Frankfurter Allgemeine ZeitungHelden mieten keine Kutschen
Jane Austens "Northanger Abbey" in neuer Übersetzung / Von Jürgen Kaube
Romane brauchen Helden. Der Verzicht darauf hat sich nicht bewährt. Romane brauchen aber auch Leser. Doch Leser sind zumeist keine Helden. Das schränkt ihre Möglichkeiten ein, sich mit den Helden zu identifizieren. So kam das Epos aus der Mode. Denn wie weit kann man mitfiebern beim Schicksal katholischer Pferdebesitzer mit Schwertern, wenn man selbst kaum evangelisch ist und nicht reiten kann? Folgerichtig begann der Roman vor mehr als zweihundert Jahren in England, die Brücke von der anderen Seite aus zu schlagen. Wenn Leser schon keine Helden sind, so konnten doch die Helden Leser werden. Das hätte bei Achill nicht überzeugt und war noch bei Don Quijote nur ein Zeichen heroischer Verrücktheit. Danach aber wurde der lesende Held zu einem Erfolgsmodell der europäischen Literatur. Nicht mit Waffen und Pferden, sondern mit Bildung, Innenleben und Liebeskummer, also Lesefrüchten machte er Eindruck.
Er? Sie! Der erste echte, weil unheroische Leser unter den europäischen Romanhelden ist nämlich eine siebzehnjährige junge Dame. Von ihrer Autorin wird sie so eingeführt: "Niemand, der Catherine Morland als Kind gekannt hätte, wäre auf den Gedanken gekommen, dass sie zur Romanheldin bestimmt sei." Aber eben nur darum nicht, so Jane Austen, weil die Leser, wie Catherine Morland selbst, sich unter einem Roman und einer Heldin etwas Falsches vorstellen. Sie liest gerade "Die Geheimnisse von Udolpho", den damals, um 1800, ungeheuer beliebten - und tatsächlich ziemlich fetzig konstruierten - Renaissanceroman der Ann Radcliffe, dem Fräulein Morland ihre Vorstellung von Abenteuer und Romantik entnimmt: schlimme Schicksale in schaurigen südlichen Schlössern, üble Machenschaften herzloser Tyrannen, geopferte Unschuld, verborgene Papiere in alten Truhen.
Heute würde man sagen: Sie geht in die falschen Filme. Weshalb sie lange nicht merkt, dass das eigentliche Abenteuer dasjenige ist, in dem sie selbst sich befindet, während sie im Badeort Bath die ersten Schritte aus der Familie heraus in die gute Gesellschaft macht. Sie lernt einen jungen Landgeistlichen kennen, verliebt sich, wie der Leser findet, zu Recht, der Einfluss unguter Freunde schadet aber dem Fortgang, der Vater des jungen Mannes schadet ihm auch, und das Mädchen selbst braucht noch Zeit, um sich bei sich selbst, in ihren Bekanntschaften und in der Konversation zurechtzufinden. Man muss das hier kurz referieren, weil sich die deutsche Romantradition mehr auf Studentenprobleme kapriziert hat, weshalb Jane Austen hierzulande nie als das gelesen wurde, was sie ist: ein Wunder an klarem Blick auf die Umstände des Strebens nach Glück.
Girl meets boy, viel mehr passiert hier also unter den Kleinadligen und Rentiers des englischen Südens nicht, aber man legt das Buch nicht so schnell aus der Hand, weil man erfahren möchte, ob die Einbildungskraft, die zu solchen Treffen gehört, sich selbst im Weg steht oder sich in Sinn für Wirklichkeit verwandelt. Die Kräfte, von denen das Liebesglück abhängt, sind nämlich weder die des Tugendgefährdungsromans noch finstere Verschwörungen in gotischen Winkeln, sondern einerseits der Klatsch und die Dummheit, die Eitelkeit sowie der Heiratsmarkt. Und andererseits jene Art von Verstand, die ein Herz voraussetzt. Darin und in der Frage, wer mit wem tanzt, steckt mehr Romantik als in perversen Mönchen.
Jane Austen ist demnach in ihrem ersten Roman, der allerdings erst 1818, ein Jahr nach ihrem Tod veröffentlicht wurde, schon ganz im Besitz ihrer Motive. Sie kämpft darum, der Klugheit einen Platz in der Gefühlswelt zu verschaffen. Durch nichts können sich ihre Figuren deshalb mehr auszeichnen als durch die Fähigkeit, zu reden ohne zu plappern. Austens Witz erprobt sich vorzugsweise am Geschwätz, was sie beispielsweise so macht: "wenn es stimmt, was ein berühmter Schriftsteller", es war Samuel Richardson, "behauptet hat, dass nämlich eine junge Dame kein Recht hat, sich zu verlieben, bevor ihr der Herr seine Liebe erklärt hat, muß es sehr ungehörig sein, wenn eine junge Dame von einem Herrn träumt, bevor dieser nachweislich von ihr geträumt hat". Phrasenzerlegen war ihr Vergnügen. "Wenn es nur schon Mittwoch wäre! - Es wurde Mittwoch, und zwar genau zu dem Zeitpunkt, da man billigerweise damit rechnen durfte." Oder: "Zwar empfindet die oberflächlichere Mehrheit der Männer Schwachsinn bei weiblichen Wesen als eminente Steigerung ihrer körperlichen Reize, doch ein Teil von ihnen bevorzugt gerade aus Gründen der Vernunft und tieferen Einsicht ahnungslose Frauen."
Die in all dem liegende Kritik ausgestellter Tugend wie erhitzter Phantasie und von allerlei Erzählklischees führt Austen jedoch nicht dazu, das Romanelesen selbst zu attackieren. Warum auch? Als wäre in der intellektuellen Welt jenseits der Romane weniger Großspurigkeit! Völlig unbarmherzig springt Austen mit dem um, was für sie der Quell aller Selbstverdummung ist. In ihre Schilderung des aufgeblasenen John Thorpe, dessen Irrtum, sich in die Heldin und - was für ihn dasselbe ist - diese in John Thorpe verliebt zu glauben, dreihundert Seiten lang unselige Folgen hat, ist ihr ganzer Grimm gegen die Rücksichtslosigkeit gefahren. Eine Passage über Ähnlichkeiten zwischen Ehe und Tanz variiert dieses Motiv der Tugenden Rücksicht und Entgegenkommen. Und die Lektion, die sie für ihre Heldin vorgesehen hat, besteht eben darin, vorschnelle Schlüsse aufgrund angelesener Meinungen zu vermeiden. Als sie zu guter Letzt vor allem aus Dank dafür geheiratet wird, dass sie liebt, notiert die Erzählerin: "Ich gebe zu, das ist etwas Neues in einem Roman und der Würde einer Heldin furchtbar abträglich. Sollte es aber auch im wirklichen Leben etwas Neues sein, so gebührt mir zumindest Lob für meine grenzenlose Phantasie."
Romane brauchen aber nicht nur Helden und Leser und eine Autorin wie diese, die im Roman über den Roman nicht den Sinn für alles Nichtromantische verliert. Manche Romane brauchen auch Übersetzer. Von "Kloster Northanger" sind hierzulande mehrere Versionen im Handel. Zur vorliegenden kann der Leser getrost greifen. Sie ist ein wenig steifer und mehr zu Substantiven geneigt als die von Ursula und Christian Grawe bei Reclam. Aus "oh, curse it!" wird hier statt "ach, verflucht" ein "Teufel auch", und wenn es von Catherine heißt, ihr "understanding began to awake" wird daraus nicht "in ihr begann es langsam zu dämmern", sondern "ihr Verstand kam in Bewegung". Aber dieser etwas kategorische Ton passt mitunter gar nicht schlecht zu Austens Welt.
Jane Austen: "Northanger Abbey". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Andrea Ott. Mit einem Nachwort von Hans Pleschinski. Manesse Verlag, München 2008. 448 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jane Austens "Northanger Abbey" in neuer Übersetzung / Von Jürgen Kaube
Romane brauchen Helden. Der Verzicht darauf hat sich nicht bewährt. Romane brauchen aber auch Leser. Doch Leser sind zumeist keine Helden. Das schränkt ihre Möglichkeiten ein, sich mit den Helden zu identifizieren. So kam das Epos aus der Mode. Denn wie weit kann man mitfiebern beim Schicksal katholischer Pferdebesitzer mit Schwertern, wenn man selbst kaum evangelisch ist und nicht reiten kann? Folgerichtig begann der Roman vor mehr als zweihundert Jahren in England, die Brücke von der anderen Seite aus zu schlagen. Wenn Leser schon keine Helden sind, so konnten doch die Helden Leser werden. Das hätte bei Achill nicht überzeugt und war noch bei Don Quijote nur ein Zeichen heroischer Verrücktheit. Danach aber wurde der lesende Held zu einem Erfolgsmodell der europäischen Literatur. Nicht mit Waffen und Pferden, sondern mit Bildung, Innenleben und Liebeskummer, also Lesefrüchten machte er Eindruck.
Er? Sie! Der erste echte, weil unheroische Leser unter den europäischen Romanhelden ist nämlich eine siebzehnjährige junge Dame. Von ihrer Autorin wird sie so eingeführt: "Niemand, der Catherine Morland als Kind gekannt hätte, wäre auf den Gedanken gekommen, dass sie zur Romanheldin bestimmt sei." Aber eben nur darum nicht, so Jane Austen, weil die Leser, wie Catherine Morland selbst, sich unter einem Roman und einer Heldin etwas Falsches vorstellen. Sie liest gerade "Die Geheimnisse von Udolpho", den damals, um 1800, ungeheuer beliebten - und tatsächlich ziemlich fetzig konstruierten - Renaissanceroman der Ann Radcliffe, dem Fräulein Morland ihre Vorstellung von Abenteuer und Romantik entnimmt: schlimme Schicksale in schaurigen südlichen Schlössern, üble Machenschaften herzloser Tyrannen, geopferte Unschuld, verborgene Papiere in alten Truhen.
Heute würde man sagen: Sie geht in die falschen Filme. Weshalb sie lange nicht merkt, dass das eigentliche Abenteuer dasjenige ist, in dem sie selbst sich befindet, während sie im Badeort Bath die ersten Schritte aus der Familie heraus in die gute Gesellschaft macht. Sie lernt einen jungen Landgeistlichen kennen, verliebt sich, wie der Leser findet, zu Recht, der Einfluss unguter Freunde schadet aber dem Fortgang, der Vater des jungen Mannes schadet ihm auch, und das Mädchen selbst braucht noch Zeit, um sich bei sich selbst, in ihren Bekanntschaften und in der Konversation zurechtzufinden. Man muss das hier kurz referieren, weil sich die deutsche Romantradition mehr auf Studentenprobleme kapriziert hat, weshalb Jane Austen hierzulande nie als das gelesen wurde, was sie ist: ein Wunder an klarem Blick auf die Umstände des Strebens nach Glück.
Girl meets boy, viel mehr passiert hier also unter den Kleinadligen und Rentiers des englischen Südens nicht, aber man legt das Buch nicht so schnell aus der Hand, weil man erfahren möchte, ob die Einbildungskraft, die zu solchen Treffen gehört, sich selbst im Weg steht oder sich in Sinn für Wirklichkeit verwandelt. Die Kräfte, von denen das Liebesglück abhängt, sind nämlich weder die des Tugendgefährdungsromans noch finstere Verschwörungen in gotischen Winkeln, sondern einerseits der Klatsch und die Dummheit, die Eitelkeit sowie der Heiratsmarkt. Und andererseits jene Art von Verstand, die ein Herz voraussetzt. Darin und in der Frage, wer mit wem tanzt, steckt mehr Romantik als in perversen Mönchen.
Jane Austen ist demnach in ihrem ersten Roman, der allerdings erst 1818, ein Jahr nach ihrem Tod veröffentlicht wurde, schon ganz im Besitz ihrer Motive. Sie kämpft darum, der Klugheit einen Platz in der Gefühlswelt zu verschaffen. Durch nichts können sich ihre Figuren deshalb mehr auszeichnen als durch die Fähigkeit, zu reden ohne zu plappern. Austens Witz erprobt sich vorzugsweise am Geschwätz, was sie beispielsweise so macht: "wenn es stimmt, was ein berühmter Schriftsteller", es war Samuel Richardson, "behauptet hat, dass nämlich eine junge Dame kein Recht hat, sich zu verlieben, bevor ihr der Herr seine Liebe erklärt hat, muß es sehr ungehörig sein, wenn eine junge Dame von einem Herrn träumt, bevor dieser nachweislich von ihr geträumt hat". Phrasenzerlegen war ihr Vergnügen. "Wenn es nur schon Mittwoch wäre! - Es wurde Mittwoch, und zwar genau zu dem Zeitpunkt, da man billigerweise damit rechnen durfte." Oder: "Zwar empfindet die oberflächlichere Mehrheit der Männer Schwachsinn bei weiblichen Wesen als eminente Steigerung ihrer körperlichen Reize, doch ein Teil von ihnen bevorzugt gerade aus Gründen der Vernunft und tieferen Einsicht ahnungslose Frauen."
Die in all dem liegende Kritik ausgestellter Tugend wie erhitzter Phantasie und von allerlei Erzählklischees führt Austen jedoch nicht dazu, das Romanelesen selbst zu attackieren. Warum auch? Als wäre in der intellektuellen Welt jenseits der Romane weniger Großspurigkeit! Völlig unbarmherzig springt Austen mit dem um, was für sie der Quell aller Selbstverdummung ist. In ihre Schilderung des aufgeblasenen John Thorpe, dessen Irrtum, sich in die Heldin und - was für ihn dasselbe ist - diese in John Thorpe verliebt zu glauben, dreihundert Seiten lang unselige Folgen hat, ist ihr ganzer Grimm gegen die Rücksichtslosigkeit gefahren. Eine Passage über Ähnlichkeiten zwischen Ehe und Tanz variiert dieses Motiv der Tugenden Rücksicht und Entgegenkommen. Und die Lektion, die sie für ihre Heldin vorgesehen hat, besteht eben darin, vorschnelle Schlüsse aufgrund angelesener Meinungen zu vermeiden. Als sie zu guter Letzt vor allem aus Dank dafür geheiratet wird, dass sie liebt, notiert die Erzählerin: "Ich gebe zu, das ist etwas Neues in einem Roman und der Würde einer Heldin furchtbar abträglich. Sollte es aber auch im wirklichen Leben etwas Neues sein, so gebührt mir zumindest Lob für meine grenzenlose Phantasie."
Romane brauchen aber nicht nur Helden und Leser und eine Autorin wie diese, die im Roman über den Roman nicht den Sinn für alles Nichtromantische verliert. Manche Romane brauchen auch Übersetzer. Von "Kloster Northanger" sind hierzulande mehrere Versionen im Handel. Zur vorliegenden kann der Leser getrost greifen. Sie ist ein wenig steifer und mehr zu Substantiven geneigt als die von Ursula und Christian Grawe bei Reclam. Aus "oh, curse it!" wird hier statt "ach, verflucht" ein "Teufel auch", und wenn es von Catherine heißt, ihr "understanding began to awake" wird daraus nicht "in ihr begann es langsam zu dämmern", sondern "ihr Verstand kam in Bewegung". Aber dieser etwas kategorische Ton passt mitunter gar nicht schlecht zu Austens Welt.
Jane Austen: "Northanger Abbey". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Andrea Ott. Mit einem Nachwort von Hans Pleschinski. Manesse Verlag, München 2008. 448 S., geb., 22,90 [Euro].
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