Produktdetails
- Librairie Du 21e Siecle
- Verlag: Seuil
- Seitenzahl: 272
- Erscheinungstermin: 8. Oktober 2014
- Französisch
- Abmessung: 180mm x 110mm x 19mm
- Gewicht: 200g
- ISBN-13: 9782021082142
- ISBN-10: 2021082148
- Artikelnr.: 37669714
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.12.2014Was den Weihnachtsmann mit Halloween verbindet
Gedanken eines großen Anthropologen: Ein Band präsentiert Texte des vor fünf Jahren verstorbenen Claude Lévi-Strauss. Auch der weihnachtliche Gabentisch erscheint dabei in ungewohntem Licht.
Über Wachstum und Form" ist der Titel eines berühmten Buchs, das der Biologe D'Arcy Wentworth Thompson 1917 veröffentlichte. Als Frontispiz vorangestellt ist ihm eine mit extrem kurzer Belichtungszeit aufgenommene Fotografie der Oberfläche einer Flüssigkeit unmittelbar nach dem Aufprall eines Tropfens. Sie zeigt auf dieser Oberfläche einen kreisrunden Reif, der nach oben und außen in feine, vollkommen gleich gestaltete Zacken ausläuft, von denen jede mit einem kleinen Kügelchen gekrönt ist. Für Thompson führte diese Chronofotografie vor Augen, dass die unbelebte physikalische und die biologische Welt - er dachte an bestimmte Meeresorganismen - zu denselben hochgradig symmetrischen, mathematisch beschreibbaren Formen finden können.
Thompsons Spekulationen über solche Gesetze der Formbildung hat Forscher wie Künstler angeregt. Über siebzig Jahre später kam auch ein berühmter Anthropologe auf die als Frontispiz verwendete Fotografie zu sprechen, nämlich der vor fünf Jahren in hohem Alter verstorbene Claude Lévi-Strauss. Der gezackte Reif ließ ihn aber nicht an biologische Formen denken, sondern an eine Grafenkrone: der Heraldik entsprechend ein Metallreif mit Zacken, auf denen jeweils eine Perle sitzt. Damit war der Bogen von einem spät erst zu Anschaulichkeit gebrachten physikalischen Phänomen zu alten Kunstformen geschlagen, in denen sich menschliche Phantasie niederschlägt.
Eine Phantasie, die aber offenbar doch nicht so frei verfährt, wie es scheint: Denn, so Lévi-Strauss' Interpretation, "sogar die extravagantesten Einfälle sind Produkte des menschlichen Geistes, der Teil der Welt ist und der, bevor er sie von außen her kennenlernt, in seinem Innern einige Realitäten der Welt betrachtet, während er rein schöpferisch zu sein glaubt". Das klingt versponnen, läuft aber auf Lévi-Strauss' Überzeugung hinaus, dass Welt und Geist im Zeichen einer Gesetzmäßigkeit verknüpft sind. Man vergisst leicht, wie tief diese Vorstellung bei diesem Autor wurzelt, aber ein Räsonnement wie dasjenige über die präfigurierte Grafenkrone ruft sie in Erinnerung.
Es findet sich in einem der Artikel, die Lévi-Strauss in den neunziger Jahren für die Zeitung "La Repubblica" schrieb und die nun auch auf Deutsch in einem Band erschienen sind. Wie die beiden anderen postum erschienenen Bände mit Artikeln und Vorträgen bietet er gute Gelegenheit, mit Lévi-Strauss bekannt zu werden. Die Artikel sind schnörkellos geschrieben, leisten sich gar keine technischen Abkürzungen oder gar Jargon, sind aber gleichzeitig alles andere als bloß beiläufige Plaudereien. Sie steuern im Gegenteil oft recht schnell auf grundlegende Motive und Fragen zu. Nicht nur im Fall von Kronen, hinter denen die Bedingungen der Möglichkeit strukturaler Analyse von Mythen und Kunstformen auftauchen - und deren Edelsteine Lévi-Strauss dann Anlass geben, über unsere ungebrochene Neigung zu schmückenden Steinen nachzudenken -, sondern etwa auch dann, wenn es um das Verhältnis zwischen mythischem und wissenschaftlichem Denken geht.
Ein indianischer Mythos bildet den Einstieg: In ihm sieht eine gerade erst einem Zauberer angetraute junge Frau mit Erstaunen, wie sich ihr Gatte bei einer Weggabelung in zwei Körper aufteilt, die ein Stück weiter, als die Wege wieder zusammentreffen, wieder zu einem einzigen werden. Lévi-Strauss lässt das gleich an das berühmte Doppelschlitz-Experiment denken, mit dem Physiker uns das unverständliche Verhalten von quantenmechanisch zu beschreibenden Partikeln erläutern. So weit scheint das freilich nur eine kuriose Ähnlichkeit.
Aber auch hier geht Lévi-Strauss gleich weiter zu einer grundsätzlichen Spekulation über phantastische und widersprüchliche Figuren und Ereignisse, mit denen Mythen aufwarten. Denn vielleicht sind diese ja das Ergebnis einer systematischen Erkundung der Ressourcen, über die menschliche Phantasie gebietet; und was dabei an Phantastischem durchexerziert wird, wirkt deshalb in ihrem Rahmen nicht völlig sinnlos, weil es in der "Architektur des Geistes" vorgezeichnet ist, sich aber gerade deshalb - da kommt wieder die Hintergrundmetaphysik der Verklammerung von verkörpertem Geist und Welt zum Tragen - auch einmal als tauglich erweisen kann, bestimmte Aspekte der Welt adäquat zu beschreiben, wie in der Quantenmechanik. Entschiedener kann man gar nicht dafür eintreten, dass noch die merkwürdigsten Mythen ein fundamentum in re haben.
Einige Artikel knüpfen an aktuelle Nachrichten an, darunter auch derjenige, dessen Titel - "Wir sind alle Kannibalen" - für den Band gewählt wurde. Er verknüpft die Darstellung von Debatten rund um den Kannibalismus mit dem Hinweis, dass die Infektionswege der Anfang der neunziger Jahre in Europa auftauchenden Creutzfeld-Jakob-Krankheit - injizierte Hormone menschlicher Hypophysen oder verpflanzte Membranen - sich schlicht kannibalistischer Praxis verdanken. Was durchaus nicht heißt, dass diese Verfahren schon deshalb zu verwerfen sind; aber sie führen vor Augen, dass die entsetzte Abwehr "des" Kannibalismus nur ein blinder Reflex ist.
Der Anthropologe gibt keine Handlungsempfehlungen, sondern zeigt einen Sachverhalt in anderem Licht. So wie es Lévi-Strauss auch tut, wenn er auf die Debatten rund um die Möglichkeiten assistierter Reproduktion kommt (künstliche Insemination, Eispenden, Leihmutterschaft) und vor Augen führt, auf welche Lösungen kleine Gesellschaften, wie sie die Ethnologen studieren, angesichts des Problems der Unfruchtbarkeit von Männern oder Frauen gekommen sind: indem sie nämlich Formen sozialer Elternschaft etablierten, die die biologische Filiation eindeutig beiseitesetzten. Natürlich lassen sich diese Formen nicht einfach übernehmen, aber für Lévi-Strauss sind sie ein beruhigender Wink, dass Gesellschaften stabile Lösungswege auf diesem Feld finden.
Vorangestellt ist den Artikeln aus den neunziger Jahren im vorliegenden Band ein älterer Text, der zum ersten Mal in Sartres Zeitschrift "Les Temps modernes" erschien. Sein Ausgangspunkt ist eine Begebenheit, die sich an den Weihnachtsfeiertagen des Jahres 1951 in Dijon zugetragen hatte, wo auf dem Vorplatz der Kathedrale mit der Zustimmung des Klerus die Puppe eines Weihnachtsmanns aufgehängt und als paganer Usurpator des Weihnachtsfests verbrannt worden war.
In Lévi-Strauss' Betrachtung bekommen die Kirchenmänner in gewisser Weise recht, denn Paganes steckt im Weihnachtsmann und in seinen Geschenken für die Kinder durchaus. Allerdings nicht in der Form moderner Usurpation, sondern in der eines alten Sinnbestands, der durch die christliche Überformung noch hindurchscheint. Zumindest in der Beleuchtung des Anthropologen, der in den Kindern die Stellvertreter der Toten erkennt, die es mit Geschenken zu beschwichtigen galt. Es zeigt sich dann, ganz kurz gefasst, der Halloween-Anteil des Weihnachtsmanns. Womit dieser Band also nicht nur leichte Wege zu einem großen Autor bietet, sondern auf seine Weise auch zu den Weihnachtsfeiertagen passt.
HELMUT MAYER
Claude Lévi-Strauss: "Wir sind alle Kannibalen". Mit dem Essay "Der gemarterte Weihnachtsmann". Vorwort von Maurice Olender. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 249 S., geb., 26,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gedanken eines großen Anthropologen: Ein Band präsentiert Texte des vor fünf Jahren verstorbenen Claude Lévi-Strauss. Auch der weihnachtliche Gabentisch erscheint dabei in ungewohntem Licht.
Über Wachstum und Form" ist der Titel eines berühmten Buchs, das der Biologe D'Arcy Wentworth Thompson 1917 veröffentlichte. Als Frontispiz vorangestellt ist ihm eine mit extrem kurzer Belichtungszeit aufgenommene Fotografie der Oberfläche einer Flüssigkeit unmittelbar nach dem Aufprall eines Tropfens. Sie zeigt auf dieser Oberfläche einen kreisrunden Reif, der nach oben und außen in feine, vollkommen gleich gestaltete Zacken ausläuft, von denen jede mit einem kleinen Kügelchen gekrönt ist. Für Thompson führte diese Chronofotografie vor Augen, dass die unbelebte physikalische und die biologische Welt - er dachte an bestimmte Meeresorganismen - zu denselben hochgradig symmetrischen, mathematisch beschreibbaren Formen finden können.
Thompsons Spekulationen über solche Gesetze der Formbildung hat Forscher wie Künstler angeregt. Über siebzig Jahre später kam auch ein berühmter Anthropologe auf die als Frontispiz verwendete Fotografie zu sprechen, nämlich der vor fünf Jahren in hohem Alter verstorbene Claude Lévi-Strauss. Der gezackte Reif ließ ihn aber nicht an biologische Formen denken, sondern an eine Grafenkrone: der Heraldik entsprechend ein Metallreif mit Zacken, auf denen jeweils eine Perle sitzt. Damit war der Bogen von einem spät erst zu Anschaulichkeit gebrachten physikalischen Phänomen zu alten Kunstformen geschlagen, in denen sich menschliche Phantasie niederschlägt.
Eine Phantasie, die aber offenbar doch nicht so frei verfährt, wie es scheint: Denn, so Lévi-Strauss' Interpretation, "sogar die extravagantesten Einfälle sind Produkte des menschlichen Geistes, der Teil der Welt ist und der, bevor er sie von außen her kennenlernt, in seinem Innern einige Realitäten der Welt betrachtet, während er rein schöpferisch zu sein glaubt". Das klingt versponnen, läuft aber auf Lévi-Strauss' Überzeugung hinaus, dass Welt und Geist im Zeichen einer Gesetzmäßigkeit verknüpft sind. Man vergisst leicht, wie tief diese Vorstellung bei diesem Autor wurzelt, aber ein Räsonnement wie dasjenige über die präfigurierte Grafenkrone ruft sie in Erinnerung.
Es findet sich in einem der Artikel, die Lévi-Strauss in den neunziger Jahren für die Zeitung "La Repubblica" schrieb und die nun auch auf Deutsch in einem Band erschienen sind. Wie die beiden anderen postum erschienenen Bände mit Artikeln und Vorträgen bietet er gute Gelegenheit, mit Lévi-Strauss bekannt zu werden. Die Artikel sind schnörkellos geschrieben, leisten sich gar keine technischen Abkürzungen oder gar Jargon, sind aber gleichzeitig alles andere als bloß beiläufige Plaudereien. Sie steuern im Gegenteil oft recht schnell auf grundlegende Motive und Fragen zu. Nicht nur im Fall von Kronen, hinter denen die Bedingungen der Möglichkeit strukturaler Analyse von Mythen und Kunstformen auftauchen - und deren Edelsteine Lévi-Strauss dann Anlass geben, über unsere ungebrochene Neigung zu schmückenden Steinen nachzudenken -, sondern etwa auch dann, wenn es um das Verhältnis zwischen mythischem und wissenschaftlichem Denken geht.
Ein indianischer Mythos bildet den Einstieg: In ihm sieht eine gerade erst einem Zauberer angetraute junge Frau mit Erstaunen, wie sich ihr Gatte bei einer Weggabelung in zwei Körper aufteilt, die ein Stück weiter, als die Wege wieder zusammentreffen, wieder zu einem einzigen werden. Lévi-Strauss lässt das gleich an das berühmte Doppelschlitz-Experiment denken, mit dem Physiker uns das unverständliche Verhalten von quantenmechanisch zu beschreibenden Partikeln erläutern. So weit scheint das freilich nur eine kuriose Ähnlichkeit.
Aber auch hier geht Lévi-Strauss gleich weiter zu einer grundsätzlichen Spekulation über phantastische und widersprüchliche Figuren und Ereignisse, mit denen Mythen aufwarten. Denn vielleicht sind diese ja das Ergebnis einer systematischen Erkundung der Ressourcen, über die menschliche Phantasie gebietet; und was dabei an Phantastischem durchexerziert wird, wirkt deshalb in ihrem Rahmen nicht völlig sinnlos, weil es in der "Architektur des Geistes" vorgezeichnet ist, sich aber gerade deshalb - da kommt wieder die Hintergrundmetaphysik der Verklammerung von verkörpertem Geist und Welt zum Tragen - auch einmal als tauglich erweisen kann, bestimmte Aspekte der Welt adäquat zu beschreiben, wie in der Quantenmechanik. Entschiedener kann man gar nicht dafür eintreten, dass noch die merkwürdigsten Mythen ein fundamentum in re haben.
Einige Artikel knüpfen an aktuelle Nachrichten an, darunter auch derjenige, dessen Titel - "Wir sind alle Kannibalen" - für den Band gewählt wurde. Er verknüpft die Darstellung von Debatten rund um den Kannibalismus mit dem Hinweis, dass die Infektionswege der Anfang der neunziger Jahre in Europa auftauchenden Creutzfeld-Jakob-Krankheit - injizierte Hormone menschlicher Hypophysen oder verpflanzte Membranen - sich schlicht kannibalistischer Praxis verdanken. Was durchaus nicht heißt, dass diese Verfahren schon deshalb zu verwerfen sind; aber sie führen vor Augen, dass die entsetzte Abwehr "des" Kannibalismus nur ein blinder Reflex ist.
Der Anthropologe gibt keine Handlungsempfehlungen, sondern zeigt einen Sachverhalt in anderem Licht. So wie es Lévi-Strauss auch tut, wenn er auf die Debatten rund um die Möglichkeiten assistierter Reproduktion kommt (künstliche Insemination, Eispenden, Leihmutterschaft) und vor Augen führt, auf welche Lösungen kleine Gesellschaften, wie sie die Ethnologen studieren, angesichts des Problems der Unfruchtbarkeit von Männern oder Frauen gekommen sind: indem sie nämlich Formen sozialer Elternschaft etablierten, die die biologische Filiation eindeutig beiseitesetzten. Natürlich lassen sich diese Formen nicht einfach übernehmen, aber für Lévi-Strauss sind sie ein beruhigender Wink, dass Gesellschaften stabile Lösungswege auf diesem Feld finden.
Vorangestellt ist den Artikeln aus den neunziger Jahren im vorliegenden Band ein älterer Text, der zum ersten Mal in Sartres Zeitschrift "Les Temps modernes" erschien. Sein Ausgangspunkt ist eine Begebenheit, die sich an den Weihnachtsfeiertagen des Jahres 1951 in Dijon zugetragen hatte, wo auf dem Vorplatz der Kathedrale mit der Zustimmung des Klerus die Puppe eines Weihnachtsmanns aufgehängt und als paganer Usurpator des Weihnachtsfests verbrannt worden war.
In Lévi-Strauss' Betrachtung bekommen die Kirchenmänner in gewisser Weise recht, denn Paganes steckt im Weihnachtsmann und in seinen Geschenken für die Kinder durchaus. Allerdings nicht in der Form moderner Usurpation, sondern in der eines alten Sinnbestands, der durch die christliche Überformung noch hindurchscheint. Zumindest in der Beleuchtung des Anthropologen, der in den Kindern die Stellvertreter der Toten erkennt, die es mit Geschenken zu beschwichtigen galt. Es zeigt sich dann, ganz kurz gefasst, der Halloween-Anteil des Weihnachtsmanns. Womit dieser Band also nicht nur leichte Wege zu einem großen Autor bietet, sondern auf seine Weise auch zu den Weihnachtsfeiertagen passt.
HELMUT MAYER
Claude Lévi-Strauss: "Wir sind alle Kannibalen". Mit dem Essay "Der gemarterte Weihnachtsmann". Vorwort von Maurice Olender. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 249 S., geb., 26,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main