Produktdetails
- Verlag: Suhrkamp
- ISBN-13: 9783518406366
- ISBN-10: 3518406361
- Artikelnr.: 24003757
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.04.1995Die Pracht der Nacht
Thomas Hettche läuft durch Berlin / Von Harald Jähner
Einer der schönsten Sätze des Romans findet sich auf der elften Seite: "Als ich starb, wechselte ein Hund über die Grenze." Schlicht und sinnig und alles andere als schlußendlich.
Daß es immer schwieriger wird, "Ich" sagen zu können, wissen wir spätestens seit Freud - daß es trotz allem notwendig ist, lehrt das Leben in schmerzhaften Lektionen täglich aufs neue. Das "Ich" ist ein grammatikalisch unvermeidbares Konstrukt, vom einfachsten Satzgefüge dem Dummen, der nicht weiß, wer er ist, genauso abgenötigt wie dem Zweifler, der nicht weiß, was er will. Und seit Thomas Hettche auch den Toten. Das Ich nur als Resultat des Sprechens zu sehen, als Anhängsel des Textes statt als Subjekt der Geschichte gehört zum weltanschaulichen Fundus der Postmoderne. Auch Thomas Hettche, der soeben seinen zweiten Roman vorlegt, hat sich intensiv mit der Bezweiflung des Subjekts befaßt.
In seinem 1992 erschienenen Prosaband "Inkubation" versammelte er Erzählungen, die wie ein generatives System die eigentliche Geschichte erst produzieren - fernab vom Erzähler und souverän kokettierend mit den Grenzen der Erzählbarkeit der Welt. Jetzt läßt er - umgekehrt - das Ich auch dann noch erzählen, wenn es längst tot ist.
Was sich wie eine Metapher auf das Ende des Subjekts liest, ist in Hettches Roman "Nox" blutiger Ernst geworden: Ein junger Schriftsteller wird ermordet, erzählt aber ungerührt weiter, während sein Körper allmählich in Verwesung übergeht. Die "Ich-Form" triumphiert über das leibliche Ende, über des Körpers Wohl und Wehe, über die Realität, indem es sie ins Auge faßt. Denn ignoriert wird des Körpers Geschichte beileibe nicht, im Gegenteil: Die genaue Notierung der körperlichen Veränderungen vom finalen Kollabieren über das Absinken der Körpertemperatur, die Verfärbungen verschiedener Hautpartien, das Eintrocknen der Augäpfel bis zur Aufnahme der ersten Fliegen - das hat medizinisch-literarische Raffinesse und straft den Aberglauben Lügen, der da annimmt, mit dem Tode sei das Ende erreicht. Mitnichten, nur merkt man normalerweise nichts mehr davon, es sei denn, man ist Schriftsteller und ahnt, welches Monstrum die Sprache mit dem "Ich" zur Verfügung stellt.
Man schreibt den 9. November 1989 in Berlin. Der junge Dichter ist nach einer Lesung umgebracht worden. Auch die Täterin ist jung, trägt eine schwarze Lederjacke und läßt sich nach der Tat durch die Stadt treiben. In derselben Nacht fällt die Mauer zwischen Ost- und Westhälfte der Stadt, und in der Logik von Hettches "Nox" birst zugleich die Grenze zwischen Vernunft und Traum, zwischen Leben und Tod. Jener Hund, der die Grenze wechselt, "als ich starb", ein Wachhund, der den Dienst bei den DDR-Grenztruppen quittiert und hinübermacht in den Westen Berlins, hat mythische Statur: ein Zerberus, der den sterbenden Dichter hinabgeleitet in den Hades des sich taumelnd wiedervereinigenden Berlins. Der brave Wachhund heftet sich an die Fersen der rätselhaften Mörderin; an seiner Statt darf er sich der Schlafenden zu Füßen legen und kurz vor dem Einschlafen sehr symbolisch sein bleistiftkurzes Hundeglied lecken. Er folgt ihr durch ein vom Mauerfall wie entzündetes Berlin, durch eine ewige urbane Nacht, die von Verstörten und Enthemmten, von Sadisten und Masochisten, von zwanghaftem Sex und triebhafter Einsamkeit nur so wimmelt.
Überzeugend, zumindest beim ersten Lesen, ist, wie bruchlos Hettche die mythische Struktur in das fast naturalistisch wiedergegebene - wenn auch zu lakonischen Miniaturen verknappte - Berlin implantiert. Aufgesetzt ist da wenig. Ohne großen mystischen Zauber verfällt Berlin seiner Nachtseite, verwandelt sich die geläufige Stadt in Unterwelt. Dazu spielt Hettche virtuos auf der Klaviatur moderner Großstadtliteratur: In sparsamen Anleihen feiert der Expressionismus des düster lasziven Berlin aus der Zeit zwischen den Kriegen seine Rückkehr. Wieder ist die Stadt wie bei Trakl, Heym, Benn, Döblin ein schmerzender Organismus, mal schlafen die "Trabantenstädte", mal "zuckt" die Stadt im Schlaf, bevor sie beginnt, "Worte und Bilder durch den Organismus zu pumpen", mal hebt und senkt sich ihr Atem - nur daß diesmal die schmerzende Mauer dazugekommen ist, einmal als "Rückgrat" der Stadt empfunden, öfter als Narbe, lüstern aufgerissen, indem die Menge mit Hämmern, bloßen Händen und Küchenlöffeln den Beton aus ihr bricht. Dankbar wiederzuerkennen sind gelungene Reminiszenzen an Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz", die in melancholischer Beliebigkeit und eleganten Satzbögen notieren, was an unfaßbarer Vielfalt zugleich in der Stadt geschieht.
Doch so überaus begabt das auch geschrieben ist, so fast genialisch die Konstruktion dieses mehrdeutigen Grenzverlustes auch ist, Hettches Roman läßt immer wieder kalt. Es überfällt den beeindruckten Leser wie eine kalte Dusche der ernüchternde Verdacht: Dreht hier jemand auf der Glatze Locken? Hettches Sprache kann beherzt im Kitsch verunglücken ("Die Dämmerung fraß ihr aus der Hand"), überaus präzis beschreiben ("jenes wie saugende Geräusch, mit dem sich die Reifen so schwerfällig vom Straßenbelag lösen") und von einer schlicht aufblitzenden Schönheit sein, die das Umblättern so mancher Seite zum schweren Abschied macht. Denn ein Wälzer ist Hettches "Nox" ja nicht gerade: Die Nacht ist knapp kalkuliert wie ein Werbetext. Fast jede Metapher sitzt wie die Einstellung eines Hollywood-Films, geschnitten, als spekuliere man an der Börse: Ein falscher Satz, und die Erregung des Lesers wäre verspielt. Alles wirkt, als hätte man es irgendwo schon einmal gelesen, nur daß es hier so wenig Platz verbraucht, zusammengeschnurrt auf die äußerste Ökonomie des Effekts: "Der Abend tropfte aus den nassen, schweren Vorhängen." Kürzer kann man nicht ausdrücken, daß der Tag zu Ende geht, es geregnet hat und aus einer Vielzahl von Gründen die Lage so verfahren ist, daß nur noch die Zeit Subjekt des Geschehens ist. So ist fast der gesamte Roman: Um eine Fülle von Aha-Sätzen herumgerafft, stolzierend von Pointe zu Pointe, ist er eher designed als geschrieben. Thomas Hettche beschreibt nicht, er bringt auf den Punkt.
Soviel zeitgemäße Virtuosität wirkt auf Dauer hohl. Man wird das Gefühl nicht los, das innere Kriterium jeder stilistischen Wendung sei weniger im Interesse des Autors für sein Material begründet als vor allem in der Spekulation auf den thrill im Herzen des Lesers. Stilistisch ist Hettche fast immer auf der Höhe der Klimax. Intensität schlägt aber unversehens in Leere um, sobald das formelle Faszinosum vom Gehalt im Stich gelassen wird - ein postmodernes Debakel. Spätestens, wenn zum dritten Mal ein Mensch einer allerbeiläufigsten Empfindung "nachspürt", wird klar: Hier wird mehr Sinnlichkeit verbraucht, als jedes Leben nachliefern kann. Der Ehrgeiz, aus der Sprache an Frappierendem herauszupressen, was die literarische Technik nur hergibt, erinnert an jene 90-Millionen-Dollar-Filme, die jede Geschichte bis zur Unkenntlichkeit zum Trägermaterial von special effects reduzieren.
Doch manieristisch ist Hettches spekulativer Stil nicht, denn er hat im angestrengten Ringen seiner Figuren um Empfindung sein inhaltliches Pendant. Das Personal dieses nächtlichen Berlin irrt schlafwandelnden Schritts durch die Stadt, von einer Gier ohne Ziel getrieben, mit dem stumpfen Blick von Voyeuren, die nichts erblicken, was sie noch fesseln könnte. Fast alle sind sie Sadisten oder Masochisten, ausgeliefert an eine lüsterne Spirale, die immer rascher gegen den Schmerz abstumpft, den zu verspüren sie dringend benötigt. "Tu mir weh", bettelt gleich zu Beginn das Mädchen mit der Lederjacke den jungen Dichter nach seiner Lesung an - Ouvertüre zu einer Odyssee durch die Metropole gehemmter Lüstlinge, die ziemlich genau dem status sexualis der deutschen Hauptstadt entspricht. Hier hat die Sado-Maso-Welle die künstlerisch-intellektuelle Elite am nachhaltigsten erfaßt. Rund achtzig private Kleinanzeigen zur "Harten Welle" veröffentlicht die kulturorientierte Stadtillustrierte "Zitty" alle vierzehn Tage - ein Element aus deren typischem Repertoire ist in die Haut einer Hauptfigur aus "Nox" eingebrannt: "Ich lasse in meinen Mund scheißen und pissen. Schlagt mich hart." Was hier zuschlägt, ist purer Zeitgeist: Das Theorem vom in den Körper eingeschriebenen Text aus der poststrukturalistischen Psychologie wird hier zum modischen Accessoire einer bisweilen geradezu unangenehm trendigen Geschichte.
Damit wird die Glaubwürdigkeitskrise endgültig: Je ausschweifender das Personal dieser Nacht sich Schmerzen zufügt, um so hölzerner und unglaubwürdiger werden ihre Charaktere. Dem schicken Spiel mit Sodomie und Bondage entspricht die sprachliche Fesselungskunst, mit der Hettche den Leser dennoch zu bannen versteht. Nicht wenige Sätze darin gleichen dem Repertoire einer bezaubernden Domina, die nur eines will: den dumpfen, wohlig angstvollen, himmlischen Angstschmerz in der Magengrube, für die der Freier dreihundert Mark zahlt, während der Leser mit einem Zehntel davonkommt. Und wie bei einer echten Domina liegt auch in Hettches Roman inszenatorischer Ernst und erotisches Kasperlespiel lächerlich eng beieinander, verschränken sich Schönheit, Kitsch und Grimasse. Führt die bezahlte Herrin jede Szene auf, die das Opfer sich wünscht, so kolportiert der Dichter gleich etliche Mythen von der Grenze zwischen Tag und Nacht, Tod und Leben.
Für die Auflösung, die hier nicht verraten werden soll, sorgt am Ende wieder der Hund. Drollig fast hebt er zu sprechen an: "Wir alle drei, sagte er, du und ich und sie, gehören zu einer Geschichte. Zu einer alten Geschichte, die sich wieder ereignet." Fertigmachen zum Happy-End!
Thomas Hettche: "Nox". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1995. 160 S., geb., 32,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Thomas Hettche läuft durch Berlin / Von Harald Jähner
Einer der schönsten Sätze des Romans findet sich auf der elften Seite: "Als ich starb, wechselte ein Hund über die Grenze." Schlicht und sinnig und alles andere als schlußendlich.
Daß es immer schwieriger wird, "Ich" sagen zu können, wissen wir spätestens seit Freud - daß es trotz allem notwendig ist, lehrt das Leben in schmerzhaften Lektionen täglich aufs neue. Das "Ich" ist ein grammatikalisch unvermeidbares Konstrukt, vom einfachsten Satzgefüge dem Dummen, der nicht weiß, wer er ist, genauso abgenötigt wie dem Zweifler, der nicht weiß, was er will. Und seit Thomas Hettche auch den Toten. Das Ich nur als Resultat des Sprechens zu sehen, als Anhängsel des Textes statt als Subjekt der Geschichte gehört zum weltanschaulichen Fundus der Postmoderne. Auch Thomas Hettche, der soeben seinen zweiten Roman vorlegt, hat sich intensiv mit der Bezweiflung des Subjekts befaßt.
In seinem 1992 erschienenen Prosaband "Inkubation" versammelte er Erzählungen, die wie ein generatives System die eigentliche Geschichte erst produzieren - fernab vom Erzähler und souverän kokettierend mit den Grenzen der Erzählbarkeit der Welt. Jetzt läßt er - umgekehrt - das Ich auch dann noch erzählen, wenn es längst tot ist.
Was sich wie eine Metapher auf das Ende des Subjekts liest, ist in Hettches Roman "Nox" blutiger Ernst geworden: Ein junger Schriftsteller wird ermordet, erzählt aber ungerührt weiter, während sein Körper allmählich in Verwesung übergeht. Die "Ich-Form" triumphiert über das leibliche Ende, über des Körpers Wohl und Wehe, über die Realität, indem es sie ins Auge faßt. Denn ignoriert wird des Körpers Geschichte beileibe nicht, im Gegenteil: Die genaue Notierung der körperlichen Veränderungen vom finalen Kollabieren über das Absinken der Körpertemperatur, die Verfärbungen verschiedener Hautpartien, das Eintrocknen der Augäpfel bis zur Aufnahme der ersten Fliegen - das hat medizinisch-literarische Raffinesse und straft den Aberglauben Lügen, der da annimmt, mit dem Tode sei das Ende erreicht. Mitnichten, nur merkt man normalerweise nichts mehr davon, es sei denn, man ist Schriftsteller und ahnt, welches Monstrum die Sprache mit dem "Ich" zur Verfügung stellt.
Man schreibt den 9. November 1989 in Berlin. Der junge Dichter ist nach einer Lesung umgebracht worden. Auch die Täterin ist jung, trägt eine schwarze Lederjacke und läßt sich nach der Tat durch die Stadt treiben. In derselben Nacht fällt die Mauer zwischen Ost- und Westhälfte der Stadt, und in der Logik von Hettches "Nox" birst zugleich die Grenze zwischen Vernunft und Traum, zwischen Leben und Tod. Jener Hund, der die Grenze wechselt, "als ich starb", ein Wachhund, der den Dienst bei den DDR-Grenztruppen quittiert und hinübermacht in den Westen Berlins, hat mythische Statur: ein Zerberus, der den sterbenden Dichter hinabgeleitet in den Hades des sich taumelnd wiedervereinigenden Berlins. Der brave Wachhund heftet sich an die Fersen der rätselhaften Mörderin; an seiner Statt darf er sich der Schlafenden zu Füßen legen und kurz vor dem Einschlafen sehr symbolisch sein bleistiftkurzes Hundeglied lecken. Er folgt ihr durch ein vom Mauerfall wie entzündetes Berlin, durch eine ewige urbane Nacht, die von Verstörten und Enthemmten, von Sadisten und Masochisten, von zwanghaftem Sex und triebhafter Einsamkeit nur so wimmelt.
Überzeugend, zumindest beim ersten Lesen, ist, wie bruchlos Hettche die mythische Struktur in das fast naturalistisch wiedergegebene - wenn auch zu lakonischen Miniaturen verknappte - Berlin implantiert. Aufgesetzt ist da wenig. Ohne großen mystischen Zauber verfällt Berlin seiner Nachtseite, verwandelt sich die geläufige Stadt in Unterwelt. Dazu spielt Hettche virtuos auf der Klaviatur moderner Großstadtliteratur: In sparsamen Anleihen feiert der Expressionismus des düster lasziven Berlin aus der Zeit zwischen den Kriegen seine Rückkehr. Wieder ist die Stadt wie bei Trakl, Heym, Benn, Döblin ein schmerzender Organismus, mal schlafen die "Trabantenstädte", mal "zuckt" die Stadt im Schlaf, bevor sie beginnt, "Worte und Bilder durch den Organismus zu pumpen", mal hebt und senkt sich ihr Atem - nur daß diesmal die schmerzende Mauer dazugekommen ist, einmal als "Rückgrat" der Stadt empfunden, öfter als Narbe, lüstern aufgerissen, indem die Menge mit Hämmern, bloßen Händen und Küchenlöffeln den Beton aus ihr bricht. Dankbar wiederzuerkennen sind gelungene Reminiszenzen an Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz", die in melancholischer Beliebigkeit und eleganten Satzbögen notieren, was an unfaßbarer Vielfalt zugleich in der Stadt geschieht.
Doch so überaus begabt das auch geschrieben ist, so fast genialisch die Konstruktion dieses mehrdeutigen Grenzverlustes auch ist, Hettches Roman läßt immer wieder kalt. Es überfällt den beeindruckten Leser wie eine kalte Dusche der ernüchternde Verdacht: Dreht hier jemand auf der Glatze Locken? Hettches Sprache kann beherzt im Kitsch verunglücken ("Die Dämmerung fraß ihr aus der Hand"), überaus präzis beschreiben ("jenes wie saugende Geräusch, mit dem sich die Reifen so schwerfällig vom Straßenbelag lösen") und von einer schlicht aufblitzenden Schönheit sein, die das Umblättern so mancher Seite zum schweren Abschied macht. Denn ein Wälzer ist Hettches "Nox" ja nicht gerade: Die Nacht ist knapp kalkuliert wie ein Werbetext. Fast jede Metapher sitzt wie die Einstellung eines Hollywood-Films, geschnitten, als spekuliere man an der Börse: Ein falscher Satz, und die Erregung des Lesers wäre verspielt. Alles wirkt, als hätte man es irgendwo schon einmal gelesen, nur daß es hier so wenig Platz verbraucht, zusammengeschnurrt auf die äußerste Ökonomie des Effekts: "Der Abend tropfte aus den nassen, schweren Vorhängen." Kürzer kann man nicht ausdrücken, daß der Tag zu Ende geht, es geregnet hat und aus einer Vielzahl von Gründen die Lage so verfahren ist, daß nur noch die Zeit Subjekt des Geschehens ist. So ist fast der gesamte Roman: Um eine Fülle von Aha-Sätzen herumgerafft, stolzierend von Pointe zu Pointe, ist er eher designed als geschrieben. Thomas Hettche beschreibt nicht, er bringt auf den Punkt.
Soviel zeitgemäße Virtuosität wirkt auf Dauer hohl. Man wird das Gefühl nicht los, das innere Kriterium jeder stilistischen Wendung sei weniger im Interesse des Autors für sein Material begründet als vor allem in der Spekulation auf den thrill im Herzen des Lesers. Stilistisch ist Hettche fast immer auf der Höhe der Klimax. Intensität schlägt aber unversehens in Leere um, sobald das formelle Faszinosum vom Gehalt im Stich gelassen wird - ein postmodernes Debakel. Spätestens, wenn zum dritten Mal ein Mensch einer allerbeiläufigsten Empfindung "nachspürt", wird klar: Hier wird mehr Sinnlichkeit verbraucht, als jedes Leben nachliefern kann. Der Ehrgeiz, aus der Sprache an Frappierendem herauszupressen, was die literarische Technik nur hergibt, erinnert an jene 90-Millionen-Dollar-Filme, die jede Geschichte bis zur Unkenntlichkeit zum Trägermaterial von special effects reduzieren.
Doch manieristisch ist Hettches spekulativer Stil nicht, denn er hat im angestrengten Ringen seiner Figuren um Empfindung sein inhaltliches Pendant. Das Personal dieses nächtlichen Berlin irrt schlafwandelnden Schritts durch die Stadt, von einer Gier ohne Ziel getrieben, mit dem stumpfen Blick von Voyeuren, die nichts erblicken, was sie noch fesseln könnte. Fast alle sind sie Sadisten oder Masochisten, ausgeliefert an eine lüsterne Spirale, die immer rascher gegen den Schmerz abstumpft, den zu verspüren sie dringend benötigt. "Tu mir weh", bettelt gleich zu Beginn das Mädchen mit der Lederjacke den jungen Dichter nach seiner Lesung an - Ouvertüre zu einer Odyssee durch die Metropole gehemmter Lüstlinge, die ziemlich genau dem status sexualis der deutschen Hauptstadt entspricht. Hier hat die Sado-Maso-Welle die künstlerisch-intellektuelle Elite am nachhaltigsten erfaßt. Rund achtzig private Kleinanzeigen zur "Harten Welle" veröffentlicht die kulturorientierte Stadtillustrierte "Zitty" alle vierzehn Tage - ein Element aus deren typischem Repertoire ist in die Haut einer Hauptfigur aus "Nox" eingebrannt: "Ich lasse in meinen Mund scheißen und pissen. Schlagt mich hart." Was hier zuschlägt, ist purer Zeitgeist: Das Theorem vom in den Körper eingeschriebenen Text aus der poststrukturalistischen Psychologie wird hier zum modischen Accessoire einer bisweilen geradezu unangenehm trendigen Geschichte.
Damit wird die Glaubwürdigkeitskrise endgültig: Je ausschweifender das Personal dieser Nacht sich Schmerzen zufügt, um so hölzerner und unglaubwürdiger werden ihre Charaktere. Dem schicken Spiel mit Sodomie und Bondage entspricht die sprachliche Fesselungskunst, mit der Hettche den Leser dennoch zu bannen versteht. Nicht wenige Sätze darin gleichen dem Repertoire einer bezaubernden Domina, die nur eines will: den dumpfen, wohlig angstvollen, himmlischen Angstschmerz in der Magengrube, für die der Freier dreihundert Mark zahlt, während der Leser mit einem Zehntel davonkommt. Und wie bei einer echten Domina liegt auch in Hettches Roman inszenatorischer Ernst und erotisches Kasperlespiel lächerlich eng beieinander, verschränken sich Schönheit, Kitsch und Grimasse. Führt die bezahlte Herrin jede Szene auf, die das Opfer sich wünscht, so kolportiert der Dichter gleich etliche Mythen von der Grenze zwischen Tag und Nacht, Tod und Leben.
Für die Auflösung, die hier nicht verraten werden soll, sorgt am Ende wieder der Hund. Drollig fast hebt er zu sprechen an: "Wir alle drei, sagte er, du und ich und sie, gehören zu einer Geschichte. Zu einer alten Geschichte, die sich wieder ereignet." Fertigmachen zum Happy-End!
Thomas Hettche: "Nox". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1995. 160 S., geb., 32,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Als literarisches Nachspiel zu dem, was man 'Wende' nennt, sucht dieser Text bis heute seinesgleichen." NEUE ZÜRCHER ZEITUNG Ein bizarres Nocturne." FRANKFURTER RUNDSCHAU