Die Normandie: von den Wellen des Ärmelkanals bespült, von weißen Klippen gesäumt, ganz dem Meer und dem Licht hingegeben, verziert mit sattgrünen Weiden, pittoresken Fischerdörfern, bürgerstolzen Städten, kühnen Kathedralen und mondänen Seebädern, die gemacht sind für Müßiggang und Luxusleben. Über alldem die unerschöpflichen Variationen von Blau-Weiß-Grau des ständig wechselnden Himmels, der wie kein anderer Künstler anzog. Vielgesichtig wie die Küste sind auch ihre Menschen: reserviert und gesellig, konservativ und weltoffen, geerdet und wohlhabend, provinziell und kosmopolitisch, mit dankbaren Mägen und verwöhnt von ihrer Küche.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.11.2019Großes Theater am Strand
Das Meer betrachten heißt das Leben betrachten. Doch die Fotografin Nicole Strasser schaut entlang der normannischen Küste auf noch ein wenig mehr.
Von Klaus Simon
Es ist der Himmel. Als Erster hatte Eugène Boudin die Enge des Ateliers in Honfleur verlassen und damit begonnen, unter dem freien Himmel der Normandie zu malen. Austerngrau weitet sich der Himmel über einer seiner Strandgesellschaften in Dieppe, während der von See anstürmende Wind die Krinolinen aufbauscht und ein Schoßhündchen vor den schäumenden Wellen erstarren lässt. Ein anderer Strand, ein anderer Tag, eine andere Stunde, ein anderer Himmel und wieder Boudin, der "König des Himmels", zu dem Corot den Malerkollegen ausgerufen haben soll. Diesmal geht es an den Strand von Deauville, auf den ein bleiblaues Wolkengebirge vom Ärmelkanal heranwalzt.
Im Jahr 1872 dann vollendet der sechzehn Jahre jüngere Monet, dem Boudin auf den Klippen der Côte d'Albâtre den Weg in die Landschaftsmalerei gewiesen hat, eine frühmorgendliche Ansicht des Hafens von Le Havre. Das Bild macht als "Impression, soleil levant" Kunstgeschichte. Der Himmel: eine Komposition in Violett und Blau. Die Sonne: ein aufgehender orangeroter Ball, der sich, von den Wellen zerlegt, im Wasser spiegelt. Die Welt war nach der Präsentation auf dem Pariser Salon des Indépendants um eine bahnbrechende Kunstrichtung reicher - und die Normandie als Wiege des Impressionismus etabliert.
Anderthalb Jahrhunderte später ist der Himmel über der normannischen Küste noch immer so flüchtig wie von den Impressionisten festgehalten. Am Wochenende fährt noch immer, wer es sich leisten kann, von Paris aus an die Côte d'Albâtre oder die Côte Fleurie. Die Küstenabschnitte rechts und links der Seine-Mündung, dramatisch steil der eine, eine monumentale Sandwüste der andere, waren und bleiben das Freilufttheater hauptstädtischer Moden und Sitten. Bienvenue an der Plage de Paris, wie die zwei Zug- oder Autostunden von der Hauptstadt entfernten Küsten der Normandie genannt werden.
Und doch hat sich viel verändert. Die meisten Grand Hôtels des Fin de Siècle, in denen Proust das Personal für den Romanzyklus "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" gefunden hat, sind in Appartementhäuser umgewandelt. In einem davon, dem "Les Roches Noires" in Trouville, verbrachte Marguerite Duras ihre letzten Jahrzehnte, schaute aus dem Appartement auf Strand und Wasser, trank und schrieb. Einer ihrer schönsten Sätze steht auf einer Tafel am Strandaufgang zum ehemaligen Grand Hôtel: "Das Meer betrachten heißt das Leben betrachten."
Anderenorts blieb wenig vom mondänen Glanz, etwa in Dieppe, wo die Herzogin von Berry 1824 das Baden im Meer als Mode lanciert hatte. Nach Luftangriffen und Artilleriebeschuss im Zweiten Weltkrieg war vom Seebad, in dem die britische Society sich tummelte und heute die Fähre aus Newhaven anlegt, kaum noch etwas übrig.
Ein Abend in Granville. Der Himmel schimmert graurosa, es ist Christian Diors Lieblingsfarbe. In der Hafenstadt verbrachte der Erfinder des New Looks prägende Kindheitsjahre. Von der Villa der Familie in einem beau quartier auf den Klippen ließ er den Blick über die Unendlichkeit der Bucht des Mont Saint-Michel schweifen. Später sollte in fast keiner Dior-Schau ein Kleid im Graurosa des Himmels über Granville fehlen.
Es ist genau das Graurosa, auf das die Fotografin Nicole Strasser auf ihren Reisen in die Normandie oft gewartet hat. Das Ergebnis: vierundsiebzig gemäldegleiche Aufnahmen. Wieder bauschen Röcke. Diesmal sind es Hochzeitskleider am Strand von Arromanches. Rüschen und Tüll zitieren den im späten neunzehnten Jahrhundert modischen Cul de Paris. Die Ebbe hat Betonblöcke freigelegt, die vom künstlichen Hafen künden, den die Alliierten ins Meer gewuchtet hatten. Am Kai macht sich eine Villa mit Schieferhaubentürmchen wichtig.
Wie auf einer Bühne haben sich die Menschen durch ihre Bilder bewegt, schreibt Nicole Strasser. Dass die normannische Bühne ganz großes Theater ist, spricht aus Aufnahmen wie der eines jungen Paares, beide in Bordeauxrot, das vor der Kulisse himmelstürmender Klippen in der Umarmung erstarrt. Altmeisterlich komponiert ist die Aufnahme zweier junger Frauen, die in der Kirche von Yport musizieren. Es ist eine der wenigen Fotografien, die ohne den Himmel auskommen. Nicht so am Grand Bec bei Trouville. Der Blick arbeitet sich durch Farn und Gestrüpp zum Strand durch, über dem der Himmel wieder einmal zwischen Grau und Rosa schwankt.
Dem oft aufgewühlten Himmel, dem Rasen des Winds, den Amok laufenden Wellen wurden in der Normandie Burgen, Schlösser und Hotelpaläste entgegengesetzt. Auch sie hat Nicole Strasser fotografiert. Über gerafften Stores und gestreiften Fauteuils im Restaurantsaal des "Côté Royal" in Deauville schwebt schwer ein Kristalllüster. Ein Kellner im tadellos sitzenden Anzug und mit perfekt gestriegeltem Seitenscheitel plaziert Gläser auf dem Tisch. Mehr Fin de Siècle ist nirgends mehr. Und ebenfalls in Deauville schreitet eine Amazone mit sehr viel Bein über die Planches, die mit Holzplanken ausgelegte Strandpromenade längs der Art-Déco-Umkleidekabinen. Jede Kabine ist nach dem Filmstar benannt, der sich beim alljährlichen Festival darin für den Strand umgezogen hat. Die Dame hat soeben Sean Connerys Kabine erreicht. Nochmals die Planches. Ein Vater im Cremeweiß der Sommerfrische um 1900 folgt den stürmischen Schritten des Töchterchens. Bunt gepunktet ist ihr Kapuzenmantel. Blau, Grün, Gelb, Rot und Orange leuchten die am Strand zusammengeklappten Schirme in der Abendsonne.
Gischt schäumt um die Porte d'Aval. Maupassant sah im monumentalen Felsbogen, der bei Étretat ins Meer stakst, einen Elefanten, dessen Rüssel im Wasser steckt. Bei Nicole Strasser macht ein letzter Sonnenstrahl aus den Wasserspritzern am Fuß des Felsbogens eine funkelnde Wunderkerze. Götterdämmerung dann bei Sotteville-sur-Mer. Ein Gehöft duckt sich unter dem austerngrauen Himmel weg. Durch die Lücken im tiefhängenden Wolkenteppich glimmt es rötlichgelb. Kühe grasen am Klippenrand. Das ist nicht ungefährlich. Immer wieder brechen Brocken aus dem Kreidefels. Erst im Sommer 2016 donnerte ein hundert Meter breiter Abschnitt in die Tiefe. Zu Schaden kam niemand. Nur der Himmel war Zeuge.
"Normandie" von Nicole Strasser und Karl Spurzem (Text). Mare Verlag, Hamburg 2019. 132 Seiten, 74 Fotos. Gebunden, 58 Euro. Bis 22. November zeigen Persiehl & Heine in Hamburg einige der Bilder.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Meer betrachten heißt das Leben betrachten. Doch die Fotografin Nicole Strasser schaut entlang der normannischen Küste auf noch ein wenig mehr.
Von Klaus Simon
Es ist der Himmel. Als Erster hatte Eugène Boudin die Enge des Ateliers in Honfleur verlassen und damit begonnen, unter dem freien Himmel der Normandie zu malen. Austerngrau weitet sich der Himmel über einer seiner Strandgesellschaften in Dieppe, während der von See anstürmende Wind die Krinolinen aufbauscht und ein Schoßhündchen vor den schäumenden Wellen erstarren lässt. Ein anderer Strand, ein anderer Tag, eine andere Stunde, ein anderer Himmel und wieder Boudin, der "König des Himmels", zu dem Corot den Malerkollegen ausgerufen haben soll. Diesmal geht es an den Strand von Deauville, auf den ein bleiblaues Wolkengebirge vom Ärmelkanal heranwalzt.
Im Jahr 1872 dann vollendet der sechzehn Jahre jüngere Monet, dem Boudin auf den Klippen der Côte d'Albâtre den Weg in die Landschaftsmalerei gewiesen hat, eine frühmorgendliche Ansicht des Hafens von Le Havre. Das Bild macht als "Impression, soleil levant" Kunstgeschichte. Der Himmel: eine Komposition in Violett und Blau. Die Sonne: ein aufgehender orangeroter Ball, der sich, von den Wellen zerlegt, im Wasser spiegelt. Die Welt war nach der Präsentation auf dem Pariser Salon des Indépendants um eine bahnbrechende Kunstrichtung reicher - und die Normandie als Wiege des Impressionismus etabliert.
Anderthalb Jahrhunderte später ist der Himmel über der normannischen Küste noch immer so flüchtig wie von den Impressionisten festgehalten. Am Wochenende fährt noch immer, wer es sich leisten kann, von Paris aus an die Côte d'Albâtre oder die Côte Fleurie. Die Küstenabschnitte rechts und links der Seine-Mündung, dramatisch steil der eine, eine monumentale Sandwüste der andere, waren und bleiben das Freilufttheater hauptstädtischer Moden und Sitten. Bienvenue an der Plage de Paris, wie die zwei Zug- oder Autostunden von der Hauptstadt entfernten Küsten der Normandie genannt werden.
Und doch hat sich viel verändert. Die meisten Grand Hôtels des Fin de Siècle, in denen Proust das Personal für den Romanzyklus "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" gefunden hat, sind in Appartementhäuser umgewandelt. In einem davon, dem "Les Roches Noires" in Trouville, verbrachte Marguerite Duras ihre letzten Jahrzehnte, schaute aus dem Appartement auf Strand und Wasser, trank und schrieb. Einer ihrer schönsten Sätze steht auf einer Tafel am Strandaufgang zum ehemaligen Grand Hôtel: "Das Meer betrachten heißt das Leben betrachten."
Anderenorts blieb wenig vom mondänen Glanz, etwa in Dieppe, wo die Herzogin von Berry 1824 das Baden im Meer als Mode lanciert hatte. Nach Luftangriffen und Artilleriebeschuss im Zweiten Weltkrieg war vom Seebad, in dem die britische Society sich tummelte und heute die Fähre aus Newhaven anlegt, kaum noch etwas übrig.
Ein Abend in Granville. Der Himmel schimmert graurosa, es ist Christian Diors Lieblingsfarbe. In der Hafenstadt verbrachte der Erfinder des New Looks prägende Kindheitsjahre. Von der Villa der Familie in einem beau quartier auf den Klippen ließ er den Blick über die Unendlichkeit der Bucht des Mont Saint-Michel schweifen. Später sollte in fast keiner Dior-Schau ein Kleid im Graurosa des Himmels über Granville fehlen.
Es ist genau das Graurosa, auf das die Fotografin Nicole Strasser auf ihren Reisen in die Normandie oft gewartet hat. Das Ergebnis: vierundsiebzig gemäldegleiche Aufnahmen. Wieder bauschen Röcke. Diesmal sind es Hochzeitskleider am Strand von Arromanches. Rüschen und Tüll zitieren den im späten neunzehnten Jahrhundert modischen Cul de Paris. Die Ebbe hat Betonblöcke freigelegt, die vom künstlichen Hafen künden, den die Alliierten ins Meer gewuchtet hatten. Am Kai macht sich eine Villa mit Schieferhaubentürmchen wichtig.
Wie auf einer Bühne haben sich die Menschen durch ihre Bilder bewegt, schreibt Nicole Strasser. Dass die normannische Bühne ganz großes Theater ist, spricht aus Aufnahmen wie der eines jungen Paares, beide in Bordeauxrot, das vor der Kulisse himmelstürmender Klippen in der Umarmung erstarrt. Altmeisterlich komponiert ist die Aufnahme zweier junger Frauen, die in der Kirche von Yport musizieren. Es ist eine der wenigen Fotografien, die ohne den Himmel auskommen. Nicht so am Grand Bec bei Trouville. Der Blick arbeitet sich durch Farn und Gestrüpp zum Strand durch, über dem der Himmel wieder einmal zwischen Grau und Rosa schwankt.
Dem oft aufgewühlten Himmel, dem Rasen des Winds, den Amok laufenden Wellen wurden in der Normandie Burgen, Schlösser und Hotelpaläste entgegengesetzt. Auch sie hat Nicole Strasser fotografiert. Über gerafften Stores und gestreiften Fauteuils im Restaurantsaal des "Côté Royal" in Deauville schwebt schwer ein Kristalllüster. Ein Kellner im tadellos sitzenden Anzug und mit perfekt gestriegeltem Seitenscheitel plaziert Gläser auf dem Tisch. Mehr Fin de Siècle ist nirgends mehr. Und ebenfalls in Deauville schreitet eine Amazone mit sehr viel Bein über die Planches, die mit Holzplanken ausgelegte Strandpromenade längs der Art-Déco-Umkleidekabinen. Jede Kabine ist nach dem Filmstar benannt, der sich beim alljährlichen Festival darin für den Strand umgezogen hat. Die Dame hat soeben Sean Connerys Kabine erreicht. Nochmals die Planches. Ein Vater im Cremeweiß der Sommerfrische um 1900 folgt den stürmischen Schritten des Töchterchens. Bunt gepunktet ist ihr Kapuzenmantel. Blau, Grün, Gelb, Rot und Orange leuchten die am Strand zusammengeklappten Schirme in der Abendsonne.
Gischt schäumt um die Porte d'Aval. Maupassant sah im monumentalen Felsbogen, der bei Étretat ins Meer stakst, einen Elefanten, dessen Rüssel im Wasser steckt. Bei Nicole Strasser macht ein letzter Sonnenstrahl aus den Wasserspritzern am Fuß des Felsbogens eine funkelnde Wunderkerze. Götterdämmerung dann bei Sotteville-sur-Mer. Ein Gehöft duckt sich unter dem austerngrauen Himmel weg. Durch die Lücken im tiefhängenden Wolkenteppich glimmt es rötlichgelb. Kühe grasen am Klippenrand. Das ist nicht ungefährlich. Immer wieder brechen Brocken aus dem Kreidefels. Erst im Sommer 2016 donnerte ein hundert Meter breiter Abschnitt in die Tiefe. Zu Schaden kam niemand. Nur der Himmel war Zeuge.
"Normandie" von Nicole Strasser und Karl Spurzem (Text). Mare Verlag, Hamburg 2019. 132 Seiten, 74 Fotos. Gebunden, 58 Euro. Bis 22. November zeigen Persiehl & Heine in Hamburg einige der Bilder.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main