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-Nostalgia- ist ein phantastisches, köstlich heiteres, melancholisches, gruseliges und überborderndes Buch, in dem Reales zum Trauma wird und die Träume sich in pure Wirklichkeit verkehren.

Produktbeschreibung
-Nostalgia- ist ein phantastisches, köstlich heiteres, melancholisches, gruseliges und überborderndes Buch, in dem Reales zum Trauma wird und die Träume sich in pure Wirklichkeit verkehren.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.03.1998

Die Schaben der Aktionäre
Meisterwerk der Phantastik: Mircea Cartarescus "Nostalgia"

Ein alter Schriftsteller beklagt sein verschriebenes Leben. Seine Werke seien nichts als "schäbigste Roßtäuscherei", seine Prosa sei ungeeignet, "etwas auch nur halbwegs Wirkliches mitzuteilen", im Spiegel der Seiten verzerre sich das Bild bis zur Unkenntlichkeit: "Literatur und die Lehre von den Mißbildungen der Lebewesen sind ein und dasselbe." Die größte Enttäuschung aber ist der Leser. "Um drei ist er mit deinem Buch fertig, um vier nimmt er sich das nächste vor . . ." Mit dieser Altherrentirade beginnt das erste Stück des Bandes "Nostalgia", des Erzähldebüts des 1956 geborenen Rumänen Mircea Cartarescu. Die Befürchtung, nun werde möglicherweise über Hunderte von Seiten vom Erzählen erzählt, weicht dem Staunen, wenn der fiktive alte Mann die Bedenken fahren läßt und dann doch eine herzumdrehende Prosa hinlegt, bei der nie ganz klar ist, wo die präzise Wirklichkeitsmitteilung aufhört und die virtuose Roßtäuscherei beginnt.

In der Katakomben-Unterwelt Bukarests wird einer makabren Spielleidenschaft gefrönt: dem russischen Roulett. Riesige Schaben wimmeln über den feuchten Boden, von oben dröhnt die Straßenbahn, die "Aktionäre", ein Dutzend gutgekleideter Herren, bestimmen die Einsätze, prüfen den mit nur einer Kugel geladenen Revolver, bevor ihn ein zu diesem Zweck billig geworbener Bettler an die Schläfe führt. "Der Roulettspieler" heißt diese Geschichte, und sie berichtet von einem ewigen Verlierer, den plötzlich das Glück nicht mehr verlassen will. Schließlich erhöht er Kugel um Kugel das Risiko, bis er auch den sensationellen Schuß mit der vollbestückten Trommel übersteht - um freilich bald darauf einen außerordentlich läppischen Tod zu sterben.

Cartarescu versteht sich darauf, die realistische Beschreibung ins Irreale umkippen zu lassen, dem Irrealen aber durch Detailschärfe den Anschein des Realen zu geben; Kafka und Poe gehören zu seinenVorbildern. Nach dem furiosen Einstieg öffnet sich das Buch zum Breitwand-Erinnerungskino der "Nostalgia". Drei umfangreiche Erzählungen widmen sich, ehrgeizig mit Proust, Nabokov und Capote wetteifernd, dem Zauber und den Schrecken von Kindheits- und Jugenderlebnissen. "Mendebilus" erzählt von einer Gruppe Fünf- bis Zwölfjähriger und ihren Spielen zwischen unwirtlichen, noch halb in rostzerfressenen Baugerüsten steckenden Wohnblöcken, im Morast von Kanalisationsgräben. Mit ihren Gemeinheiten ist es erst einmal vorbei, als der Wunderknabe Mendebilus auftaucht, ein ätherisches Bürschchen, das versponnene Theorien über die Entstehung der Welt und der Menschen vorträgt. Die Kinder sitzen tagelang gebannt um ihn geschart, und die Eltern wundern sich, "wie sauber unsere baumwollenen Unterhemden neuerdings waren".

Diese Zeit einer verwunschenen Reinheit endet jäh, als Mendebilus von einem Straßenhändler einen Füllhalter mit pornographischem Motiv kauft und mit einem nackten Mädchen im Heizkeller der Wohnanlage erwischt wird. Traum und Wirklichkeit lassen sich auch in dieser Geschichte kaum scheiden. Die Erzählerfigur stellt selber am Ende lakonisch fest: "Die ganze Geschichte um Mendebilus erscheint mir absurd. Ein so gelehrtes Kind hat es bei uns im Block nicht gegeben."

Mircea Cartarescu ist ein Beschreibungskünstler von Rang. Das szenische Erzählen und vor allem der Dialog liegen ihm offenbar weniger, jedenfalls verzichtet er weitgehend darauf. Zum Schönsten des Buches gehören die atmosphärisch dichten Schilderungen von städtischen und dörflich-vorstädtischen Panoramen, von Straßen, Plätzen und Landschaften, meist im "rötlich goldenen Licht" der späten Nachmittage, im "purpurnen Dunst" des frühen Abends: "Nasen und Backenknochen der Giebel-Gorgonen warfen gestochen scharfe Schatten auf ganze Hauswände, die Fenster füllten sich mit Blut, und ein kleines Mädchen im blauen Kleid, das vor den schmiedeeisernen Speeren am Tor ihres Elternhauses stehengeblieben war, rührte alte, sehr alte Erinnerungen auf."

Giorgio de Chirico ist der Maler, der mit solchen Einstellungen immer wieder zitiert wird, an einer Stelle wird das berühmte Bild "Geheimnis und Melancholie einer Straße" exakt nachgezeichnet. Pittura metafisica - das wollen auch die überwiegend auf optische Eindrücke fixierten Beschreibungen Cartarescus sein, und wie bei de Chirico wirkt die im einzelnen scharf konturierte Darstellung im ganzen surreal und kulissenhaft. Vom "Einströmen des Traumes in das wirkliche Leben" hat Gérard de Nerval gesprochen; auch der düstere Romantiker gehört zu den sensiblen Heroen Cartarescus. Diese Traumsucht, die Sucht nach Ästhetisierung und die Fluchten zu "alten Erinnerungen" setzen die Farb- und Trostlosigkeit des Gegenwärtigen voraus. Aber nicht nur an die Ceausescu-Diktatur, unter der das erstmals 1989 in von der Zensur gekürzter Fassung erschienene Buch noch entstand, ist zu denken, sondern auch an das pessimistische Lebensgefühl, das der Exilrumäne Cioran beschrieben hat. Ihn zitierend, sagt eine von Cartarescus Figuren: "Lebte ich doch, blasiert und unbeweibt, einzig und allein deshalb, weil ich nun mal geboren war." Nostalgie, das ist ein "banges Herzstocken angesichts des Ruins aller Dinge".

Um eine Liebesgeschichte mit bösem Ausgang geht es in "Die Zwillinge". Im Mittelpunkt steht ein junger Büchernarr und Mädchenfeind, der entschlossen alles ignoriert, "was den Jugendlichen meines Alters lieb und teuer war. Ich kam dem Wahnsinn so nahe, daß ich auch heute noch seinen eisigen Atem um meinen Schädel spüre." Er führt ein hochgestochenes Tagebuch und fühlt sich zum Übermenschentum berufen, indes seine Mitschüler, normale Siebziger-Jahre-Jugend, auf dem Schulhof Platten von Santana und den "Rollings" tauschen - Bukarester Pausen scheinen sich wenig von denen in London oder Kassel unterschieden zu haben.

Doch dann hebt Gina - ein fatales Mädel, versnobt und raffiniert - den gesamten "inneren Aufbau" des jungen Mannes "aus den Angeln". Wie die blühenden Mädchen Prousts beherrscht sie das entnervende Wechselspiel von Annäherung und Abweisung und treibt ihren Verehrer immer tiefer in die Qualen der Eifersucht. Der ratlos Verliebte wünscht sich, "in ihr Hirn eindringen zu können, in ihre Nerven, ihre Adern, um endlich zu begreifen, wer sie war". Der Wunsch geht in Erfüllung. Nach einer einzigen Liebesnacht im Naturkundemuseum - es ist merkwürdigerweise durch einen schmuddeligen Geheimgang mit Ginas Zimmer verbunden - finden sich die beiden, nun vollends verstört, in vertauschten Körpern wieder. Das Museum und sein plötzlich zu panischem Leben erwachendes Getier werden zum Gegenstand einer wortmächtigen Beschreibungskaskade, diesmal mit Seitenblicken auf Thomas Mann.

Das Phantastische dominiert die beiden übrigen Stücke. "Der Architekt" ist eine Groteske, die so harmlos wie nur möglich beginnt, um sich dann kurios ins Monströse auszuwachsen. Problematischer ist die Überfülle des schön und schaurig Geträumten, des Märchenhaften und Visionären in der Erzählung "REM", in der die Ferienzeit bei einer Tante am Stadtrand für ein kleines Mädchen zum Ausflug in eine bizarre Wunder-Welt gerät. Hier besteht die Gefahr, daß die Erzählung, mit einer Formulierung des Autors, zum "großen Kunstgewerbeladen" für Surreales wird.

"REM" ist zugleich eine Variation auf Borges' berühmte Erzählung vom "Aleph", jenem geheimnisvollen Punkt auf der Kellertreppe eines dilettantischen Poeten, der das simultane Erleben aller Vorgänge des Universums ermöglicht. Das wirkt in der Wiederkehr bei Cartarescu - ebenso wie einige weitere Borges-Anleihen, etwa die Spiegelangst - bisweilen mühsam und unfrisch. Bestes Borges-Erbe sind allerdings die Eleganz und die Genauigkeit des Stils. Gerade die phantastische Literatur bedarf, nur scheinbar paradox, der "realistischen" Exaktheit, um nicht in mysteriöse Fabelei abzusinken - die Meisterwerke dieser Disziplin, von Hoffmann und Gogol bis zu Kubin und Kafka, machen es deutlich.

Sicherlich lassen sich in dem von Gerhardt Czejka vorzüglich übersetzten Buch auch Schwachstellen ausmachen. Gelegentlich wird es des "Purpurnen" und der Melancholie zuviel, Preziositäten wie der "schwarze Tau der Nostalgie" müßten bei allem neuen Fin-de-siècle-Romantizismus nicht sein. Doch ist dies das außerordentliche Debüt eines virtuosen Erzählers, der den Leser in den Bann zu ziehen vermag. Mittlerweile hat Mircea Cartarescu seinen ersten Roman geschrieben. WOLFGANG SCHNEIDER

Mircea Cartarescu: "Nostalgia". Erzählungen. Aus dem Rumänischen übersetzt von Gerhardt Czejka. Verlag Volk & Welt, Berlin 1997. 444 S., geb., 45,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.08.2009

Kleiner Mann unter der Schädeldecke
Mircea Cartarescu erzählt von der Jugend im Plattenbau
Man kann verstehen, dass der Zensor damals den „Roulettespieler” strich, gleich die erste Geschichte von „Nostalgia”. Sie ist überhaupt nicht vergangenheitsverfallen und damit doch auch etwas versöhnlich, wie die anderen Teile dieses Romans aus Erzählungen, des außergewöhnlichen Prosadebüts, mit dem der 1956 in Bukarest geborene Mircea Cartarescu in Rumänien 1993 auf einen Schlag zum wichtigsten Schriftsteller seiner Generation avancierte. Der „Roulettespieler" irritiert allein schon durch die tiefschwarze Weltsicht, vor deren Hintergrund das Publikum mit dem Schrecken hoffnungslosen, nicht mehr verstehbaren Lebens konfrontiert wird. Wird die Existenz der Jungs in den schäbigen Vorstädten in den anderen Teilen des Buchs durch Cartarescus in metaphernreiche Sprachkunst verwandelte Sehnsucht noch in irgendeiner Weise geadelt, geht es im „Roulettespieler” um die Vermittlung der Atmosphäre offener Panik.
Auch dieser Erzähler, ein älterer Schriftsteller, erinnert sich an seine Kindheit, doch der Mann, dessen Geschichte er dabei vorträgt, war nie ein Grund zur Wehmut. Als der Erzähler ihn wieder trifft, treibt sich der Junge aus seinen Häuserblocks, der inzwischen wegen Vergewaltigung und Raubüberfall im Gefängnis war, im Spieler-Milieu herum, offensichtlich ohne Erfolg. Er bettelt um Bier, das ihm versprochen wird, wenn er Dinge tut, wie von zwei Zündhölzchen das längere ziehen, was ihm nicht gelingen kann. Er ist, so scheint es, ein jämmerlicher Narr.
Immer wieder schaltet sich der Schriftsteller kommentierend in die Geschichten ein, aber nicht als Stilübung, sondern als dramaturgisches Mittel, das auf die Figur gespannt macht, die eines Tages als Roulettespieler für Aufsehen sorgen wird – in einem tiefen Kellergewölbe, in dem Sardinenfässer als Tische dienen. Ein Raum, der dem Ich-Erzähler damals als „blutrünstiges Paradies” erschien, in seiner Erinnerung aber zur „Hölle” wird. Der Einsatz, den die anwesenden „Geschäftsleute” oder auch „Aktionäre” verspielen, ist das Leben des Jugendfreunds. Dieser spielt Roulette nicht am Spieltisch, sondern mit sich – zuerst mit einer Kugel, dann mit zwei, drei. Jedes- mal, wenn er sich die Pistole an die Stirn setzt, „stand in seinem gequälten, fast stirnlosen Gesicht ungeheures Entsetzen, tierische Angst geschrieben, ein kaum zu ertragender Anblick.”
Auf Bukarests Schuttplätzen
Cartarescus Sprachmacht zeigt sich im „Roulettespieler” noch nicht derart überschwänglich frei wie in den „Wissenden”, dem ersten Teil von Cartarescus großer Romantrilogie, nach dessen Erfolg der vom deutschen Publikum damals übersehene Prosa-Erstling „Nostalgia” in einer überarbeiteten Übersetzung aufgelegt wird. Es ist eine kontrollierte, an Dostojewski erinnernde Kunst, mit der Cartarescu seinen Helden hier in den Wahnsinn schickt.
Das wuchernde Erzählen beginnt in der zweiten Geschichte des Bandes, die auf den Hauptschauplatz des Geschehens führt. Die Gegend um den Bukarester Boulevard Stefan-cul-Mare, in der Cartarescu wie viele seiner Ich-Erzähler und Helden aufwuchs. Was Cartarescus Melancholie von der Erinnerungsseligkeit in Teilen der neueren deutschsprachigen Literatur unterscheidet, ist die sinnliche Dichte der Darstellung realistischen Erlebens und die aus ihr entwickelte metaphysisch-groteske Dimension bei der Schilderung seiner Welten auf Bukarester Schuttplätzen.
Cartarescu kann es sich leisten, Proust und seine Madeleine im Text selbst zu nennen, ohne dass man vom Gedanken abkommt, ihn als Erneuerer von Prousts Erinnerungskunst zu sehen. Eine Verwandtschaft, die in „Nostalgia” noch viel deutlicher ist als in den „Wissenden”. Halluzinativ und detailliert beschwört er die Jugend im rumänischen Plattenbau. Und immer wieder geht Cartarescu auf seine Weise über schwärmerischen Detailrealismus hinaus: Der erste Punkt der Theorie, die Mendebilus, Held der zweiten Geschichte, zum Besten gibt, erzählt von einem kleinen Mann, der unter seiner Schädeldecke lebt und ihn lenkt, „er hat die gleichen Züge, trägt die gleiche Kleidung. Was er macht, mache auch ich”. Der Mann im Kopf „ist mein Puppenspieler”.
Das Himmelsgewölbe aber „ist nichts anderes als die Schädeldecke eines riesigen Kindes, das mir ebenfalls aufs Haar gleicht”. Ein Bild für die Struktur dieses Buchs, das behauptet, Anfang und Ende seiner Welt seien nicht zu bestimmen. Jede Erzählung geht in eine andere über.
HANS-PETER KUNISCH
MIRCEA CARTARESCU: Nostalgia. Aus dem Rumänischen von Gerhardt Csejka. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main 2009. 416 Seiten. 24,80 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Eingenommen ist Hans-Peter Kunisch von diesem aus ineinander übergehenden Erzählungen bestehenden Roman über die Jugend im rumänischen Plattenbau, mit dem Mircea Cartarescu 1993 zum bedeutendsten Schriftsteller seiner Generation in Rumänien avancierte. Schon die erste Erzählung "Roulettespieler" hat ihm mit ihrer "Atmosphäre offener Panik" den Atem verschlagen, aber auch die weiteren Geschichten des Bandes, in denen sich die wuchernde "metaphernreiche Sprachkunst" des Autors zunehmend entfaltet, haben ihn tief beeindruckt. Er fühlt sich bei der Lektüre, wenn der Autor seine Protagonisten in den Wahnsinn schickt, an Dostojewski erinnert. Aber auch an Proust: durch einen Reichtum an Details und eine "sinnliche Dichte", durch die sich die Melancholie des Werks von der "Erinnerungsseligkeit" in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur unterscheidet.

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