Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.01.2013Geisterjagd
"Wasser verwandelt sich bei großer Kälte und Hitze, der Mensch unter großem Druck. Dass er bis zur Unkenntlichkeit veränderbar ist, fällt nicht sofort auf, da er den aufrechten Gang und die gewohnten Gesichtszüge beibehält." Und das macht es besonders gruselig. Diese ersten, tastenden Versuche, das deutsche Charakterinferno intellektuell zu durchdringen, macht Erich Kästner am 15. Juni 1945. Sie ergreifen uns nicht nur, weil sie schlicht zutreffen, sondern weil wir durch Bombennächte auf sie zulaufen. In dieser Unmittelbarkeit besteht die Kraft von Tagebüchern, wie Kästner im Vorwort schreibt: Sie "präsentieren gewesenes Präsens". Auch Irrtümer und falsche Gerüchte seien daher beizubehalten. Einzig so könne sich ein Buch dieser Zeit angemessen nähern, die zu einem großen Roman nicht tauge, konstatierte der Autor bei der Erstveröffentlichung 1961. Zu Beginn sitzen wir mit dem "Asphaltliteraten" im Herzen der Finsternis, in Berlin, und hören es flüstern, dass die SS eine "blutige Abschiedsfeier" plane: "Auch mein Name stünde auf der Liste." Wir begleiten Kästner auf gefährlicher Fahrt durch das Land unter dem Vorwand, bei Filmaufnahmen gebraucht zu werden. Eine gesamte Geister-Crew hat es so ins Zillertal geschafft, wo man das Kriegsende abwartet. Kästner meidet die Opferrolle. Er rechnet ab. Allein die hier für die Ewigkeit aufbewahrten, aus dem Februar 1945 stammenden Richtlinienänderungen bei der Nähmaschinennadelversorgung inklusive Handhabungshinweisen für ein neues "Formblattschema" - ein hochkomisch zu lesender, bürokratischer Super-GAU, während das Land dem Komplettzusammenbruch entgegengeht - gleichen einem ins Herz der deutschen Gründlichkeit getriebenen Holzpflock. So erledigt man Vampire. (Erich Kästner: "Notabene 45". Ein Tagebuch. Atrium Verlag, Zürich 2012. 246 S., geb., 19,95 [Euro].)
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Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Wasser verwandelt sich bei großer Kälte und Hitze, der Mensch unter großem Druck. Dass er bis zur Unkenntlichkeit veränderbar ist, fällt nicht sofort auf, da er den aufrechten Gang und die gewohnten Gesichtszüge beibehält." Und das macht es besonders gruselig. Diese ersten, tastenden Versuche, das deutsche Charakterinferno intellektuell zu durchdringen, macht Erich Kästner am 15. Juni 1945. Sie ergreifen uns nicht nur, weil sie schlicht zutreffen, sondern weil wir durch Bombennächte auf sie zulaufen. In dieser Unmittelbarkeit besteht die Kraft von Tagebüchern, wie Kästner im Vorwort schreibt: Sie "präsentieren gewesenes Präsens". Auch Irrtümer und falsche Gerüchte seien daher beizubehalten. Einzig so könne sich ein Buch dieser Zeit angemessen nähern, die zu einem großen Roman nicht tauge, konstatierte der Autor bei der Erstveröffentlichung 1961. Zu Beginn sitzen wir mit dem "Asphaltliteraten" im Herzen der Finsternis, in Berlin, und hören es flüstern, dass die SS eine "blutige Abschiedsfeier" plane: "Auch mein Name stünde auf der Liste." Wir begleiten Kästner auf gefährlicher Fahrt durch das Land unter dem Vorwand, bei Filmaufnahmen gebraucht zu werden. Eine gesamte Geister-Crew hat es so ins Zillertal geschafft, wo man das Kriegsende abwartet. Kästner meidet die Opferrolle. Er rechnet ab. Allein die hier für die Ewigkeit aufbewahrten, aus dem Februar 1945 stammenden Richtlinienänderungen bei der Nähmaschinennadelversorgung inklusive Handhabungshinweisen für ein neues "Formblattschema" - ein hochkomisch zu lesender, bürokratischer Super-GAU, während das Land dem Komplettzusammenbruch entgegengeht - gleichen einem ins Herz der deutschen Gründlichkeit getriebenen Holzpflock. So erledigt man Vampire. (Erich Kästner: "Notabene 45". Ein Tagebuch. Atrium Verlag, Zürich 2012. 246 S., geb., 19,95 [Euro].)
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