblosen Titel „Gespräche unter Freunden“. „Normale Menschen“ ist einfacher, wuchtiger als das erste Buch; man könnte sich die Reihenfolge gut umgekehrt vorstellen.
Aber „Normale Menschen“ wirkt auch klassischer, der Tradition stärker verpflichtet. Hinter der sozial und psychologisch präzise konturierten Anordnung schimmert das Modell englischer Romane des 19. Jahrhunderts durch: Gefühl und Vorurteil im Widerstreit, Seelenlage und Klassenlage in handlungstreibender Disharmonie. Und dies in einer unverkennbar auch weiblichen Perspektive. Dass Rooney ein Zitat von George Eliot, der neben Goethe in Geschlechterfragen unparteilichsten Erzählerin aller Zeiten, vor ihr Buch gestellt hat, ist ein treffendes Signal.
Im Sozialraum der Schule ist Connell der Stärkere der beiden. So wird es zu einer großen, bis zum Ende des Romans nachhallenden Verletzung, dass er Marianne nicht als Partnerin für den Abschlussball einlädt, mit der Folge, dass die Unbeliebte diesem ganz fernbleibt. Das Geheimnis, von dem sich später herausstellt, dass es schon keines mehr war, erweist sich als Gefängnis. Die Geschichte könnte hier schon zu Ende sein, wenn die gesellschaftlichen Gegensätze greifen würden: Denn dann würde Connell als Bildungsaufsteiger einen praktisch verwertbaren Beruf anstreben und möglichst nah zu Hause Jura studieren. Doch Marianne, die Proust-Leserin, geht für Literatur ans Trinity-College in Dublin, und sie überredet Connell, es ihr nachzutun.
Hier nun verschiebt sich das zunächst widersprüchliche Gefüge von Klassenlage und sozialem Ansehen in der Peergroup. Marianne wird elegant, ihre Herkunft wird nun auch zu kulturellem und sozialem Kapital, während Connell sich als ungeschicktes Landei in billigen Klamotten erweist. Rooney macht kein sehr großes Ding aus der Klassenfrage, ihr Roman ist im Kern eine Beziehungsgeschichte, deren Quellen sie in den tieferen Schichten von persönlichen Verletzungen findet, aber sie lässt die objektiven gesellschaftlichen Umstände doch konstant mitlaufen. Der mittellose Connell muss als Kellner jobben, bevor seine Begabung ihm den Gewinn eines Stipendiums erlaubt, das ihn ökonomisch freistellt. Auch Marianne bewirbt sich erfolgreich um ein Stipendium, doch ihr dient es zur Reparatur eines brüchigen Selbstbewusstseins.
Im Roman des 19. Jahrhunderts würde die komplexe Gefühls- und Klassenlage der beiden auf die Ehe zulaufen, womöglich auf eine scheiternde. Diesen institutionellen Parameter stellt die Gegenwart – das Buch ist historisch genau datiert, zwischen 2011 und 2015 – nicht mehr zur Verfügung. Die beiden sind zurückgeworfen auf Liebe als Kommunikation, als von Tag zu Tag fluides Bereden und Befragen, immer in der Interaktion mit nahen Beobachtern, den Müttern, Freundinnen, Kommilitonen, deren Beobachtungen unbarmherzig und meist falsch sind.
Eigentlich müssten die beiden, nachdem Marianne ihren Außenseiterstatus überwunden und Connell seine materielle Notlage aufgelöst hat, harmonisch zueinander finden. Denn dass sie voneinander nicht lassen können, das zeigen alle Versuche mit anderen Partnern. Und wie oft sagen sie einander, dass sie sich lieben! Aber es ist immer wie dahingesagt und wird durch andere Formulierungen sogleich in Frage gestellt: „Wir waren nie richtig zusammen.“ Dieses Wogen der Aussagen, der wechselseitigen Beschreibungen, der immer neuen Anläufe zu Verbindlichkeit, ist der eigentliche Inhalt des Romans. Beziehungsstatus: unklar. Wir müssen reden und es immer wieder mit Sex versuchen.
Man begreift, dass das eine perfekte Vorlage für eine Verfilmung mit guten, einnehmenden Schauspielern ist. Die BBC-Serie „Normal People“, die der Rezensent aus literaturkritischem Ethos sich versagt hat, überholt inzwischen auch hierzulande schon das Buch. Sie dürfte dessen Wahrnehmung längst determinieren, sodass die Kritik gut beraten ist, hier eine medienästhetische Reflexion anzustellen.
Rooney nämlich zeigt ihre Figuren überwiegend von außen. Das heißt nicht, dass sie viel beschreibt. Wer popliterarische Bewertungen von Anziehsachen und Konsumartikeln erwartet, wird nicht völlig enttäuscht, aber prägend ist es nicht. Auch werden Nebenfiguren kaum visualisiert, sogar ein Mitschüler, der später Suizid begeht und eine Trauerfeier erhält, ist kaum mehr als ein kurzangebundener Name: Rob heißt er.
Dafür zeigt Rooney ihre Menschen beim Reden und gleichzeitigen Etwastun: Diese kleinen Tätigkeiten – eine Schokocreme essen, einen Tisch decken, einen Drink holen – sind so unspektakulär, so fern aller Poetisierung des Alltags, dass sich gelegentlich Langeweile einstellen kann. Warum macht Rooney etwas, das man ihr sogar als mechanisch, wie im Schreibkurs erlernt ankreiden könnte? Eigentlich ist es ein visuelles Nähesignal, eine Handkamera, die nah auf den Figuren bleibt: „Eric nahm einen großen Mundvoll Tee, schluckte ihn runter und schmatzte mit den Lippen.“ Dabei erfahren wir kaum, wie dieser Eric aussieht.
Daraus könnte man einen gewichtigen Einwand entwickeln: Rooney nähert sich von vornherein einer möglichen filmischen Umsetzung an, sie legt Physiognomien nicht fest, nur Gesten. Ein erzählendes Drehbuch also, das die eigentliche Chance von Literatur, die sie dem Film voraus hat, verschenkt, nämlich die Introspektion. Nichts von proustischem Drehen und Wenden der seelischen Zustände und Motive, keine psychologischen George-Eliot-Exkurse samt ihrer tiefen Lustigkeit. Dabei ist die Erzählerinstanz in dem Roman durchaus übergeordnet, durch aparte Metaphern ausgewiesen. Warum also die psychologische Zurückhaltung?
Die Figuren kennen und verstehen sich selbst nicht, sie wissen kaum, wie ihnen geschieht. Denn sie sind sehr jung, zwischen 17 und 22 Jahre alt etwa. Alles, was sie tun und erfahren, machen sie zum ersten Mal. Sie irren sich, machen Fehler, verletzen sich, verpassen sich, weil sie einander missverstehen. Erst diese Undeutlichkeit lässt die eigentlichen Dramen der zunächst so beiläufig dahinplätschernden Geschichte – was ist beiläufiger als „normal“ zu sein – mit leiser Wucht hervortreten. Marianne hat eine familiäre Gewaltgeschichte hinter sich; Connell bricht unter der Last der Erwartungen an sich selbst zusammen und entwickelt eine depressive Störung.
Nachdem ihm eine Therapie kaum helfen konnte – das Fragebogenwesen und Pillenverschreiben der einschlägigen „Beratungen“ wird sarkastisch vorgeführt –, scheint literarische Begabung, eine im Mailkontakt mit Marianne erworbene Formulierungskraft, ihm einen Ausweg zu bieten. Marianne versucht sich in kurzen sadomasochistischen Beziehungen; sie bleibt trostlos. Auch Connell empfindet den Literaturbetrieb, der ihn aufzunehmen beginnt, als hohl und schaustellerisch. So bleiben die beiden am Ende aufeinander verwiesen, zwei aus dem Nest gefallene junge Vögel. Werden sie zusammenbleiben? Nicht einmal das ist sicher. Sally Rooney hat ein Buch geschrieben, in dem alles offen bleibt. Dieses Schweben, diese Unverbindlichkeit, diese kunstvolle Verschwommenheit dürfte das Hauptgeheimnis seines Erfolgs sein.
Sally Rooney: Normale Menschen. Roman. Aus dem Englischen von Zoe Beck. Luchterhand Verlag, München 2020. 317 Seiten, 20 Euro.
Der Roman wirkt klassischer
als der Vorgänger, stärker der
Tradition verpflichtet
Viele Gesten, wenig
Innerlichkeit: Der Text liest sich
wie ein erzählendes Drehbuch
Beide Protagonisten empfinden
den Literaturbetrieb als
hohl und schaustellerisch
Sally Rooney wurde 1991 im irischen
Castlebar geboren. Ihre Romane „Gespräche mit Freunden“ und „Normale Menschen“ wurden internationale Bestseller. Die BBC-
Serienadaption von „Normale Menschen“ ist auch in
Deutschland verfügbar.
Foto: Klaus Holsting
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.09.2020Gelassene Nerds
Warum Sally Rooneys Roman "Normale Menschen" noch viel besser ist als die gleichnamige Serie
Als ich vor zwei Jahren zu meinem 30. Geburtstag einlud, stellte ich der E-Mail ein Zitat aus "Gespräche mit Freunden", Sally Rooneys Debüt von 2017, voran: "Ich werde mich weiterbilden, dachte ich. Ich werde irgendwann so klug sein, dass mich niemand mehr versteht." Damals wusste ich nicht, dass ich mit dem ironisch und zugleich emphatisch geäußerten Satz in guter Gesellschaft war. Die riesige Fangemeinde von Sally Rooney, dem gerade 29-jährigen irischen Shootingstar, wirft bei Twitter und Instagram mit Sätzen aus ihren Romanen um sich, als gäbe es für jede Lebenssituation einen passenden Rooney-Satz und für jede Krise eine treffende Anekdote aus ihrem Werk. Zuletzt waren unter dem Hashtag #connellschain, also Connells Kette, solche Tweets zu lesen: "ich versuche gerade, meinen Mann davon zu überzeugen, dass eine solche Kette auch bei ihm gut aussähe".
Besitzer der verführerischen Kette ist Connell, neben Marianne die zentrale Figur in "Normale Menschen", Sally Rooneys zweitem Roman. Wie schon im Debüt geht es um das Erwachsenwerden junger Iren der Generation Z, also derjenigen, für die das Smartphone nie etwas war, das sie erst kennenlernen mussten. Und wieder wachsen beide Protagonisten im ländlich geprägten Westen Irlands auf und werden vom Umzug nach Dublin und dem Studienbeginn am renommierten Trinity College in einen Zustand beinah manisch gelebter Intellektualität versetzt. Eine typische Szene im von stark zugespitzten Dialogen getragenen Rooney-Kosmos sieht so aus: Marianne und Connell sind ineinander verliebt, heimlich und verdruckst. Postpubertär wortkarg haben sie keine Sprache für ihre Zuneigung und beeindrucken einander stattdessen mit Lektüreempfehlungen. "Er sagte ihr, sie solle versuchen, das ,Kommunistische Manifest' zu lesen, er glaubte, es würde ihr gefallen, und er bot ihr an, den Titel aufzuschreiben, damit sie ihn nicht vergaß. Ich weiß, wie das ,Kommunistische Manifest' heißt, sagte sie."
Marianne Sheridan wächst in einer weißen Villa auf, ihre Mutter ist Anwältin, vornehmlich abwesend. Alleinige Vertraute ist die Reinigungskraft des Hauses, eine lebenskluge Gestalt voll Zuneigung und kompensatorischer Mütterlichkeit. Einziges Manko ist, dass ebendiese Putzfrau die Mutter von Connell Waldron, Mariannes Mitschüler, ist. Das nicht sehr subtile, aber wirkungsvolle Motiv ist also die Liebe über Klassengrenzen hinweg. In der Schule, wo es bodenständig zugeht, erregt Mariannes Wohlstandsaura Misstrauen. Da gilt als beliebt, wer die meisten Biere trinkt oder Nacktfotos aufs Handy geschickt bekommt. Damit das Football-Talent Connell in der Ansehenshierarchie nicht abrutscht, versteckt er die Affäre. Die beiden schlafen heimlich im Kinderzimmer der Anwaltsvilla miteinander, während Connells Mutter dort den Küchenboden schrubbt.
Es ist Sally Rooneys großes Talent, dass diese fehlende Subtilität des Plots überhaupt nicht auf einen Genre-Liebesroman hinausläuft. Connells und Mariannes vierjährige On-Off-Beziehung eröffnet einen Schauplatz für die gesteigerte Intensität milieuübergreifender Liebe, die Fallstricke des sozialen Habitus, für sexuelle Vitalität und romantisches Missverständnis, wie man es aus der Ästhetik des britischen Gesellschaftsromans des 19. Jahrhunderts kennt. Das Spiel mit dieser Tradition wird in der Geschichte immer wieder explizit. Einmal liest Connell Jane Austens "Emma", den Urtext des Sittenromans. An der Stelle, an der es so aussieht, als würde Mr. Knightley Harriet, also die falsche, heiraten, muss Connell das Buch weglegen, "emotional seltsam aufgewühlt".
Historische Kulisse des Romans sind die Folgejahre der Bankenkrise, die Irland 2008 im europäischen Vergleich besonders schwer getroffen hat und die Connell und Marianne als resignierte Teenager zurücklässt. Korrupte Väter von Mitschülern, die in der Finanzindustrie arbeiten, die Tristesse leerstehender Wohnsiedlungen im Zentrum ihrer Kleinstadt und die Überzeugung, niemals einen lukrativen Beruf zu finden, sind die Koordinaten dieser Post-Crash-Jugend. Dann aber erhalten sie als Jahrgangsbeste eine Zulassung zum Studium am Trinity College, dessen Säulenheilige Samuel Beckett und Edmund Burke sind. Hier spielt der größte Teil des Romans. Wie zu erwarten verkehrt sich die Beliebtheitshierarchie im neuen Umfeld. Marianne beherrscht die Umgangsformen der Reichen mühelos. Connell hingegen scheint immer die falsche Kleidung zu tragen, "Versandhaus-Chic" nennt das einmal jemand hinter seinem Rücken. Seine Mitstudenten parlieren selbstsicher über die Romane des englischen Barocks, ohne sie gelesen zu haben, streiten über die ideale Form eines Champagnerglases und verbringen die Sommer in den Landhäusern ihrer Eltern.
Dabei ist der Lifestyle-Marxismus, den Marianne und Connell untereinander kultivieren, absolut humorvoll. In großen Gesten sinnieren sie über das Matriarchat, über die Vorzüge von Polyamorie und "über den präzisen historischen Moment, in dem sie gerade leben, die Schwierigkeit, einen solchen Moment zu betrachten, während er gerade abläuft". Einen eindeutigen "antikapitalistischen Impetus", so wie das linke "Jacobin"Magazin kürzlich vermutete, hat die Geschichte aber nicht. Es ist vielmehr das einer solchen Liebe zwingend inhärente Mischverhältnis aus absoluter Aufgeklärtheit und bedingungslosem Ausgeliefertsein, das plastisch beschrieben wird. Eben weil die Liebe in Rooneys Geschichten immer nur kurzzeitige Refugien dafür schafft, sich in ein gesellschaftliches Vakuum zu begeben, bevor die Transaktionskosten dafür zu hoch werden. Ein Beispiel: Jedes Jahr vergibt die Universität Vollstipendien. Connell und Marianne bewerben sich beide erfolgreich darum. Für Connell bedeutet das die Sicherung seines Lebensunterhalts. Der finanziell sorglosen Marianne ging es bei der Bewerbung darum, "ihren überlegenen Intellekt öffentlich durch die Überweisung großer Geldsummen anerkannt zu sehen". Verdient haben sie es beide. Doch vergiftet die existentielle Notwendigkeit für den einen die bloß symbolische Bedeutung für die andere.
Sally Rooneys Aufstieg war rasant. Binnen eines Jahres und während sie noch als Studentin der amerikanischen Literatur an ihrer Abschlussarbeit feilte, wurde sie nicht nur von einer Literaturagentin entdeckt, sondern unterschrieb auch einen Vertrag bei Faber & Faber, nachdem bei einer spektakulären Auktion sieben Verlagshäuser auf ihr Manuskript geboten hatten. Seitdem hat sie zwei Bestseller veröffentlicht, die mit Preisen überhäuft wurden und unter deren prominenten Fürsprechern Barack Obama und Zadie Smith waren. Rooney sagt von sich, dass sie sehr schnell schreibe. Ihren ersten Roman hat sie in drei Monaten beendet, "Normale Menschen" folgte binnen eines Jahres. Angesichts der stringenten Komposition der Geschichte, der erzählerischen Disziplin und der gnadenlosen Schärfe ihrer Sätze klingt das wie ein Wunder. Es ist mehr als nur eine Anekdote, dass Rooney unter den begabtesten Rednerinnen im Debattierclub ihrer Universität war und 2013 die europäische Meisterschaft der Meisterredner mit einer Rede über den Fortschritt gewann. Wie in diesen Wettkämpfen scheint es, als wäre ihren Geschichten eine Uhr eingebaut, die unermüdlich jeden Dialog vorantreibt. Die Gespräche zwischen Marianne und ihren Freundinnen, in denen es um Politik, Literatur und Philosophie und selten um Männer geht, sind so spritzig-nerdhaft und von beredter Schlagfertigkeit, dass man sich wünscht, mitreden zu dürfen.
In den schwachen Momenten des Romans überwiegt die zweite Verwandtschaft mit dem Debattensport. So genial die Rhetorik, so leer ist das Anliegen der politischen Einlassungen. Rooneys Protagonisten handeln nicht politisch. Streit, Dissens und Ideale sind für sie auf bloß ästhetische Weise interessant, als Style oder Thema auf der Party. Das mag man oberflächlich nennen. Auch mag es eitel wirken, wenn es heißt, Marianne komme es vor, "als gebe es keine Grenzen dessen, was ihr Gehirn leisten kann". Die weibliche Muskelschau des Intellekts, die man bei Rooneys Protagonistinnen findet, ist in der Gegenwartsliteratur jedoch eine erfrischende Ausnahme.
Keine der Figuren in "Normale Menschen" ist außerordentlich, keine besonders schön oder elegant, kein Hauch von Unendlichkeit umweht sie. Marianne gilt in der Schule als "nicht besonders attraktiv", Connell erscheint einigen gar "so groß und sanft wie ein Labrador". Es ist bedauerlich, dass die in diesem Sommer angelaufene BBC-Serienadaption von "Normale Menschen" das Ruder rumreißt und das Nerdtum der beiden Charaktere durch den radikalen visuellen Fokus auf die Jugend und Schönheit der Schauspieler verwischt und dann kurzerhand auch noch viele der interessanteren Dialoge herausgeschnitten hat. Dass der Versuch, die profane Gelassenheit mit Äußerlichem zu verbiegen, an Rooney abprallt und ihre Fans provoziert, musste kürzlich ein Schweizer Literaturkritiker erfahren. Der hatte nicht den Text, sondern das Aussehen der Autorin beschrieben, weil er fand, sie erinnere an ein "aufgeschrecktes Reh mit sinnlichen Lippen". Die mediale Resonanz war enorm, unter dem Hashtag #dichterdran drehten deutschsprachige Autorinnen im ironischen Verkehrungsmodus den Spieß um und schrieben über das Aussehen bedeutender Schriftsteller.
Eine Literaturgeschichte des beginnenden 21. Jahrhunderts wird wahrscheinlich nicht mehr darum herumkommen, dieses Internetrauschen, dieses Zitatfolgeleben und die Begleitdiskussionen in den sozialen Netzwerken zu beschreiben, die eine neue Qualität der Rezeption von Gegenwartsliteratur einläuten. Vielleicht wird es dann auch darum gehen, dass der Trend zur Serie die Literaturproduktion nachhaltig erfasst hat. Denn wie keine bisher ist Rooney eine Autorin, der es gelingt, das Prinzip Netflix - Serialität, Dialogbasiertheit, ein ironischer Aufruf von Bekanntem - literarisch zu verarbeiten. Das Tempo ist schnell, die Gespräche sind klug gearbeitet, zynisch und direkt. Die Figuren kommen hoffnungslos schematisch daher, und dennoch will man nach der Lektüre an ihnen festhalten. Das ist das scheinbare Paradox von "Normale Menschen": Die Motive sind durch und durch populär und dennoch von zeitdiagnostischer Schärfe, die Geschichte ist ein Easy-Read, bleibt aber im Gedächtnis, und der stilistischen Nähe zur Serie zum Trotz ist das Buch besser als seine eigene Verfilmung.
MIRYAM SCHELLBACH
Sally Rooney: "Normale Menschen". Roman. Aus dem Englischen von Zoë Beck, Luchterhand Verlag, 320 Seiten, 20 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Warum Sally Rooneys Roman "Normale Menschen" noch viel besser ist als die gleichnamige Serie
Als ich vor zwei Jahren zu meinem 30. Geburtstag einlud, stellte ich der E-Mail ein Zitat aus "Gespräche mit Freunden", Sally Rooneys Debüt von 2017, voran: "Ich werde mich weiterbilden, dachte ich. Ich werde irgendwann so klug sein, dass mich niemand mehr versteht." Damals wusste ich nicht, dass ich mit dem ironisch und zugleich emphatisch geäußerten Satz in guter Gesellschaft war. Die riesige Fangemeinde von Sally Rooney, dem gerade 29-jährigen irischen Shootingstar, wirft bei Twitter und Instagram mit Sätzen aus ihren Romanen um sich, als gäbe es für jede Lebenssituation einen passenden Rooney-Satz und für jede Krise eine treffende Anekdote aus ihrem Werk. Zuletzt waren unter dem Hashtag #connellschain, also Connells Kette, solche Tweets zu lesen: "ich versuche gerade, meinen Mann davon zu überzeugen, dass eine solche Kette auch bei ihm gut aussähe".
Besitzer der verführerischen Kette ist Connell, neben Marianne die zentrale Figur in "Normale Menschen", Sally Rooneys zweitem Roman. Wie schon im Debüt geht es um das Erwachsenwerden junger Iren der Generation Z, also derjenigen, für die das Smartphone nie etwas war, das sie erst kennenlernen mussten. Und wieder wachsen beide Protagonisten im ländlich geprägten Westen Irlands auf und werden vom Umzug nach Dublin und dem Studienbeginn am renommierten Trinity College in einen Zustand beinah manisch gelebter Intellektualität versetzt. Eine typische Szene im von stark zugespitzten Dialogen getragenen Rooney-Kosmos sieht so aus: Marianne und Connell sind ineinander verliebt, heimlich und verdruckst. Postpubertär wortkarg haben sie keine Sprache für ihre Zuneigung und beeindrucken einander stattdessen mit Lektüreempfehlungen. "Er sagte ihr, sie solle versuchen, das ,Kommunistische Manifest' zu lesen, er glaubte, es würde ihr gefallen, und er bot ihr an, den Titel aufzuschreiben, damit sie ihn nicht vergaß. Ich weiß, wie das ,Kommunistische Manifest' heißt, sagte sie."
Marianne Sheridan wächst in einer weißen Villa auf, ihre Mutter ist Anwältin, vornehmlich abwesend. Alleinige Vertraute ist die Reinigungskraft des Hauses, eine lebenskluge Gestalt voll Zuneigung und kompensatorischer Mütterlichkeit. Einziges Manko ist, dass ebendiese Putzfrau die Mutter von Connell Waldron, Mariannes Mitschüler, ist. Das nicht sehr subtile, aber wirkungsvolle Motiv ist also die Liebe über Klassengrenzen hinweg. In der Schule, wo es bodenständig zugeht, erregt Mariannes Wohlstandsaura Misstrauen. Da gilt als beliebt, wer die meisten Biere trinkt oder Nacktfotos aufs Handy geschickt bekommt. Damit das Football-Talent Connell in der Ansehenshierarchie nicht abrutscht, versteckt er die Affäre. Die beiden schlafen heimlich im Kinderzimmer der Anwaltsvilla miteinander, während Connells Mutter dort den Küchenboden schrubbt.
Es ist Sally Rooneys großes Talent, dass diese fehlende Subtilität des Plots überhaupt nicht auf einen Genre-Liebesroman hinausläuft. Connells und Mariannes vierjährige On-Off-Beziehung eröffnet einen Schauplatz für die gesteigerte Intensität milieuübergreifender Liebe, die Fallstricke des sozialen Habitus, für sexuelle Vitalität und romantisches Missverständnis, wie man es aus der Ästhetik des britischen Gesellschaftsromans des 19. Jahrhunderts kennt. Das Spiel mit dieser Tradition wird in der Geschichte immer wieder explizit. Einmal liest Connell Jane Austens "Emma", den Urtext des Sittenromans. An der Stelle, an der es so aussieht, als würde Mr. Knightley Harriet, also die falsche, heiraten, muss Connell das Buch weglegen, "emotional seltsam aufgewühlt".
Historische Kulisse des Romans sind die Folgejahre der Bankenkrise, die Irland 2008 im europäischen Vergleich besonders schwer getroffen hat und die Connell und Marianne als resignierte Teenager zurücklässt. Korrupte Väter von Mitschülern, die in der Finanzindustrie arbeiten, die Tristesse leerstehender Wohnsiedlungen im Zentrum ihrer Kleinstadt und die Überzeugung, niemals einen lukrativen Beruf zu finden, sind die Koordinaten dieser Post-Crash-Jugend. Dann aber erhalten sie als Jahrgangsbeste eine Zulassung zum Studium am Trinity College, dessen Säulenheilige Samuel Beckett und Edmund Burke sind. Hier spielt der größte Teil des Romans. Wie zu erwarten verkehrt sich die Beliebtheitshierarchie im neuen Umfeld. Marianne beherrscht die Umgangsformen der Reichen mühelos. Connell hingegen scheint immer die falsche Kleidung zu tragen, "Versandhaus-Chic" nennt das einmal jemand hinter seinem Rücken. Seine Mitstudenten parlieren selbstsicher über die Romane des englischen Barocks, ohne sie gelesen zu haben, streiten über die ideale Form eines Champagnerglases und verbringen die Sommer in den Landhäusern ihrer Eltern.
Dabei ist der Lifestyle-Marxismus, den Marianne und Connell untereinander kultivieren, absolut humorvoll. In großen Gesten sinnieren sie über das Matriarchat, über die Vorzüge von Polyamorie und "über den präzisen historischen Moment, in dem sie gerade leben, die Schwierigkeit, einen solchen Moment zu betrachten, während er gerade abläuft". Einen eindeutigen "antikapitalistischen Impetus", so wie das linke "Jacobin"Magazin kürzlich vermutete, hat die Geschichte aber nicht. Es ist vielmehr das einer solchen Liebe zwingend inhärente Mischverhältnis aus absoluter Aufgeklärtheit und bedingungslosem Ausgeliefertsein, das plastisch beschrieben wird. Eben weil die Liebe in Rooneys Geschichten immer nur kurzzeitige Refugien dafür schafft, sich in ein gesellschaftliches Vakuum zu begeben, bevor die Transaktionskosten dafür zu hoch werden. Ein Beispiel: Jedes Jahr vergibt die Universität Vollstipendien. Connell und Marianne bewerben sich beide erfolgreich darum. Für Connell bedeutet das die Sicherung seines Lebensunterhalts. Der finanziell sorglosen Marianne ging es bei der Bewerbung darum, "ihren überlegenen Intellekt öffentlich durch die Überweisung großer Geldsummen anerkannt zu sehen". Verdient haben sie es beide. Doch vergiftet die existentielle Notwendigkeit für den einen die bloß symbolische Bedeutung für die andere.
Sally Rooneys Aufstieg war rasant. Binnen eines Jahres und während sie noch als Studentin der amerikanischen Literatur an ihrer Abschlussarbeit feilte, wurde sie nicht nur von einer Literaturagentin entdeckt, sondern unterschrieb auch einen Vertrag bei Faber & Faber, nachdem bei einer spektakulären Auktion sieben Verlagshäuser auf ihr Manuskript geboten hatten. Seitdem hat sie zwei Bestseller veröffentlicht, die mit Preisen überhäuft wurden und unter deren prominenten Fürsprechern Barack Obama und Zadie Smith waren. Rooney sagt von sich, dass sie sehr schnell schreibe. Ihren ersten Roman hat sie in drei Monaten beendet, "Normale Menschen" folgte binnen eines Jahres. Angesichts der stringenten Komposition der Geschichte, der erzählerischen Disziplin und der gnadenlosen Schärfe ihrer Sätze klingt das wie ein Wunder. Es ist mehr als nur eine Anekdote, dass Rooney unter den begabtesten Rednerinnen im Debattierclub ihrer Universität war und 2013 die europäische Meisterschaft der Meisterredner mit einer Rede über den Fortschritt gewann. Wie in diesen Wettkämpfen scheint es, als wäre ihren Geschichten eine Uhr eingebaut, die unermüdlich jeden Dialog vorantreibt. Die Gespräche zwischen Marianne und ihren Freundinnen, in denen es um Politik, Literatur und Philosophie und selten um Männer geht, sind so spritzig-nerdhaft und von beredter Schlagfertigkeit, dass man sich wünscht, mitreden zu dürfen.
In den schwachen Momenten des Romans überwiegt die zweite Verwandtschaft mit dem Debattensport. So genial die Rhetorik, so leer ist das Anliegen der politischen Einlassungen. Rooneys Protagonisten handeln nicht politisch. Streit, Dissens und Ideale sind für sie auf bloß ästhetische Weise interessant, als Style oder Thema auf der Party. Das mag man oberflächlich nennen. Auch mag es eitel wirken, wenn es heißt, Marianne komme es vor, "als gebe es keine Grenzen dessen, was ihr Gehirn leisten kann". Die weibliche Muskelschau des Intellekts, die man bei Rooneys Protagonistinnen findet, ist in der Gegenwartsliteratur jedoch eine erfrischende Ausnahme.
Keine der Figuren in "Normale Menschen" ist außerordentlich, keine besonders schön oder elegant, kein Hauch von Unendlichkeit umweht sie. Marianne gilt in der Schule als "nicht besonders attraktiv", Connell erscheint einigen gar "so groß und sanft wie ein Labrador". Es ist bedauerlich, dass die in diesem Sommer angelaufene BBC-Serienadaption von "Normale Menschen" das Ruder rumreißt und das Nerdtum der beiden Charaktere durch den radikalen visuellen Fokus auf die Jugend und Schönheit der Schauspieler verwischt und dann kurzerhand auch noch viele der interessanteren Dialoge herausgeschnitten hat. Dass der Versuch, die profane Gelassenheit mit Äußerlichem zu verbiegen, an Rooney abprallt und ihre Fans provoziert, musste kürzlich ein Schweizer Literaturkritiker erfahren. Der hatte nicht den Text, sondern das Aussehen der Autorin beschrieben, weil er fand, sie erinnere an ein "aufgeschrecktes Reh mit sinnlichen Lippen". Die mediale Resonanz war enorm, unter dem Hashtag #dichterdran drehten deutschsprachige Autorinnen im ironischen Verkehrungsmodus den Spieß um und schrieben über das Aussehen bedeutender Schriftsteller.
Eine Literaturgeschichte des beginnenden 21. Jahrhunderts wird wahrscheinlich nicht mehr darum herumkommen, dieses Internetrauschen, dieses Zitatfolgeleben und die Begleitdiskussionen in den sozialen Netzwerken zu beschreiben, die eine neue Qualität der Rezeption von Gegenwartsliteratur einläuten. Vielleicht wird es dann auch darum gehen, dass der Trend zur Serie die Literaturproduktion nachhaltig erfasst hat. Denn wie keine bisher ist Rooney eine Autorin, der es gelingt, das Prinzip Netflix - Serialität, Dialogbasiertheit, ein ironischer Aufruf von Bekanntem - literarisch zu verarbeiten. Das Tempo ist schnell, die Gespräche sind klug gearbeitet, zynisch und direkt. Die Figuren kommen hoffnungslos schematisch daher, und dennoch will man nach der Lektüre an ihnen festhalten. Das ist das scheinbare Paradox von "Normale Menschen": Die Motive sind durch und durch populär und dennoch von zeitdiagnostischer Schärfe, die Geschichte ist ein Easy-Read, bleibt aber im Gedächtnis, und der stilistischen Nähe zur Serie zum Trotz ist das Buch besser als seine eigene Verfilmung.
MIRYAM SCHELLBACH
Sally Rooney: "Normale Menschen". Roman. Aus dem Englischen von Zoë Beck, Luchterhand Verlag, 320 Seiten, 20 Euro
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»Süffig, klug und absolut klischeefrei« Ijoma Mangold / DIE ZEIT