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Bis heute gilt die konsequente Verfolgung von NS-Tätern als "gute Seite" des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. Doch hinter der Fassade des antifaschistischen Musterstaats wurde ein sorgsam verhülltes, doppeltes Spiel gespielt: SED und Staatssicherheit prangerten die Bundesrepublik an und lieferten Fälle für Vorzeigeprozesse, aber zugleich stellten sie Ermittlungen gegen NS-Täter hintan, wenn sie dem Image der DDR zuwiderliefen.
Henry Leide analysiert systematisch die Formen dieser Politik: Anwerbungen von früh amnestierten oder nie verurteilten NS-Verbrechern als Informanten und
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Produktbeschreibung
Bis heute gilt die konsequente Verfolgung von NS-Tätern als "gute Seite" des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. Doch hinter der Fassade des antifaschistischen Musterstaats wurde ein sorgsam verhülltes, doppeltes Spiel gespielt: SED und Staatssicherheit prangerten die Bundesrepublik an und lieferten Fälle für Vorzeigeprozesse, aber zugleich stellten sie Ermittlungen gegen NS-Täter hintan, wenn sie dem Image der DDR zuwiderliefen.

Henry Leide analysiert systematisch die Formen dieser Politik: Anwerbungen von früh amnestierten oder nie verurteilten NS-Verbrechern als Informanten und Agenten in Ost und West, mangelhafte Ermittlungen gegen Hunderte belastete DDR-Bürger, vereitelte Strafverfahren gegen angesehene DDR-Ärzte und verweigerte Rechtshilfe für die ausländische Justiz bei gleichzeitiger Monopolisierung vieler Akten durch die Geheimpolizei. In dieser Praxis entpuppt sich der DDR-Antifaschismus als instrumentelles Kampfprogramm in der deutsch-deutschen Systemkonkurrenz.
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Autorenporträt
Henry Leide ist Mitarbeiter in der Außenstelle Rostock der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.02.2006

Eure Nazis - unsre Nazis
Als die DDR ihre Volksgenossen integrierte, blieb mancher Täter unbehelligt

Nach Lothar Biskys viertem Durchfall bei der Wahl zum stellvertretenden Bundestagspräsidenten verglich Gregor Gysi seinen Parteivorsitzenden mit dem Bundeskanzler der ersten großen Koalition. Gysi behauptete, die erste Schwäche Biskys bestehe darin, daß er in seiner Jugend nicht "Mein Kampf" gelesen habe, die zweite darin, daß er nicht in die NSDAP eingetreten sei - und drittens habe er "auch nicht politisch im Goebbels-Ministerium gearbeitet". Hätte er diese drei Voraussetzungen erfüllt wie Kurt-Georg Kiesinger, dann hätten Union und FDP gesagt: Er kann Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland werden und in dieser Eigenschaft ganz Deutschland repräsentieren. Gregor Gysi lag mit diesem Vergleich nicht ganz falsch. Immerhin wurde Kiesinger ebenso wie Bisky die frühere Tätigkeit im Propagandaapparat eines totalitären Systems vorgehalten. Die FDP beschimpfte Gysi zu Unrecht. Sie stimmte 1966 bei der Kanzlerabstimmung als Oppositionspartei gerade nicht für Kiesinger, während CDU/CSU und SPD ihm ihre Stimme gaben. Auch war Kiesinger nie im "Goebbels-Ministerium" beschäftigt, sondern im Auswärtigen Amt. Doch geschulte "DDR-Antifaschisten" wie Gysi rufen auch heute noch bei passender Gelegenheit ihre ganz andere Wahrnehmung der deutschen Geschichte ab. Der Umgang mit historischen Details gestaltet sich dabei um so freier, je mehr das der "guten Sache" dient.

Bisky könne eigentlich nichts anderes vorgeworfen werden, als daß er ein loyaler DDR-Bürger war, sagte Gysi. "Die Ostdeutschen" können von ihren selbsternannten Anwälten, nachdem nun eine von ihnen Bundeskanzlerin geworden ist und sie auch noch den SPD-Vorsitzenden stellen, nicht mehr als geschlossene Truppe ins Feld geführt werden. An die Stelle "der Ostdeutschen" treten jetzt "die loyalen DDR-Bürger". Das entspricht in etwa der Zuschreibung "des guten Deutschen", auf den man sich nach "dem Zusammenbruch" von 1945 zur Rechtfertigung von allerlei Mitläuferei und Mitwisserschaft zurückzog.

Gysis Lamento über Biskys Durchfall verkannte freilich auch die herausragende Rolle ehemaliger Sozialisten und Kommunisten in der Bonner Republik. Zu nennen wären unter anderen Kiesingers Außenminister Willy Brandt, der SPD-Verteidigungsexperte Fritz Erler sowie Herbert Wehner als Architekt der Großen Koalition von 1966. Eine Nähe zum Nationalsozialismus kann diesen Politikern wohl kaum unterstellt werden. Wehner wurde im Kabinett Kiesinger Minister, obwohl bekannt war, daß er 1937 im Moskauer KPD-Politbüro saß. Kaum jemand in Westdeutschland wußte jedoch, daß Wehner seinerzeit der stalinistischen Geheimpolizei eigene Leute ans Messer geliefert hatte. Walter Ulbricht, der in Propagandareden 1966 historisch korrekt von der "Kiesinger/Strauß/Wehner-Regierung" zu sprechen pflegte, kannte diese bittere Wahrheit aus dem ersten Leben Wehners und schwieg als Mittäter wohlweislich darüber.

Zur gleichen Zeit lief die lärmende SED-Kampagne gegen Kiesinger auf vollen Touren. Die "Nazi-Jägerin" Beate Klarsfeld erhielt 1967 von den Hütern der DDR-Archive Belastungsmaterial gegen den Kanzler in Hülle und Fülle. Bei der Stasi lagen zur gleichen Zeit entlastende Informationen auf Eis. Sie stammten von einem "loyalen DDR-Bürger": Karl-Heinz Gerstner, ehemaliger Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Paris, NSDAP-Mitglied und nach dem Ende der NS-Diktatur zunächst Spitzel der sowjetischen und dann der DDR-Geheimpolizei. Er enthüllte 1999, elf Jahre nach Kiesingers Tod, die NS-kritische Haltung Kiesingers.

Gerstner, im bürgerlichen Beruf Chefreporter der "Berliner Zeitung" und Moderator des DDR-Fernsehens, schrieb in seiner Autobiographie über den früheren Repetitor und Duzfreund: "Kiesinger war kein Nazi. Er war überhaupt nicht der Typ. Ihn beherrschten konservative Vorstellungen, liberale und nationale Überzeugungen." Kiesinger habe ihm 1942 anläßlich eines Paris-Besuches seine grundsätzliche Ablehnung Hitlers zur erkennen gegeben und die Frage gestellt, ob sich denn kein mutiger Mann finde, "der diesen Verbrecher über den Haufen schießt".

Henry Leide belegt jetzt in seinem Buch über "NS-Verbrecher und Staatssicherheit", wie das SED-Regime aus "guten Deutschen" der schlimmeren Sorte schließlich "loyale DDR-Bürger" gemacht hat. Lange Zeit galt als sicher, daß in der DDR nationalsozialistische Täter gnadenlos verfolgt und zur Strecke gebracht wurden. Leides Untersuchung bereitet dieser Legende jetzt ein Ende. Eine Fülle von Fallbeispielen verdeutlichen, daß in der DDR nur solche Verbrechen aus der Zeit des "Dritten Reiches" vor die Schranken der Justiz kamen, für die nach Beweislage wenigstens ein Todesurteil oder hohe Haftstrafen ausgesprochen werden konnten.

Viele tausend Vorermittlungen des Staatssicherheitsdienstes gegen Angehörige von SS-Einsatzgruppen, KZ-Bewachungsmannschaften, Polizei-, SD- und Gestapo-Mitarbeitern blieben geheim. Die Ermittlungsergebnisse verschwanden in den Stasi-Archiven. Zwei MfS-Offiziere begründeten das in ihrer juristischen Diplomarbeit: "Bei fehlender Tatschwere und formeller Rechtsanwendung" müßte nicht auch "gegen Bürger der DDR, die einen festen Platz in unserem Staat gefunden haben, wegen geringfügiger Verhaltenswidrigkeiten vorgegangen werden und gegen sie der schwerste staatliche Schuldvorwurf, nämlich die Teilnahme an Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, erhoben werden".

Solche Überlegungen zum Schutze "loyaler DDR-Bürger" und zur Wahrung des Ansehens der DDR führten dazu, daß sogar einstige Angehörige der Polizeibataillone 310 und 311, die während des Zweiten Weltkrieges an Mordaktionen in Polen und der Sowjetunion beteiligt waren, unbehelligt blieben. Die Stasi fand 134 DDR-Bürger, die in diesen Einheiten gedient hatten. Lediglich fünf davon mußten sich vor Gericht verantworten. Noch umsichtiger verfuhr die Stasi gegenüber "verdienten Ärzten des Volkes", die im "Dritten Reich" an Euthanasieverbrechen beteiligt waren. Die Ermittlungen gegen eine verdächtige Ärztin, die es in der DDR zur Dekanin der Medizinischen Fakultät in Jena und zum "Vaterländischen Verdienstorden" gebracht hatte, wurden sang- und klanglos eingestellt. Die Beendigung des mit dem Vorgangsnamen "Ausmerzer" bezeichneten Verfahrens begründete das MfS damit, daß "bei Auswertung ein unseren gesellschaftlichen Verhältnissen widersprechendes Ergebnis erreicht werden" könnte.

Wenn es der Sache diente, nutzte das Ministerium für Staatssicherheit sogar ehemalige Nazis als Inoffizielle Mitarbeiter. Der 1952 in Metz zu zwanzig Jahren Haft verurteilte ehemalige SS-Unterscharführer Alfred Hothorn brachte es nicht nur zum Abteilungsleiter in einer Thüringer Teppichfabrik, er bespitzelte auch als IM "Dr. Schwarz" seine Mitbürger und erhielt dafür zum dreißigsten Jahrestag der Gründung des MfS die "Treuemedaille der NVA" in Gold. Lediglich ein DDR-Bürger wurde für die in Frankreich begangenen Kriegsverbrechen verurteilt. Im Juni 1983 verhängte das Berliner Stadtgericht gegen den ehemaligen SS-Obersturmbannführer Heinz Barth wegen dessen Beteiligung an dem Massaker in Oradour-sur-Glane eine lebenslange Freiheitsstrafe. Lea Rosh und Günther Schwarberg bezeichneten in ihrem 1988 erschienenen Buch über "Die letzten Tage von Oradour" den Ost-Berliner Barth-Prozeß als "vorbildhaft in Vorbereitung, Gründlichkeit, Rechtsstaatlichkeit". Genau das aber war nicht der Fall. Im Zuge der langjährigen Ermittlungen gegen Barth spürte das MfS in der DDR elf ehemalige SS-Männer aus den am Massenmord in Oradour beteiligten Einheiten auf. In Vernehmungen belasteten zwei von ihnen nicht nur Barth, sondern auch sich selbst. Drei als Kriegsverbrecher angeklagte DDR-Bürger paßten indes nicht zu dem Eigenbild, das die SED über "unsere Menschen" pflegte. Die Aussagen der beiden tatbeteiligten ehemaligen SS-Männer wurden deswegen erst gar nicht in die Hauptverhandlung gegen Barth eingeführt.

Leides Arbeit über die Ermittlungsarbeit des Staatssicherheitsdienstes gegen NS-Verbrecher ist seit Joachim Walthers "Sicherungsbereich Literatur" die wohl wichtigste von der Gauck/Birthler-Behörde vorgelegte Untersuchung. Der Autor hat daran viele Jahre intensiv gearbeitet. Im Ergebnis liegt eine Studie vor, die für den Kernbereich des strafrechtlichen Umgangs mit der NS-Vergangenheit die Ambivalenz des DDR-Antifaschismus offenlegt. Millionen "gute Deutsche" lebten beiderseits des Eisernen Vorhangs. Das SED-Regime integrierte die seinen, indem es sie von persönlicher Verantwortung weitgehend freisprach. Die Schuldigen für NS-Verbrechen saßen im Westen, in der DDR lebten nur die Besten. Alles, was dieser Chimäre entgegenstand, verhüllte eine geheimpolizeilich betriebene Geschichtsbegradigung durch stillschweigende Begnadigung zahlreicher NS-Täter.

JOCHEN STAADT

Henry Leide: NS-Verbrecher und Staatssicherheit. Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2005. 448 S., 29,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Überzeugend findet Rezensent Jochen Staadt diese Studie zur Vergangenheitspolitik der DDR und den Umgang des SED-Regimes mit NS-Tätern, die Henry Leide vorgelegt hat. Er bescheinigt Leides Untersuchung, mit dem Mythos aufzuräumen, die DDR habe nationalsozialistische Täter gnadenlos verfolgt und zur Strecke gebracht. Anhand zahlreicher Fallbeispiele belege Leide, dass in der DDR nur ein winziger Bruchteil der Verbrechen aus der Zeit des "Dritten Reiches" vor Gericht kam. Den Verdienst des Autors sieht Staadt auch darin, die Ambivalenz des DDR-Antifaschismus im Umgang mit der NS-Vergangenheit offengelegt zu haben. "Leides Arbeit über die Ermittlungsarbeit des Staatssicherheitsdienstes gegen NS-Verbrecher", resümiert Staadt, sei nach Joachim Walthers "Sicherungsbereich Literatur" die "wohl wichtigste von der Gauck/Birthler-Behörde vorgelegte Untersuchung".

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