Der in Frankreich lebende schweizerische Autor Philippe Jaccottet ist einer der großen europäischen Dichter. Dieser Prosaband vereint Texte, die sich den Tragödien unserer Gegenwart stellen, aber auch von persönlichen Niederlagen handeln. "Israel, blaues Heft" ist ein Reisebericht über die Krisenregion in Nahost; "Das Wort Russland" beschreibt, ausgehend von Jaccottets Erfahrungen als Übersetzer von Ossip Mandelstam, die Bedeutung der russischen Literatur für die Darstellung des menschlichen Leidens, von Dostojewski bis zu den Gulag-Erzählungen von Schalamow; und "Notizen aus der Tiefe" ist eine persönliche Annäherung an Krankheit und Tod.
Es gibt kleine Bücher zu großen Themen und umgekehrt. Das vorliegende gehört zur ersten Gattung. So zumindest fürchtet der Autor. Es fasst drei ursprünglich getrennt veröffentlichte Texte zusammen: Reiseaufzeichnungen aus Israel, Anmerkungen zur russischen Literatur, eine Meditation über Krankheit und Sterben. Der achtzigjährige Dichter Philippe Jaccottet zeigt sich in diesen Prosatexten von einer ganz persönlichen Seite. Seine Bange, dass er mit seiner Distanziertheit den heiligen Orten Jerusalems nicht gewachsen, ja ihnen gegenüber nicht einmal gespalten sei, sondern nur unschlüssig zwischen verschiedenen Impulsen: ein Lauer ("man wird wahrscheinlich als Lauer geboren") - diese Bange löst sich für uns Leser schnell in Nichts auf. Schon nach wenigen Seiten weiß man, was man vor sich hat: eine subtile Betrachtung über die Macht autoritärer Wahrheiten zwischen geistiger Größe und politischem Verbrechen. Im Krisengebiet Israels und Palästinas notiert der Autor seine Eindrücke gegenüber christlichem Frömmigkeitsrummel, jüdisch-orthodoxer Weltfremdheit in der Position des Stärkeren vor der Klagemauer, palästinensischer Gewaltbereitschaft unter demütigenden Lebensumständen. Die Notizen bleiben jedoch nicht in der Tiefe stecken, sondern enthalten Lichtblicke eines Autors, der an keine Illusionen, wohl aber an Dantes Beispiel einer Rückkehr aus dem Inferno in die Gegenwart glaubt. (Philippe Jaccottet: "Notizen aus der Tiefe". Aus dem Französischen von Friedhelm Kemp, Elisabeth Edl und Wolfgang Matz. Carl Hanser Verlag, München 2009. 170 S., br., 17,90 [Euro].) han.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
"Fast geisterhafte Größe" bescheinigt Rezensent Milo Rau diesen Notizen des in Frankreich lebenden Schweizer Dichters Philippe Jaccottet. Diese deutsche Edition vereint Raus Informationen zufolge drei französische Vorlagen. Wer den Band lese, werde erneut "Zeuge einer dichterischen Selbstverständigung", die Jaccottet seit seinen Anfängen auszeichne, in seiner völlig privaten, in seinen thematischen Vorlieben und doch völlig objektiven, "mittelalterlichen Suche nach dem Absoluten" . Was diese Notizen von vorangegangenen Büchern für den Rezensenten unterscheidet, ist die Tatsache, dass es sich diesmal fast um ein Reisebuch handelt: Jaccottet reist mit der Bibel in der Hand nach Israel und besucht das Russland Stalins, Ossip Mandelstams und Dostojewskis, lesen wir. Zwischen diesen beiden Reisebeschreibungen erzählt Jaccottet vom Tod eines Freundes. Wie hier literarisches und reales genau zusammenhängen, bleibt in der Rezension leicht nebulös, aber eins wird doch klar: Milos Rau ist von diesem Prosawerk nicht weniger beeindruckt als von den Gedichten Jaccottets.
© Perlentaucher Medien GmbH
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