Auf dem luxuriösen Ozeandampfer Virginian, der um 1900 zwischen der Alten und Neuen Welt unterwegs ist, wird ein ausgesetztes Baby gefunden. Die Matrosen geben ihm den Namen Novecento, Neunzehnhundert. Noch ahnt niemand, dass Novecento ein begnadeter Pianist werden und Zeit seines Lebens nicht mehr von Bord gehen wird. Eine anrührende Geschichte um Musik, Leidenschaft und die Macht der Freundschaft.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.07.1999Japanschirmchen im Cocktail
Aus der Traumfabrik: Alessandro Bariccos "Novecento"
Die Erfindung war überfällig, obwohl, wie bei jedem wirklichen Erfolg, viele beanspruchen werden, die entscheidende Vorarbeit geleistet zu haben. Während sich das Publikum vielfach noch mit "dem Buch zum Film" oder dem "Film zum Buch" beschäftigt, ist jetzt "das Buch als Film" da. Die Vorteile liegen auf der Hand. Um aus einem Roman ein Drehbuch zu machen, bedurfte es oft größerer Eingriffe. Häufig blieb nach einer Verfilmung von dem betroffenen Buch nicht viel übrig. Die Faustregel: "Schlechtes Buch - guter Film; gutes Buch - schlechter Film" gab der Erfahrung Ausdruck, daß es in geglückten Werken der Literatur manchmal Passagen gibt, die sich der Verfilmung entziehen. Das kann sehr ärgerlich sein. Erst wenn die Nichtleser sich im Kino einem Roman zuwenden, beginnt für Autor und Verlag das Geschäft.
Es wurde allmählich Zeit, daß die Schriftsteller bei der Verfertigung ihrer Produkte deren effizienteste Ausbeutung einkalkulierten. Und das ist längst auch schon geschehen. Die Autoren mußten dabei gar nicht einmal allzu geplant vorgehen. Die Zeitstimmung half ihnen. Wir alle stecken bis über beide Ohren in der Kino-Ästhetik. Unser Leben ist ein Film. Wenn wir todunglücklich und wenn wir überglücklich sind, sprechen wir Film-Dialoge. Unsere Urlaubsphotos berücksichtigen die neuesten Filmeinstellungen. Mit den Stöpseln im Ohr traben wir durch den Park, von Filmmusik zu bedeutungsvollem Dasein erhoben, denn gerade die Musikumrauschtheit jeder Lebensstunde schafft die Kino-Wirklichkeit. Wenn wir einen poetisch schönen oder grausigen Ort betreten, rufen wir aus: "Hier müßte man einen Film drehen!"
Wie aber wird dem Leser - auch Filmproduzenten sind gelegentliche Leser! - suggeriert, gerade dieser Stoff könne Film werden? Alessandro Baricco, geboren 1958 in Turin, der mit größtem Erfolg eine Literatursendung im italienischen Fernsehen leitet und eine Privatschule für kreatives Schreiben gegründet hat, geht diese Frage wie ein guter Lehrer an, der Prinzipien nicht nur verkündet, sondern auch ihre Anwendung demonstriert. Er hat Bücher geschrieben, die den Unterschied, der bisher zwischen literarischer Prosa und Drehbüchern klaffte, überwunden haben.
Bariccos Werke enthalten nichts, was durch Verfilmung nicht noch schöner werden könnte. Der erfahrene Filmseher folgt der Erzählung, indem er die durch sie hervorgerufenen Filmbilder vor sich sieht. Es sind Bilder aus vielen Filmen; wunderschöne Photographien aus "National Geographic" mit Nebelschleiern, Blaustich und Vogelschwärmen; Dialoge von jener sanften Irrationalität und Abgebrochenheit, wie wir sie längst als Abzeichen lyrischer Lebensweisheit lesen gelernt haben. Daß diese Erzählungen "Film" sind, und nicht ein ganz bestimmter Film mit einer ganz bestimmten Handschrift, macht sie allen Herzen zugänglich, die von der Faszination durch das Kino im ganzen, nicht durch einzelne gelungene Filme, gefesselt sind. Wenn Bariccos Figuren ihre wortkargen Sätze sprechen, halten sie oft inne. "Pause", schreibt Baricco dann. Der Leser weiß längst, daß "Pause" hier einen Höhepunkt des zu erwartenden Films bezeichnet: die Großaufnahme des Gesichts, die Ausstellung seines stillen seelischen Kampfes, der bezwingende Blick der Augen unter schweren Lidern, das Beben der Nüstern, das Quellen der Glyzerin-Träne. Und dann der schmeichelnde Einsatz einer anschwellenden Musik, die nicht abbricht, wenn nun weitergesprochen wird, sondern einen Teppich aus Samt und Leidenschaft unter die wenigen nackten Worte breitet. Das ist Bariccos Leistung - nicht einfach Erzählungen in Drehbuchform geschrieben zu haben, sondern das Gefühl zu vermitteln, der gesamte Film sei bereits fix und fertig.
Bariccos Thema ist das Traumthema unserer Jahre, das Reisen. Nicht das von der Tourismusindustrie organisierte Reisen selbstverständlich, sondern das geheimnisvolle Reisen der Vergangenheit, das den Sehnsuchtskern der modernen Reisewut bildet. Ein Ozeandampfer zwischen Fellini und Titanic, eine Japan-Expedition zwischen Marco Polo und Pierre Loti bilden den erlesenen Rahmen für philosophische Schicksale voll Vergeblichkeitsschmelz. "Wenn du Trompete spielst, bist du auf dem Meer ein Fremder und wirst es immer bleiben." Wenn solch ein Satz gut gebracht wird, dann müßte eine leise Welle des Einatmens durch das dunkle Kino schwappen.
So ist das eben im Kino: was geschrieben nicht immer unbedingt geht, reicht noch aus, um einen "künstlerischen Film" zu tragen. Nicht der Film als Kunstwerk ist gemeint, sondern die kulinarisch photographierten, langsamen und doch so kurzweiligen Bilderfolgen, die groß und klein sofort als "künstlerisch" erkennt. "Das Land ist ein Schiff, das zu groß ist für mich." Danach fliegt das Schiff durch eine Dynamitladung in die Luft - und dennoch wird "Novecento", wenn es, von Giuseppe Tornatore gedreht, demnächst ins Kino kommt, ein "leiser Film" genannt werden. Ein exotisches Szenario steht dem nicht unbedingt entgegen, solange es nicht reißerisch, sondern gleichsam narkotisiert dargeboten wird.
Auf engstem Raum das Gefühl von Zeitlosigkeit vermitteln - das gelingt durch die Beschreibung absurder kleiner Riten, durch leicht abgewandelte, tranceartige Wiederholungen und durch sehr knappe Schnitte; kaum ein Kapitel ist länger als vierzig Zeilen. Die Lektüre dauert genauso lang, wie der Film dauern wird: neunzig Minuten. Diese Geschichte vom auf dem Ozeandampfer geborenen Pianisten, der niemals das Festland betreten hat ("Novecento"), und die vorangegangene vom Seidenraupeneinkäufer, der sich in Japan in die weiße Konkubine eines Samurai verliebt ("Seide"), besitzen die Phantasie eines Begrüßungscocktails, der der Reisegruppe bei der Ankunft im Hotel gereicht wird; manchmal stecken kleine Japanschirmchen im Glas. Der Abend wird dann noch weitergehen, beduselt hören die Ankömmlinge das Meeresrauschen. Und wenn sie später die Urlaubsphotos zeigen, werden sie mit Baricco von der Ferne sprechen.
"Wie ist Afrika?" fragten sie ihn. - "Müde." Wer hinter diesen Worten die Musik nicht hört, muß taub geboren sein.
MARTIN MOSEBACH
Alessandro Baricco: "Novecento. Die Legende vom Ozeanpianisten". Aus dem Italienischen übersetzt von Karin Krieger. Piper Verlag, München 1999. 80 S., geb., 24,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aus der Traumfabrik: Alessandro Bariccos "Novecento"
Die Erfindung war überfällig, obwohl, wie bei jedem wirklichen Erfolg, viele beanspruchen werden, die entscheidende Vorarbeit geleistet zu haben. Während sich das Publikum vielfach noch mit "dem Buch zum Film" oder dem "Film zum Buch" beschäftigt, ist jetzt "das Buch als Film" da. Die Vorteile liegen auf der Hand. Um aus einem Roman ein Drehbuch zu machen, bedurfte es oft größerer Eingriffe. Häufig blieb nach einer Verfilmung von dem betroffenen Buch nicht viel übrig. Die Faustregel: "Schlechtes Buch - guter Film; gutes Buch - schlechter Film" gab der Erfahrung Ausdruck, daß es in geglückten Werken der Literatur manchmal Passagen gibt, die sich der Verfilmung entziehen. Das kann sehr ärgerlich sein. Erst wenn die Nichtleser sich im Kino einem Roman zuwenden, beginnt für Autor und Verlag das Geschäft.
Es wurde allmählich Zeit, daß die Schriftsteller bei der Verfertigung ihrer Produkte deren effizienteste Ausbeutung einkalkulierten. Und das ist längst auch schon geschehen. Die Autoren mußten dabei gar nicht einmal allzu geplant vorgehen. Die Zeitstimmung half ihnen. Wir alle stecken bis über beide Ohren in der Kino-Ästhetik. Unser Leben ist ein Film. Wenn wir todunglücklich und wenn wir überglücklich sind, sprechen wir Film-Dialoge. Unsere Urlaubsphotos berücksichtigen die neuesten Filmeinstellungen. Mit den Stöpseln im Ohr traben wir durch den Park, von Filmmusik zu bedeutungsvollem Dasein erhoben, denn gerade die Musikumrauschtheit jeder Lebensstunde schafft die Kino-Wirklichkeit. Wenn wir einen poetisch schönen oder grausigen Ort betreten, rufen wir aus: "Hier müßte man einen Film drehen!"
Wie aber wird dem Leser - auch Filmproduzenten sind gelegentliche Leser! - suggeriert, gerade dieser Stoff könne Film werden? Alessandro Baricco, geboren 1958 in Turin, der mit größtem Erfolg eine Literatursendung im italienischen Fernsehen leitet und eine Privatschule für kreatives Schreiben gegründet hat, geht diese Frage wie ein guter Lehrer an, der Prinzipien nicht nur verkündet, sondern auch ihre Anwendung demonstriert. Er hat Bücher geschrieben, die den Unterschied, der bisher zwischen literarischer Prosa und Drehbüchern klaffte, überwunden haben.
Bariccos Werke enthalten nichts, was durch Verfilmung nicht noch schöner werden könnte. Der erfahrene Filmseher folgt der Erzählung, indem er die durch sie hervorgerufenen Filmbilder vor sich sieht. Es sind Bilder aus vielen Filmen; wunderschöne Photographien aus "National Geographic" mit Nebelschleiern, Blaustich und Vogelschwärmen; Dialoge von jener sanften Irrationalität und Abgebrochenheit, wie wir sie längst als Abzeichen lyrischer Lebensweisheit lesen gelernt haben. Daß diese Erzählungen "Film" sind, und nicht ein ganz bestimmter Film mit einer ganz bestimmten Handschrift, macht sie allen Herzen zugänglich, die von der Faszination durch das Kino im ganzen, nicht durch einzelne gelungene Filme, gefesselt sind. Wenn Bariccos Figuren ihre wortkargen Sätze sprechen, halten sie oft inne. "Pause", schreibt Baricco dann. Der Leser weiß längst, daß "Pause" hier einen Höhepunkt des zu erwartenden Films bezeichnet: die Großaufnahme des Gesichts, die Ausstellung seines stillen seelischen Kampfes, der bezwingende Blick der Augen unter schweren Lidern, das Beben der Nüstern, das Quellen der Glyzerin-Träne. Und dann der schmeichelnde Einsatz einer anschwellenden Musik, die nicht abbricht, wenn nun weitergesprochen wird, sondern einen Teppich aus Samt und Leidenschaft unter die wenigen nackten Worte breitet. Das ist Bariccos Leistung - nicht einfach Erzählungen in Drehbuchform geschrieben zu haben, sondern das Gefühl zu vermitteln, der gesamte Film sei bereits fix und fertig.
Bariccos Thema ist das Traumthema unserer Jahre, das Reisen. Nicht das von der Tourismusindustrie organisierte Reisen selbstverständlich, sondern das geheimnisvolle Reisen der Vergangenheit, das den Sehnsuchtskern der modernen Reisewut bildet. Ein Ozeandampfer zwischen Fellini und Titanic, eine Japan-Expedition zwischen Marco Polo und Pierre Loti bilden den erlesenen Rahmen für philosophische Schicksale voll Vergeblichkeitsschmelz. "Wenn du Trompete spielst, bist du auf dem Meer ein Fremder und wirst es immer bleiben." Wenn solch ein Satz gut gebracht wird, dann müßte eine leise Welle des Einatmens durch das dunkle Kino schwappen.
So ist das eben im Kino: was geschrieben nicht immer unbedingt geht, reicht noch aus, um einen "künstlerischen Film" zu tragen. Nicht der Film als Kunstwerk ist gemeint, sondern die kulinarisch photographierten, langsamen und doch so kurzweiligen Bilderfolgen, die groß und klein sofort als "künstlerisch" erkennt. "Das Land ist ein Schiff, das zu groß ist für mich." Danach fliegt das Schiff durch eine Dynamitladung in die Luft - und dennoch wird "Novecento", wenn es, von Giuseppe Tornatore gedreht, demnächst ins Kino kommt, ein "leiser Film" genannt werden. Ein exotisches Szenario steht dem nicht unbedingt entgegen, solange es nicht reißerisch, sondern gleichsam narkotisiert dargeboten wird.
Auf engstem Raum das Gefühl von Zeitlosigkeit vermitteln - das gelingt durch die Beschreibung absurder kleiner Riten, durch leicht abgewandelte, tranceartige Wiederholungen und durch sehr knappe Schnitte; kaum ein Kapitel ist länger als vierzig Zeilen. Die Lektüre dauert genauso lang, wie der Film dauern wird: neunzig Minuten. Diese Geschichte vom auf dem Ozeandampfer geborenen Pianisten, der niemals das Festland betreten hat ("Novecento"), und die vorangegangene vom Seidenraupeneinkäufer, der sich in Japan in die weiße Konkubine eines Samurai verliebt ("Seide"), besitzen die Phantasie eines Begrüßungscocktails, der der Reisegruppe bei der Ankunft im Hotel gereicht wird; manchmal stecken kleine Japanschirmchen im Glas. Der Abend wird dann noch weitergehen, beduselt hören die Ankömmlinge das Meeresrauschen. Und wenn sie später die Urlaubsphotos zeigen, werden sie mit Baricco von der Ferne sprechen.
"Wie ist Afrika?" fragten sie ihn. - "Müde." Wer hinter diesen Worten die Musik nicht hört, muß taub geboren sein.
MARTIN MOSEBACH
Alessandro Baricco: "Novecento. Die Legende vom Ozeanpianisten". Aus dem Italienischen übersetzt von Karin Krieger. Piper Verlag, München 1999. 80 S., geb., 24,- DM.
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»Ob zu Wasser oder zu Land - man wähnt sich mittendrin.« Hamburger Abendblatt 20160318