Marie termine le défilé de sa collection automne-hiver par une robe de miel habillant un mannequin nu, suivi d'un essaim d'abeilles. Dernier volet de la série composée de Faire l'amour, Fuir et de La vérité sur Marie.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.10.2014Die Verlockung
Als könnte man nackt auf der Oberfläche der Welt entlangspazieren - eine Liebeserklärung an den Schriftsteller Jean-Philippe Toussaint
Ich habe nie versucht, einen Roman zu schreiben, und habe es auch nicht vor. Und doch habe ich eine genaue Vorstellung davon, wie die Romane klingen müssten, die ich nicht schreiben werde. Nehmen wir an, ich hätte alles Talent der Welt. Dann müssten meine Bücher gar nicht unbedingt so sein wie die von Flaubert, Dostojewskij oder Kafka, obwohl ich alle drei natürlich sehr verehre. Ich würde sie auch nicht so schreiben wollen wie Marguerite Duras, deren Erzählung "Der Schmerz" zum Besten gehört, was ich je gelesen habe. Ich würde gerne so schreiben können wie Jean-Philippe Toussaint. Jedes Mal denke ich das, wenn ich ein Buch von ihm lese, dem belgischen Schriftsteller, der in Paris ein Star ist, den hier aber immer noch zu wenige kennen. Auch jetzt dachte ich das wieder, als ich "Nackt" las, seinen neuesten Roman, und dabei feststellte, wie ich (seine Bücher sind nie lang, meistens 150, höchstens mal 180 Seiten) gegen Ende immer langsamer wurde, weil ich nicht wollte, dass es aufhörte. Ist man einmal drin im Toussaint-Universum, möchte man nicht mehr raus.
Vor zehn Jahren sagte meine Freundin Alexa: "Du musst ,Faire l'amour' lesen, ,Sich lieben', von Jean-Philippe Toussaint!" Ich ging in eine Buchhandlung, dann ins Café und aus dem Café nicht wieder hinaus, bevor ich diesen Roman durch hatte, der mich an Sofia Coppolas Film "Lost in Translation" erinnerte: Ein Luxushotel in Tokio, ein Mann, eine Frau, schlaflos, die, wie Scarlett Johansson und Bill Murray, nachts durch die Straßen taumelten, einsam zu zweit. Die atmosphärischen Ähnlichkeiten waren sogar so groß, dass man vermuten konnte, beide hätten voneinander gewusst; oder dass zumindest Sofia Coppola Toussaints Roman schon gekannt hatte, als sie ihr Drehbuch schrieb. Nur dass die Stimmung, die sich in "Lost in Translation" auch der Musik verdankt, in "Sich lieben" etwas ironischer, die einer schnurrenden, surrenden und klingelnden Dingwelt ist: Ein Fax aus Europa kommt mitten in der Nacht in Tokio an und stört die Sich-nicht-mehr-Liebenden beim Sex. Ein Klicken, eine Nachricht auf dem plötzlich marineblau leuchtenden Fernsehbildschirm: "Please contact the central desk", danach geht nichts mehr im Bett. Bei Jean-Philippe Toussaint sind es Faxgeräte, Telefone und Kurznachrichten, welche die Regie übernehmen.
Mit der Modeschöpferin Marie, Erfinderin der Marke "Allons-y Allons-o", und dem Ich-Erzähler beginnt in Tokio eine Geschichte, die Toussaint immer weitergesponnen hat. "Es braucht Zeit, um den Menschen nicht mehr zu lieben, den man nicht mehr liebt", heißt es in "Sich lieben". Doch hörte es eben nicht auf mit Marie. Toussaint schrieb "Fliehen", den Roman, mit dem er einen Sprung zurück machte in die Zeit vor der Trennung in Japan. Er schrieb "Die Wahrheit über Marie", ein Buch, das in einem Augenblick beginnt, in dem Marie und der Erzähler Liebe machen, allerdings nicht miteinander. Marie (so stellt der Erzähler es sich im Nachhinein spöttisch, eifersüchtig und genau vor) mit Jean-Christophe de G., einem Geschäftsmann, der währenddessen allerdings einen Herzinfarkt kriegt, von der Ambulanz abgeholt werden muss und im Krankenhaus stirbt. Und jetzt der Roman "Nackt", der beide durch eine Beerdigung, die auf Elba stattfindet, wieder zusammenführt und - als wäre es ein Krimi - mit einer Nachricht endet, die so naheliegend wie unglaublich ist.
Nicht Handlung treibt Toussaints Bücher voran, sondern die zögernden Bewegungen der Protagonisten, ein Nach- und Nebeneinander von Empfindungen, wahrgenommenen und sich verselbständigenden Details. Wenn ich mir wünsche, so schreiben zu können wie Toussaint, kommt es genau darauf an. Denn im Grunde geht es gar nicht so sehr darum, was passiert, obwohl es oft spannend ist, gerade jetzt in "Nackt", wo es auf Elba Verwicklungen mit der Mafia gibt, wo Eindringlinge in einem leerstehenden Feriendomizil die Betten benutzen, wo Schüsse im Wald zu hören sind. Vor allem geht es um die Art und Weise, wie es geschrieben ist, um den Ton, um die Lakonie, das Zurückgenommene, Reduzierte. In seinem Essayband "Die Dringlichkeit und die Geduld" hat der heute 56-jährige Jean-Philippe Toussaint erzählt, wie er Anfang der achtziger Jahre einmal einen Brief an Samuel Beckett geschrieben und ihm vorgeschlagen habe, auf dem Korrespondenzweg eine Partie Schach mit ihm zu spielen.
Es ist kein Wunder, dass er sich an Beckett wendet (der ihm auch tatsächlich geantwortet hat) und sich auch sonst, wo er nur kann, auf Beckett bezieht und nicht zum Beispiel auf James Joyce. Joyce, so hat es Beckett selber gesagt, sei ein gefräßiger Schriftsteller gewesen, einer, der immer noch etwas addierte, was das Wissen betraf, an die Grenzen des Möglichen ging und kein Ende fand. Er, Beckett, habe bald begriffen, dass sein eigener Weg der umgekehrte sein müsse, dass er in der Verarmung lag, im Mangel an Wissen, im Subtrahieren statt im Addieren. Joyce wollte die gesamte menschliche Kultur in ein oder zwei Bücher packen, Beckett alles Nebensächliche und Zufällige entfernen und zum Wesentlichen vordringen.
Und so ist es auch bei Toussaint, nur dass er den Zufall nicht als nebensächlich erachtet, sondern das Zufällige oft zum Wesentlichen macht. Oder besser: das Zusammenspiel von Zufall und Kontrolle, von "Dringlichkeit und Geduld", wie er es nennt, das ist, worum bei ihm alles sich dreht. Die Eröffnungsszene in "Nackt" lässt sich deshalb auch als eine poetologische Szene begreifen. Sie spielt auf dem Laufsteg einer Modenschau, wieder in Japan. Als Krönung ihrer Kollektion hat Marie das sogenannte Honigkleid erfunden, ein Kleidungsstück ohne jede Verbindung oder Befestigung, ein Kleid, das auf dem Körper des Mannequins selbst haftet, das "frei und leicht schwebte, flüssig und schmelzend, langsam und sirupartig abtropfend, wie schwerelos im Raum und dem Körper des Mannequins so nahe wie möglich, weil der Körper des Mannequins das Kleid selbst war".
Nackt und in an ihm herabtropfenden Honig gebadet soll also das Model (jedenfalls ist es so geplant) den Laufsteg auf hohen Absätzen entlanglaufen, gefolgt von einem Bienenschwarm, der, vom Honig angezogen, summend hinter ihm herfliegt. Doch knickt das Model plötzlich um, fällt hin und spürt sofort die Bienen über sich hereinbrechen. In Sekundenschnelle ist die Jagd eröffnet: Die Bienen stechen es überall, auf den Hals, auf den Rücken, in den Nacken, überall hin. Für das Publikum ein ganz plötzliches und neu entstehendes Tableau vivant: das Topmodel als Märtyrerin. Marie - sagt daraufhin der Ich-Erzähler - habe immer alles kontrollieren wollen und erst hier begriffen, dass das, was sich ihr entzog, gerade das Lebendigste in ihren Arbeiten war.
Dem Ungewollten, Unbewussten und Unerwarteten im sonst beinahe mathematisch durchkonstruierten Schaffensprozess einen Platz einzuräumen - das ist auch Ziel und Methode des Schriftstellers Jean-Philippe Toussaint. Es ist der Grund, warum seine Geschichten niemals starr sind, sondern beweglich bleiben, ein Eigenleben entwickeln, sich unter seiner Hand verselbständigen, während Toussaint nicht aufhört zu versuchen, die Hoheit über sie wieder zurückzugewinnen. Das ist das manchmal verzweifelte und oft auch komische Spiel. Wenn Literatur und Leben etwas miteinander zu tun haben, dann genau das.
Auf Elba brennt in "Nackt" eine Schokoladenfabrik. Und auf dem Friedhof, auf dem Marie und der Erzähler herumirren, weil sie das Grab nicht finden, das sie suchen, ist plötzlich überall dieser von der Fabrik herwehende Schokoladengeruch zu riechen, der schwer und süßlich sich bald mit dem abstrakten Totengeruch vermischt, einem Geruch nach Zersetzung und Verwesung. Bittersüß ist auch die Prosa von Jean-Philippe Toussaint, darin besteht ihre Verlockung, die stets mit einer Warnung einhergeht: Wo der Schein des Gefälligen geweckt wird, kann einem im nächsten Moment schon schlecht werden. Und wo sich alle in Sicherheit wähnen, droht Todesgefahr.
"Ich hatte eine kleine Flasche mit Salzsäure füllen lassen und trug sie jetzt immer bei mir, mit der Idee, sie eines Tages jemandem mitten in die Visage zu schütten", lautet der erste Satz von "Sich lieben", den ich vor zehn Jahren das erste Mal gelesen habe. In "Nackt" sieht man den Erzähler in einer Erinnerungsszene immer noch mit dieser Flasche herumlaufen. Bisher ist sie noch nicht zum Einsatz gekommen. Und es ist auch nicht so, dass ich darauf wartete. Doch warte ich auf jedes neue Buch von Jean-Philippe Toussaint über Marie, diese Frau ihrer Zeit, die gestresst, großstädtisch wie der Wind die Flughäfen durcheilt und auf eine zauberhafte Weise zugleich eine Harmonie zwischen sich und dem Universum herstellt und "wie nackt auf der Oberfläche der Welt entlang zu spazieren schien". Ich wünschte, ich hätte diesen Satz geschrieben.
JULIA ENCKE.
Jean-Philippe Toussaint: "Nackt". Roman. Übersetzt von Joachim Unseld. Frankfurter Verlagsanstalt, 158 Seiten, 19,90 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Als könnte man nackt auf der Oberfläche der Welt entlangspazieren - eine Liebeserklärung an den Schriftsteller Jean-Philippe Toussaint
Ich habe nie versucht, einen Roman zu schreiben, und habe es auch nicht vor. Und doch habe ich eine genaue Vorstellung davon, wie die Romane klingen müssten, die ich nicht schreiben werde. Nehmen wir an, ich hätte alles Talent der Welt. Dann müssten meine Bücher gar nicht unbedingt so sein wie die von Flaubert, Dostojewskij oder Kafka, obwohl ich alle drei natürlich sehr verehre. Ich würde sie auch nicht so schreiben wollen wie Marguerite Duras, deren Erzählung "Der Schmerz" zum Besten gehört, was ich je gelesen habe. Ich würde gerne so schreiben können wie Jean-Philippe Toussaint. Jedes Mal denke ich das, wenn ich ein Buch von ihm lese, dem belgischen Schriftsteller, der in Paris ein Star ist, den hier aber immer noch zu wenige kennen. Auch jetzt dachte ich das wieder, als ich "Nackt" las, seinen neuesten Roman, und dabei feststellte, wie ich (seine Bücher sind nie lang, meistens 150, höchstens mal 180 Seiten) gegen Ende immer langsamer wurde, weil ich nicht wollte, dass es aufhörte. Ist man einmal drin im Toussaint-Universum, möchte man nicht mehr raus.
Vor zehn Jahren sagte meine Freundin Alexa: "Du musst ,Faire l'amour' lesen, ,Sich lieben', von Jean-Philippe Toussaint!" Ich ging in eine Buchhandlung, dann ins Café und aus dem Café nicht wieder hinaus, bevor ich diesen Roman durch hatte, der mich an Sofia Coppolas Film "Lost in Translation" erinnerte: Ein Luxushotel in Tokio, ein Mann, eine Frau, schlaflos, die, wie Scarlett Johansson und Bill Murray, nachts durch die Straßen taumelten, einsam zu zweit. Die atmosphärischen Ähnlichkeiten waren sogar so groß, dass man vermuten konnte, beide hätten voneinander gewusst; oder dass zumindest Sofia Coppola Toussaints Roman schon gekannt hatte, als sie ihr Drehbuch schrieb. Nur dass die Stimmung, die sich in "Lost in Translation" auch der Musik verdankt, in "Sich lieben" etwas ironischer, die einer schnurrenden, surrenden und klingelnden Dingwelt ist: Ein Fax aus Europa kommt mitten in der Nacht in Tokio an und stört die Sich-nicht-mehr-Liebenden beim Sex. Ein Klicken, eine Nachricht auf dem plötzlich marineblau leuchtenden Fernsehbildschirm: "Please contact the central desk", danach geht nichts mehr im Bett. Bei Jean-Philippe Toussaint sind es Faxgeräte, Telefone und Kurznachrichten, welche die Regie übernehmen.
Mit der Modeschöpferin Marie, Erfinderin der Marke "Allons-y Allons-o", und dem Ich-Erzähler beginnt in Tokio eine Geschichte, die Toussaint immer weitergesponnen hat. "Es braucht Zeit, um den Menschen nicht mehr zu lieben, den man nicht mehr liebt", heißt es in "Sich lieben". Doch hörte es eben nicht auf mit Marie. Toussaint schrieb "Fliehen", den Roman, mit dem er einen Sprung zurück machte in die Zeit vor der Trennung in Japan. Er schrieb "Die Wahrheit über Marie", ein Buch, das in einem Augenblick beginnt, in dem Marie und der Erzähler Liebe machen, allerdings nicht miteinander. Marie (so stellt der Erzähler es sich im Nachhinein spöttisch, eifersüchtig und genau vor) mit Jean-Christophe de G., einem Geschäftsmann, der währenddessen allerdings einen Herzinfarkt kriegt, von der Ambulanz abgeholt werden muss und im Krankenhaus stirbt. Und jetzt der Roman "Nackt", der beide durch eine Beerdigung, die auf Elba stattfindet, wieder zusammenführt und - als wäre es ein Krimi - mit einer Nachricht endet, die so naheliegend wie unglaublich ist.
Nicht Handlung treibt Toussaints Bücher voran, sondern die zögernden Bewegungen der Protagonisten, ein Nach- und Nebeneinander von Empfindungen, wahrgenommenen und sich verselbständigenden Details. Wenn ich mir wünsche, so schreiben zu können wie Toussaint, kommt es genau darauf an. Denn im Grunde geht es gar nicht so sehr darum, was passiert, obwohl es oft spannend ist, gerade jetzt in "Nackt", wo es auf Elba Verwicklungen mit der Mafia gibt, wo Eindringlinge in einem leerstehenden Feriendomizil die Betten benutzen, wo Schüsse im Wald zu hören sind. Vor allem geht es um die Art und Weise, wie es geschrieben ist, um den Ton, um die Lakonie, das Zurückgenommene, Reduzierte. In seinem Essayband "Die Dringlichkeit und die Geduld" hat der heute 56-jährige Jean-Philippe Toussaint erzählt, wie er Anfang der achtziger Jahre einmal einen Brief an Samuel Beckett geschrieben und ihm vorgeschlagen habe, auf dem Korrespondenzweg eine Partie Schach mit ihm zu spielen.
Es ist kein Wunder, dass er sich an Beckett wendet (der ihm auch tatsächlich geantwortet hat) und sich auch sonst, wo er nur kann, auf Beckett bezieht und nicht zum Beispiel auf James Joyce. Joyce, so hat es Beckett selber gesagt, sei ein gefräßiger Schriftsteller gewesen, einer, der immer noch etwas addierte, was das Wissen betraf, an die Grenzen des Möglichen ging und kein Ende fand. Er, Beckett, habe bald begriffen, dass sein eigener Weg der umgekehrte sein müsse, dass er in der Verarmung lag, im Mangel an Wissen, im Subtrahieren statt im Addieren. Joyce wollte die gesamte menschliche Kultur in ein oder zwei Bücher packen, Beckett alles Nebensächliche und Zufällige entfernen und zum Wesentlichen vordringen.
Und so ist es auch bei Toussaint, nur dass er den Zufall nicht als nebensächlich erachtet, sondern das Zufällige oft zum Wesentlichen macht. Oder besser: das Zusammenspiel von Zufall und Kontrolle, von "Dringlichkeit und Geduld", wie er es nennt, das ist, worum bei ihm alles sich dreht. Die Eröffnungsszene in "Nackt" lässt sich deshalb auch als eine poetologische Szene begreifen. Sie spielt auf dem Laufsteg einer Modenschau, wieder in Japan. Als Krönung ihrer Kollektion hat Marie das sogenannte Honigkleid erfunden, ein Kleidungsstück ohne jede Verbindung oder Befestigung, ein Kleid, das auf dem Körper des Mannequins selbst haftet, das "frei und leicht schwebte, flüssig und schmelzend, langsam und sirupartig abtropfend, wie schwerelos im Raum und dem Körper des Mannequins so nahe wie möglich, weil der Körper des Mannequins das Kleid selbst war".
Nackt und in an ihm herabtropfenden Honig gebadet soll also das Model (jedenfalls ist es so geplant) den Laufsteg auf hohen Absätzen entlanglaufen, gefolgt von einem Bienenschwarm, der, vom Honig angezogen, summend hinter ihm herfliegt. Doch knickt das Model plötzlich um, fällt hin und spürt sofort die Bienen über sich hereinbrechen. In Sekundenschnelle ist die Jagd eröffnet: Die Bienen stechen es überall, auf den Hals, auf den Rücken, in den Nacken, überall hin. Für das Publikum ein ganz plötzliches und neu entstehendes Tableau vivant: das Topmodel als Märtyrerin. Marie - sagt daraufhin der Ich-Erzähler - habe immer alles kontrollieren wollen und erst hier begriffen, dass das, was sich ihr entzog, gerade das Lebendigste in ihren Arbeiten war.
Dem Ungewollten, Unbewussten und Unerwarteten im sonst beinahe mathematisch durchkonstruierten Schaffensprozess einen Platz einzuräumen - das ist auch Ziel und Methode des Schriftstellers Jean-Philippe Toussaint. Es ist der Grund, warum seine Geschichten niemals starr sind, sondern beweglich bleiben, ein Eigenleben entwickeln, sich unter seiner Hand verselbständigen, während Toussaint nicht aufhört zu versuchen, die Hoheit über sie wieder zurückzugewinnen. Das ist das manchmal verzweifelte und oft auch komische Spiel. Wenn Literatur und Leben etwas miteinander zu tun haben, dann genau das.
Auf Elba brennt in "Nackt" eine Schokoladenfabrik. Und auf dem Friedhof, auf dem Marie und der Erzähler herumirren, weil sie das Grab nicht finden, das sie suchen, ist plötzlich überall dieser von der Fabrik herwehende Schokoladengeruch zu riechen, der schwer und süßlich sich bald mit dem abstrakten Totengeruch vermischt, einem Geruch nach Zersetzung und Verwesung. Bittersüß ist auch die Prosa von Jean-Philippe Toussaint, darin besteht ihre Verlockung, die stets mit einer Warnung einhergeht: Wo der Schein des Gefälligen geweckt wird, kann einem im nächsten Moment schon schlecht werden. Und wo sich alle in Sicherheit wähnen, droht Todesgefahr.
"Ich hatte eine kleine Flasche mit Salzsäure füllen lassen und trug sie jetzt immer bei mir, mit der Idee, sie eines Tages jemandem mitten in die Visage zu schütten", lautet der erste Satz von "Sich lieben", den ich vor zehn Jahren das erste Mal gelesen habe. In "Nackt" sieht man den Erzähler in einer Erinnerungsszene immer noch mit dieser Flasche herumlaufen. Bisher ist sie noch nicht zum Einsatz gekommen. Und es ist auch nicht so, dass ich darauf wartete. Doch warte ich auf jedes neue Buch von Jean-Philippe Toussaint über Marie, diese Frau ihrer Zeit, die gestresst, großstädtisch wie der Wind die Flughäfen durcheilt und auf eine zauberhafte Weise zugleich eine Harmonie zwischen sich und dem Universum herstellt und "wie nackt auf der Oberfläche der Welt entlang zu spazieren schien". Ich wünschte, ich hätte diesen Satz geschrieben.
JULIA ENCKE.
Jean-Philippe Toussaint: "Nackt". Roman. Übersetzt von Joachim Unseld. Frankfurter Verlagsanstalt, 158 Seiten, 19,90 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.10.2014Marienverehrung
Mit „Nackt“ schließt Jean-Philippe Toussaint seine Roman-Tetralogie ab
Da hat er sich also durchgeschlagen, hat sich vorbeigemogelt an den Sicherheitskräften und den Kameras, ist auf das Dach des Museums in Tokio geklettert. Nicht ungefährlich, eine Spur von „Mission Impossible“. Und nun beobachtet Jean-Philippe Toussaints rätselhafter Ich-Erzähler durch die Lichtkuppel das Geschehen unter sich, sieht die uns nicht weniger rätselhafte Marie und erkennt, wenn auch durch die Augen eines anderen und noch dazu in einer Verwechslung, das eigentliche Wesen Maries, „bis dahin war sie für ihn ein weitgehend fiktives Wesen geblieben, simple Projektion einer nur in seiner Fantasie existierenden Frau“.
Die Geschichte von und mit Marie erzählt Jean-Philippe Toussaint mittlerweile bereits im vierten Roman weiter; „Nackt“ ist der Abschluss einer Tetralogie, die Toussaint mit „Sich lieben“ im Jahr 2003 begonnen hatte. Der Ton war von Beginn an präsent, eine elegische Melodie, die Toussaints Verleger, Freund und mittlerweile auch Übersetzer Joachim Unseld gefunden oder getroffen hat. Es sind Romane voller innerer Paradoxien, in denen alles gleichzeitig da ist, das Ephemere wie das Ewige, die Hoffnung und die Vergeblichkeit, die Lust und der Tod, die Gegenwart und die Erinnerung. All das sind große Begriffe, und sie gehören dazu, ist doch Toussaint zunächst das genaue Gegenteil eines Pathetikers. Seine Sprache ist von körniger Klarheit und blitzt immer wieder auf in Alltagsepiphanien. Je mehr wir von Marie, Modeschöpferin, Geliebte, Verlorene, Begehrte, erfahren haben, desto ferner ist sie gerückt, desto unschärfer ist ihr Bild geworden.
In „Sich lieben“ verbringt das Paar eine letzte gemeinsame Nacht in Tokio, obwohl man weiß, dass man sich trennen wird; „Fliehen“ ist dann der möglicherweise rasanteste Teil der Tetralogie, in dem man ahnt, dass das nie aufhören wird mit Marie, ganz gleich, wie weit die beiden sich voneinander entfernen. In „Fliehen“, das die Vorgeschichte zum ersten Roman erzählt, entpuppt Toussaint sich vollends als, wenn es das überhaupt gibt, technisierter Romantiker, bei dem sich die Ewigkeitsabgründe in den vermeintlich banalen Verrichtungen von Handel und Kommunikation spiegeln. Der Ich-Erzähler ist in dubiosen Geschäften unterwegs in China und verbringt mit einer jungen Chinesin eine Nacht im Zug. Die Atmosphäre ist aufgeladen, Küsse werden ausgetauscht, da klingelt das Mobiltelefon, und Marie, die ewige Marie, teilt mit, dass ihr Vater auf Elba verstorben sei. „Ich hatte“, so heißt es dann, „immer schon die irgendwie unbewusste Ahnung, dass meine Angst vor dem Telefon mit dem Tod zusammenhing – vielleicht mit Sex und Tod –, aber niemals vor dieser Nacht sollte ich eine derart unerbittliche Bestätigung dafür bekommen, dass es tatsächlich eine geheime Alchimie gibt, die das Telefon mit dem Tod verbindet.“
„Die Wahrheit über Marie“ schließlich ist ein düsteres Nachtstück mit grandiosen Szenen, darunter ein überraschender Herztod während eines Liebesaktes (jener Jean-Christophe de G. taucht in dem zeitlich vorgelagerten „Nackt“ erneut auf) und ein Pferd, das in seiner panischen Flucht einen ganzen Flughafen lahmlegt, bevor es, man erinnere sich an das Sprichwort, vor Erschöpfung zu kotzen beginnt. Ganz subtil hat Toussaint, ein Autor, der nichts dem Zufall überlässt, von Buch zu Buch auf etwas hingearbeitet, was er jetzt, in „Nackt“, auf die Spitze treibt: an einer Zuspitzung des Fragmentarischen, an einem Erzählen in reinen Bildern.
Die Chronologie interessiert wenig; „Nackt“ ist auch ohne Kenntnis der voran gegangenen Romane (zu beneiden ist, wer die Lektüre noch vor sich hat) ohne Verständnisprobleme bestens lesbar. Toussaint hat ein Puzzle zwischen die drei geografischen Schwerpunkte Paris – Tokio – Elba gelegt und große Imaginations-Leerstellen offen gelassen. Die Grundkonstellation von „Nackt“ ist folgende: Der Ich-Erzähler und Marie sind gemeinsam von Elba zurück gekehrt, jeder in seine eigene Wohnung, nun steht der Ich-Erzähler am Fenster, blickt auf die Straße hinunter, wartet auf Maries Anruf und erinnert sich. Er wird zwei Monate auf den Anruf warten. Marie, wenn es sie denn tatsächlich gibt, ist eine in ihrer Exaltiertheit kaum erträgliche Person. So eine, die mit dem Kellner diskutiert, warum es keinen frischen Kräutertee gibt, um anschließend Wasser und Chips zu bestellen. Und dann sitzt sie draußen vor einem Café, zerzaust von Sturm und Regen, den Rücken dem Fenster zugewandt, und raucht.
Dass Toussaint tatsächlich an einer Ikonisierung seiner Figur arbeitet, wird offen ausgesprochen: Botticellis Jungfrau in der „Verkündigung“, so der Erzähler, offenbare eine erstaunliche psychologische Ähnlichkeit zu Maries Geisteszustand, „als ob Botticelli nicht eine Verkündigung, sondern ein Noli me tangere gemalt hätte.“ So explizit wird Toussaint selten; so nahe wie in „Nackt“ kommt man seiner Poetik sonst nur in seinem Essayband „Die Dringlichkeit und die Geduld“. Dort schreibt Toussaint in dem Aufsatz „Ich, Rodion Romanowitsch Raskolnikow“: „Ich ahnte bereits, ohne es in Worte fassen zu können, dass eine der wesentlichsten Kräfte der Literatur in ihrer Zweideutigkeit liegt. Literatur, das war – und das sollte sie immer sein – wie Schwefel, wie Weißglut, wie Säure.“
In der Ambivalenz zwischen den profanen Dingen und deren Entzündungsmöglichkeiten in der literarischen Darstellung entfaltet Toussaints Werk seine ganze Kraft und Pracht. Der Beckett- und Kafka-Leser Toussaint weiß um die Vergeblichkeit, er weiß um die Abnutzungserscheinungen der Gegenwart, er weiß aber ebenso gut um die Potentiale des Erhabenen an den Schnittstellen der globalisierten Welt.
Am Ende werden wir wieder mit Marie und dem Erzähler auf Elba landen, nicht zum ersten Mal wird es einen großen Brand geben, und es wird Schokolade in feinen Tropfen regnen. Solche Szenen gelingen Toussaint auf umwerfende Weise, sie sind exakt geplant, detailreich geschrieben und sorgfältig choreografiert. Und man kann das rein, geradezu unschuldig lesen, ohne die technische Virtuosität zu bemerken. Jean-Philippe Toussaint ist ein funkelnder Autor, der nicht vorzeigen will, dass er brillieren kann.
CHRISTOPH SCHRÖDER
Über vier Romane hinweg
arbeitet Toussaint an der
Ikonisierung seiner Hauptfigur
Jean-Philippe Toussaint: Nackt. Roman.
Aus dem Französischen von Joachim Unseld.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2014. 158 Seiten,
19,90 Euro.
E-Book 12,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Mit „Nackt“ schließt Jean-Philippe Toussaint seine Roman-Tetralogie ab
Da hat er sich also durchgeschlagen, hat sich vorbeigemogelt an den Sicherheitskräften und den Kameras, ist auf das Dach des Museums in Tokio geklettert. Nicht ungefährlich, eine Spur von „Mission Impossible“. Und nun beobachtet Jean-Philippe Toussaints rätselhafter Ich-Erzähler durch die Lichtkuppel das Geschehen unter sich, sieht die uns nicht weniger rätselhafte Marie und erkennt, wenn auch durch die Augen eines anderen und noch dazu in einer Verwechslung, das eigentliche Wesen Maries, „bis dahin war sie für ihn ein weitgehend fiktives Wesen geblieben, simple Projektion einer nur in seiner Fantasie existierenden Frau“.
Die Geschichte von und mit Marie erzählt Jean-Philippe Toussaint mittlerweile bereits im vierten Roman weiter; „Nackt“ ist der Abschluss einer Tetralogie, die Toussaint mit „Sich lieben“ im Jahr 2003 begonnen hatte. Der Ton war von Beginn an präsent, eine elegische Melodie, die Toussaints Verleger, Freund und mittlerweile auch Übersetzer Joachim Unseld gefunden oder getroffen hat. Es sind Romane voller innerer Paradoxien, in denen alles gleichzeitig da ist, das Ephemere wie das Ewige, die Hoffnung und die Vergeblichkeit, die Lust und der Tod, die Gegenwart und die Erinnerung. All das sind große Begriffe, und sie gehören dazu, ist doch Toussaint zunächst das genaue Gegenteil eines Pathetikers. Seine Sprache ist von körniger Klarheit und blitzt immer wieder auf in Alltagsepiphanien. Je mehr wir von Marie, Modeschöpferin, Geliebte, Verlorene, Begehrte, erfahren haben, desto ferner ist sie gerückt, desto unschärfer ist ihr Bild geworden.
In „Sich lieben“ verbringt das Paar eine letzte gemeinsame Nacht in Tokio, obwohl man weiß, dass man sich trennen wird; „Fliehen“ ist dann der möglicherweise rasanteste Teil der Tetralogie, in dem man ahnt, dass das nie aufhören wird mit Marie, ganz gleich, wie weit die beiden sich voneinander entfernen. In „Fliehen“, das die Vorgeschichte zum ersten Roman erzählt, entpuppt Toussaint sich vollends als, wenn es das überhaupt gibt, technisierter Romantiker, bei dem sich die Ewigkeitsabgründe in den vermeintlich banalen Verrichtungen von Handel und Kommunikation spiegeln. Der Ich-Erzähler ist in dubiosen Geschäften unterwegs in China und verbringt mit einer jungen Chinesin eine Nacht im Zug. Die Atmosphäre ist aufgeladen, Küsse werden ausgetauscht, da klingelt das Mobiltelefon, und Marie, die ewige Marie, teilt mit, dass ihr Vater auf Elba verstorben sei. „Ich hatte“, so heißt es dann, „immer schon die irgendwie unbewusste Ahnung, dass meine Angst vor dem Telefon mit dem Tod zusammenhing – vielleicht mit Sex und Tod –, aber niemals vor dieser Nacht sollte ich eine derart unerbittliche Bestätigung dafür bekommen, dass es tatsächlich eine geheime Alchimie gibt, die das Telefon mit dem Tod verbindet.“
„Die Wahrheit über Marie“ schließlich ist ein düsteres Nachtstück mit grandiosen Szenen, darunter ein überraschender Herztod während eines Liebesaktes (jener Jean-Christophe de G. taucht in dem zeitlich vorgelagerten „Nackt“ erneut auf) und ein Pferd, das in seiner panischen Flucht einen ganzen Flughafen lahmlegt, bevor es, man erinnere sich an das Sprichwort, vor Erschöpfung zu kotzen beginnt. Ganz subtil hat Toussaint, ein Autor, der nichts dem Zufall überlässt, von Buch zu Buch auf etwas hingearbeitet, was er jetzt, in „Nackt“, auf die Spitze treibt: an einer Zuspitzung des Fragmentarischen, an einem Erzählen in reinen Bildern.
Die Chronologie interessiert wenig; „Nackt“ ist auch ohne Kenntnis der voran gegangenen Romane (zu beneiden ist, wer die Lektüre noch vor sich hat) ohne Verständnisprobleme bestens lesbar. Toussaint hat ein Puzzle zwischen die drei geografischen Schwerpunkte Paris – Tokio – Elba gelegt und große Imaginations-Leerstellen offen gelassen. Die Grundkonstellation von „Nackt“ ist folgende: Der Ich-Erzähler und Marie sind gemeinsam von Elba zurück gekehrt, jeder in seine eigene Wohnung, nun steht der Ich-Erzähler am Fenster, blickt auf die Straße hinunter, wartet auf Maries Anruf und erinnert sich. Er wird zwei Monate auf den Anruf warten. Marie, wenn es sie denn tatsächlich gibt, ist eine in ihrer Exaltiertheit kaum erträgliche Person. So eine, die mit dem Kellner diskutiert, warum es keinen frischen Kräutertee gibt, um anschließend Wasser und Chips zu bestellen. Und dann sitzt sie draußen vor einem Café, zerzaust von Sturm und Regen, den Rücken dem Fenster zugewandt, und raucht.
Dass Toussaint tatsächlich an einer Ikonisierung seiner Figur arbeitet, wird offen ausgesprochen: Botticellis Jungfrau in der „Verkündigung“, so der Erzähler, offenbare eine erstaunliche psychologische Ähnlichkeit zu Maries Geisteszustand, „als ob Botticelli nicht eine Verkündigung, sondern ein Noli me tangere gemalt hätte.“ So explizit wird Toussaint selten; so nahe wie in „Nackt“ kommt man seiner Poetik sonst nur in seinem Essayband „Die Dringlichkeit und die Geduld“. Dort schreibt Toussaint in dem Aufsatz „Ich, Rodion Romanowitsch Raskolnikow“: „Ich ahnte bereits, ohne es in Worte fassen zu können, dass eine der wesentlichsten Kräfte der Literatur in ihrer Zweideutigkeit liegt. Literatur, das war – und das sollte sie immer sein – wie Schwefel, wie Weißglut, wie Säure.“
In der Ambivalenz zwischen den profanen Dingen und deren Entzündungsmöglichkeiten in der literarischen Darstellung entfaltet Toussaints Werk seine ganze Kraft und Pracht. Der Beckett- und Kafka-Leser Toussaint weiß um die Vergeblichkeit, er weiß um die Abnutzungserscheinungen der Gegenwart, er weiß aber ebenso gut um die Potentiale des Erhabenen an den Schnittstellen der globalisierten Welt.
Am Ende werden wir wieder mit Marie und dem Erzähler auf Elba landen, nicht zum ersten Mal wird es einen großen Brand geben, und es wird Schokolade in feinen Tropfen regnen. Solche Szenen gelingen Toussaint auf umwerfende Weise, sie sind exakt geplant, detailreich geschrieben und sorgfältig choreografiert. Und man kann das rein, geradezu unschuldig lesen, ohne die technische Virtuosität zu bemerken. Jean-Philippe Toussaint ist ein funkelnder Autor, der nicht vorzeigen will, dass er brillieren kann.
CHRISTOPH SCHRÖDER
Über vier Romane hinweg
arbeitet Toussaint an der
Ikonisierung seiner Hauptfigur
Jean-Philippe Toussaint: Nackt. Roman.
Aus dem Französischen von Joachim Unseld.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2014. 158 Seiten,
19,90 Euro.
E-Book 12,99 Euro.
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