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Gegenstand der Arbeit ist die Übersetzung und Re-Interpretation des europäischen Völkerrechts in China im 19. und 20. Jahrhundert. Von 1839, dem Ausbruch des ersten Opiumkrieges, bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, dem Ende des Regimes ungleicher Verträge, untersucht der Autor die Auseinandersetzung mit der in Europa wurzelnden normativen Ordnung des modernen Völkerrechts in China. Eingebettet in den theoretischen Rahmen soziologischer Annahmen zu Weltgesellschaft und Weltkultur leistet das Werk einen Beitrag zum Verständnis global-lokaler Wirkungszusammenhänge in langfristiger historischer…mehr

Produktbeschreibung
Gegenstand der Arbeit ist die Übersetzung und Re-Interpretation des europäischen Völkerrechts in China im 19. und 20. Jahrhundert. Von 1839, dem Ausbruch des ersten Opiumkrieges, bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, dem Ende des Regimes ungleicher Verträge, untersucht der Autor die Auseinandersetzung mit der in Europa wurzelnden normativen Ordnung des modernen Völkerrechts in China. Eingebettet in den theoretischen Rahmen soziologischer Annahmen zu Weltgesellschaft und Weltkultur leistet das Werk einen Beitrag zum Verständnis global-lokaler Wirkungszusammenhänge in langfristiger historischer Perspektive. Empirisch diskutiert der Autor qualitativ die Ausbreitung und Re-Interpretation des Völkerrechts in China und entwickelt so eine Perspektive auf die außer-europäische Geschichte des Völkerrechts und seiner Wissenschaft.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.09.2012

Von der Überlegenheit der Ausländer lernen
Aber bloß keine Kopien: Stefan Kroll zeigt, wie China zu eigenen Interpretationen des Völkerrechts gelangte

Die letzten Einträge im Tagebuch des Staats- und Völkerrechtlers Johann Caspar Bluntschli galten der Rezeption seines Werkes in fernen Weltregionen. Erfreut berichtet er am 24. Juni 1881, wenige Monate vor seinem Tod, von einer Büchersendung aus Japan: Ein ehemaliger Student, "der Japanese Hirata", hatte den ersten Teil seines Staatsrechts "mit großem Fleiss in's Japanische übersetzt". Drei Tage zuvor hatte der in der Schweiz geborene Heidelberger Gelehrte Besuch von einem amerikanischen Missionar bekommen, der ihm persönlich sein "Modernes Völkerrecht der Civilisirten Staten" überreichte, "in chinesischer Sprache und Schrift gut gedruckt".

Der Amerikaner W. A. P. Martin, 1827 geboren, war seit 1850 als Missionar in China tätig und hatte nebenbei als Dolmetscher im Dienste amerikanischer Regierungsdelegationen Erfahrungen mit völkerrechtlichen Texten gesammelt. 1869 wurde er Leiter der Sprach- und Übersetzungsschule Tongwenguan in Beijing, die 1861 im Zuge der chinesischen "Reform- und Selbststärkungsbewegung" gegründet" worden war - einer Restaurationsbewegung, die die chinesische Entwicklung in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts prägte. Um sich gegen den Einfluss des Westens behaupten zu können, sollten die Chinesen durch die Orientierung an international gültigen Wissensstandards die eigene Entwicklung vorantreiben, ohne sich dabei jedoch den Ausländern dauerhaft anzugleichen.

China erlebte das neunzehnte Jahrhundert als Krise. Unruhen im Innern und fünf verlorene Kriege gegen westliche Mächte und Japan brachten das Imperium in eine Bedrängnis, die mit tradierter chinesischer Staatskunst nicht zu bewältigen war. Ein System ungleicher Verträge, das die ausländischen Vertragspartner Chinas durch Meistbegünstigungsklauseln privilegierte, verfestigte die asymmetrischen Machtverhältnisse in den Beziehungen des Kaiserreichs zum Rest der Welt. Um chinesische Interessen dem Westen gegenüber durchsetzen zu können, studierten die kaiserlichen Beamten zunächst genau das Verhalten ihrer westlichen Handelspartner - und deren Wissenschaften, in denen man den Grund für die Überlegenheit der Ausländer vermutete. Als Büro zur Wahrnehmung außenpolitischer Aufgaben wurde das Außenamt Zongli Yamen gegründet, in der Sprach- und Übersetzungsschule Tongwenguan wurde eine Fremdsprachenelite ausgebildet. Im Zuge der Übersetzung strategisch relevanter fremdsprachiger Texte wurden hier auch völkerrechtliche Texte übersetzt. Es begann ein Völkerrechtstransfer, der die Einbindung Chinas in das europäische Völkerrecht nach sich zog - und zugleich die Universalisierung des Völkerrechts, die "Enteuropäisierung" der Völkerrechtswissenschaft.

Der Soziologe Stefan Kroll hat diese Eingliederung Chinas in das europäische Völkerrecht als Teil globaler Prozesse des Ideentransfers untersucht. Auf der Grundlage rechtshistorischer Quellen beschreibt und analysiert er die Übersetzung und Re-Interpretation des europäischen Völkerrechts in China zwischen 1839 und 1945. Dabei zeigt sich, "dass für die Genese weltgesellschaftlicher Strukturen im neunzehnten Jahrhundert eine Dynamik der Gleichzeitigkeit von globaler Institutionalisierung und lokaler Re-Interpretation kennzeichnend ist".

Krolls Studie ist ein Musterbeispiel disziplinenverbindender Rechtsforschung, ohne dabei zu verleugnen, dass sein zentrales Erkenntnisinteresse ein soziologisches ist. Wie wird aus einer zunächst regionalen normativen Ordnung ein globales Modell? Wie verhalten sich globale und lokale Wirkungszusammenhänge? Bei seiner Arbeit mit chinesischen Originalquellen knüpft Kroll an die philologischen Studien des norwegischen Sinologen Rune Svarverud an, der sich mit der Geschichte der Völkerrechtsübersetzungen bis 1911 beschäftigt hat - einer "Erstaneignungsphase", die Kroll als Teil eines komplexeren Ideentransfers vorstellt.

Das Völkerrecht wurde in dieser Phase strategisch verwendet, zur Abwehr externer Einflüsse. Ausländische Experten prägten den Rezeptionsprozess: Martin übersetzte neben Bluntschlis "Völkerrecht der Civilisirten Staten" auch Henry Wheatons "Elements of International Law" und eine Reihe weiterer zeitgenössischer Standardwerke, die so den chinesischen Beamten zugänglich gemacht wurden. Eine profunde Norminternalisierung sei damit indes nicht einhergegangen, so Kroll. "Ohne das Völkerrecht als normative Ordnung internationaler Beziehungen anzuerkennen, wurde es in den internationalen Beziehungen angewendet." Zugleich wurde das Völkerrecht Teil des chinesischen Elitendiskurses.

Den entscheidenden Schub erhielt die chinesische Völkerrechtswissenschaft aber durch die Studenten, die von 1896 an zu Zehntausenden ins Ausland entsandt wurden. Chinas Völkerrechtler nahmen insbesondere Impulse aus Japan auf, ohne indes dessen Expansionsbestrebungen zu kopieren. Im Gegenteil: Hauptgegenstand der chinesischen Völkerrechtswissenschaft wurde die kritische Auseinandersetzung mit dem europäisch-amerikanisch-japanischen Expansionismus, der in einer Vielzahl ungleicher Verträge seinen Ausdruck gefunden hatte - und sich nun an lokal ausformulierten globalen Legitimitätsstandards messen lassen musste. "Die chinesischen Völkerrechtler konzipierten kein Gegenvölkerrecht, sondern argumentierten innerhalb des normativen Rahmens, den das Völkerrecht bot, und strebten nach eigenen Interpretationen innerhalb dieses Rahmens."

ALEXANDRA KEMMERER

Stefan Kroll: "Normgenese durch Re-Interpretation". China und das europäische Völkerrecht im 19. und 20. Jahrhundert.

Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2012. 230 S., br., 59.- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Der Soziologe Stefan Kroll untersucht in seinem Buch "Normgenese durch Re-Interpretation", wie das europäische Völkerrecht im 19. Jahrhundert seinen Weg nach China fand und wie es dort aufgenommen und angepasst wurde, berichtet die Rezensentin Alexandra Kemmerer. Nach fünf verlorenen Kriegen habe China begonnen, sich für die westlichen Wissenschaften und Wissensstandards zu interessieren. Durch Übersetzungen wichtiger Werke sollte die eigene Entwicklung gestärkt werden, "ohne sich dabei jedoch den Ausländern dauerhaft anzugleichen", erklärt Kemmerer. Eines dieser Werke war auch Johann Caspar Bluntschlis "Modernes Völkerrecht der Civilisirten Staten". Durch diese Aneignung habe China sich zwar auf Argumentationen innerhalb des "normativen Rahmens" des Völkerrechtes eingelassen, dessen Inhalte allerdings anders ausgelegt. Besondere Aufmerksamkeit bekam im chinesischen Diskurs beispielsweise die kritische Betrachtung des "europäisch-amerikanisch-japanischen Expansionismus". Die Rezensentin lobt Krolls Buch als Musterbeispiel interdisziplinärer Rechtsforschung: auch wenn das zentrale Interesse soziologisch sei, beziehe es Erkenntnisse aus Philologie, Geschichts- und Rechtswissenschaften ein.

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