Marktplatzangebote
Ein Angebot für € 8,71 €
Produktdetails
  • The Public Square
  • Verlag: Princeton University Press
  • Seitenzahl: 184
  • Erscheinungstermin: 22. Februar 2011
  • Englisch
  • Abmessung: 206mm
  • Gewicht: 340g
  • ISBN-13: 9780691140643
  • ISBN-10: 0691140642
  • Artikelnr.: 28242025
Autorenporträt
Martha C. Nussbaum, geboren 1947, ist Ernst Freud Professor of Law and Ethics an der University of Chicago. An derselben Universität lehrt sie außerdem in den Fächern Rechtswissenschaft, Theologie und Klassische Philologie. Neben zahlreichen Schriften zur Philosophie der Antike hat sie vor allem Arbeiten über moralphilosophische Themen veröffentlicht. Dabei behandelt sie oft Fragen am Schnittpunkt zwischen Ethik, öffentlicher Moral, Literatur und Problemen des Feminismus. 1993 hielt sie die renommierten Gifford Lectures über Themen der Moralphilosophie und der Philosophie der Psychologie.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.08.2010

Sokratische Vorbereitungen für die Weltgesellschaft

Martha C. Nussbaum sieht die universitäre Bildung weltweit von ökonomischen Vorgaben bedroht und verteidigt die Geisteswissenschaften als notwendigen Bestandteil der Erziehung mündiger Bürger.

Seit Georg Picht im Jahre 1964 die deutsche Bildungskatastrophe verkündete, ist diese zu einem Dauerthema geworden. Nach den reformfreudigen sechziger und siebziger Jahren, die die Ordinarienuniversität verabschiedeten, Gesamthochschulen gründeten und das Massenstudium erfanden, indiziert "Bologna" eine tiefgreifende Krise des tertiären Bildungssektors, die durch eine völlig missglückte Umstellung auf ein dreistufiges, an Effizienz orientiertes und am Arbeitsmarkt ausgerichtetes Ausbildungsmodell gekennzeichnet ist. Argumentiert wurden diese Strukturreformen immer wieder mit dem Hinweis auf die Erfolge der angelsächsischen und vor allem der höheren Bildungseinrichtungen in den Vereinigten Staaten. Doch nun, so scheint es, hat die Bildungskrise auch Amerika, ja die Welt schlechthin erreicht. Traut man den Diagnosen der amerikanischen Philosophin Martha C. Nussbaum, werden die Bildungssysteme nicht nur in Europa oder den Vereinigten Staaten, sondern in einem globalen Maßstab von einer Krise geschüttelt, die sich für die weitere Entwicklung der modernen Gesellschaft als höchst nachteilig erweisen könnte.

Die Krise, die Nussbaum diagnostiziert, hat allerdings wenig mit dem zu tun, was die aktuelle Krisenrhetorik hierzulande charakterisiert. Weder geht es um Studienabschlussquoten noch um Exzellenz und Elite, es geht auch nicht um die ungestillten Bedürfnisse der Wirtschaft nach qualifizierten Technikern oder um schlechtes Abschneiden bei diversen Tests und Rankings. Schon gar nicht wird die Angst beschworen, man könnte im globalen Wettbewerb irgendeinen Anschluss versäumen. Es geht, und das mag verblüffen, um das Verschwinden der Humanities, also der geisteswissenschaftlichen und musischen Fächer, aus den universitären Curricula, um die einseitige Orientierung der Studien an den Zielen wirtschaftlicher Verwertbarkeit, um ein Konzept von Bildung, das im Wesentlichen eine berufsorientierte Ausbildung mit den Schwerpunkten Naturwissenschaft, Technik und Ökonomie anvisiert. All das, so Nussbaum, stelle nicht nur einen Verlust für individuelle Bildungsmöglichkeiten, sondern vor allem eine Gefahr für die Demokratie dar.

Das Handeln und Denken der Gegenwart orientiert sich in den Augen der Autorin an einem Parameter: dem Wirtschaftswachstum. Daran wird nicht nur der Erfolg von Gesellschaften gemessen, danach richten sich auch die Investitionen im Bildungsbereich. Andere Dimensionen werden weder erfasst, noch folgen sie gleichsam naturwüchsig aus der ökonomischen Prosperität: Gesundheit, Glücksfähigkeit, Gerechtigkeitschancen, Ausweitung demokratischer Rechte, Möglichkeiten der Partizipation und Verantwortung, Gleichberechtigung von Individuen, Ethnien, Religionen und Minderheiten.

Nussbaum, die nichts dagegen hat, als sozialdemokratische Aristotelikerin bezeichnet zu werden, rekurriert auf einen Begriff des "guten Lebens", zu dem es wesentlich gehört, dass Menschen in die Lage versetzt werden, ihre Chancen auf ein glückliches und freies Leben in einer Gemeinschaft von Gleichen wahrzunehmen. Um dies zu können, bedarf es der Vermittlung und Schulung einiger Fähigkeiten, die nach Nussbaum zum Kernbestand jedes avancierten Bildungsprogramms gehören sollten. Dazu zählen die Fähigkeit zur Reflexion und Selbstreflexion, die Fähigkeit, andere Menschen trotz aller ethnischen, religiösen, kulturellen und geschlechtsspezifischen Unterschiede als Personen mit gleichen Rechten und Bedürfnissen wahrzunehmen, die Fähigkeit, sich in die Lage und Situation anderer Menschen zu versetzen, die Fähigkeit, über Probleme der Kindheit und des Erwachsenwerdens, über Liebe, Krankheit, Armut und Tod denken und sprechen zu können, die Fähigkeit zur politischen Urteilskraft sowie die Fähigkeit, sich und die Nation, der man sich zugehörig fühlt, als Teil eines größeren Ganzen, letztlich einer Weltgesellschaft zu betrachten.

Eine in diesem Sinn verstandene gedeihliche Entwicklung einer Gesellschaft hat nach Nussbaum eine demokratische Verfassung zur Voraussetzung, die selbst wiederum vielfältig gebildeter und kritikfähiger Menschen bedarf. Wie aber erzieht man zur Demokratie? Nussbaum verlässt sich dabei eher unreflektiert auf einen Mix reformpädagogischer Ansätze: Rousseau, Pestalozzi, Friedrich Fröbel, John Dewey und Rabindranath Tagore sind ihre Gewährsleute, die bei aller Heterogenität die von Nussbaum favorisierte "sokratische Pädagogik" praktizierten. Nicht abstraktes Wissen und Auswendiglernen kennzeichnen diese Methode, auch nicht die Auseinandersetzung mit kanonischen Werken, sondern das Gespräch, das Fragen, der Dialog, die Argumentation, die Kritik. Damit kann natürlich nicht früh genug begonnen werden, Matthew Lipmans vor Jahrzehnten entwickelte Modelle des Philosophierens mit Kindern dürfen in diesem Kontext deshalb nicht fehlen.

Mit Rückgriff auf die auch schon etwas betagten Theorien des Kindertherapeuten Donald Winnicott sieht Nussbaum in der Imagination, in der Phantasie, im Rollenspiel jene Strategien, die den Menschen die Möglichkeit geben, sich in ganz andere Gefühlslagen zu versetzen, aber auch seine eigene Situation vielfältig und kreativ auszudrücken. Deshalb ist nicht nur die passive Kenntnis der Kunst- oder Literaturgeschichte so wichtig, sondern vor allem der Erwerb expressiver und kreativer Fähigkeiten: Schreiben, Singen, Tanzen und Theaterspielen.

In Summe geht es Nussbaum allerdings um die Verteidigung eines Bildungskonzeptes, das seine historischen Wurzeln in der mittelalterlichen Artistenfakultät hatte und nun auch in den Vereinigten Staaten in Bedrängnis zu geraten scheint: die liberal arts, ein Grund- und Vorstudium, das umfassend in kulturelle und religiöse Traditionen, ästhetische Praktiken, literarische und philosophische Texte und die Kunst der kritischen Argumentation einführen soll und nach Nussbaum eigentlich jedem Fachstudium vorausgehen sollte. Nussbaum konzediert, dass in den Vereinigten Staaten dieses Modell zwar bedroht, aber - im Gegensatz zu Europa oder Indien - noch lebendig ist. Wo es verschwindet, seien die Folgen fatal.

Ein zentraler Einwand, der nach Erscheinen dieses Buches gegen Martha Nussbaum vorgebracht wurde, lautet, dass auch sie die Sinnhaftigkeit der Geistes- und Kulturwissenschaften nur behaupten kann, indem sie deren "Nützlichkeit" für die politische Erziehung unterstreicht, sich also jenem Kriterium unterwirft, das sie bekämpft. Man hätte offenbar gerne mehr über den Eigenwert der Humanities erfahren.

Doch dieser Einwand geht fehl. Tatsächlich geht es Nussbaum nicht um die Rettung der Geisteswissenschaften, sondern um die Rettung des Anspruchs auf eine gelebte Demokratie. Eine grundlegende Beschäftigung mit Geschichte und Politik, mit Kunst, Literatur, Musik und Tanz, mit religiösem Denken und Philosophie auf allen Stufen der Erziehung und Bildung stellt ihrer Ansicht nach dafür eine wohl nicht hinreichende, aber unbedingt notwendige Voraussetzung dar. Allein schon aus Eigeninteresse, um nicht zu sagen Profitgier, wollen wir dies Martha Nussbaum gerne glauben.

KONRAD PAUL LIESSMANN

Martha C. Nussbaum: "Not for profit". Why democracy needs the humanities. Princeton University Press, Princeton 2010. 158 S., geb., 19,40 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr
"It's an important and timely plea because the pursuit of so-called useful educational results continues apace, and because the threats to humanistic education are indeed profound."--Michael S. Roth, Chronicle of Higher Education