Évelyne Ducat verschwindet eines Tages spurlos, und das Städtchen im französischen Zentralmassiv rätselt. Es kursieren Gerüchte und Beobachtungen. Doch nicht alles wird der Polizei preisgegeben, denn hier in der abgeschiedenen Bergwelt hüten die Menschen ihre Geheimnisse. Die Sozialarbeiterin Alice hat ein Geheimnis mit ihrem Klienten Joseph, dem einsamen Schafzüchter. Und der verhält sich nach dem Verschwinden der Frau merkwürdig. Und in welcher Beziehung stand die Verschwundene zu der jungen Maribé, die eines Tages im Städtchen auftauchte und alle Blicke auf sich zog? Mit jedem Kapitel erhält eine andere Person das Wort, und ein neues Geheimnis, ein neuer Verdacht taucht auf, bis sich das Puzzle um Évelyne Ducats Verschwinden zusammenfügt. Colin Niels preisgekrönter Roman noir ist mehr als ein raffiniert konstruierter Krimi: Er gibt ebenso fesselnd Einblick in prekäre soziale Milieus und erzählt von der verzweifelten Suche nach Liebe.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Stefan Fischer ist völlig eingenommen von den Personen in Colin Niels traurigem Roman "Nur die Tiere". Niel erzählt von einsamen und misstrauischen Bauern, die keine Frauen mehr für ihr karges Leben finden und deren Unfähigkeit, einander zu begegnen, zu einer fatalen Verkettung von Ereignissen führt. Wie Niel seinen Roman konstruiert und die verschiedenen Personen in der Rückschau erzählen lässt, wann und wie sie den Lauf der Ding kreuzten, das imponiert Fischer sehr, zumal der Autor eine Sprache findet, die dem Rezensenten Zugang zu ihrem so eigensinnigen wie verschrobenen Kosmos gewährte. Wer schuld ist am Verschwinden der manipulativen Millionärsgattin interessiert ihn da nur am Rande.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.06.2021Madame will ein Kind, Monsieur einen Stall
Glauben Sie nicht alles, was Sie lesen: Colin Niel legt einen fulminanten Krimi vor, der auch von einer vermissten Frau im französischen Zentralmassiv handelt. Im Kern jedoch dreht sich alles um die Frage, ob wir Geschichten brauchen, um überhaupt existieren zu können.
Die Gebrauchsanweisung für seinen Roman "Nur die Tiere" liefert Colin Niel gleich mit den ersten Sätzen. Menschen wollten immer einen Beginn, heißt es da, sie "bilden sich ein, wenn eine Geschichte irgendwo anfängt, muss sie auch ein Ende haben". Das, was sich im Nirgendwo des französischen Zentralmassivs zugetragen habe, sei unter den Einwohnern zu einer Art Klatsch-Hit geworden, Stille-Post-Effekt inklusive. Man spinne etwas dazu, schleife hier eine Kante glatt, fräse dort ein Detail heraus. "Würd ich auch so machen", sagt eine Figur, "da hat man wenigstens was zu erzählen, jeder will irgendwas zu erzählen haben, sonst existiert man ja nicht." Will sagen: Glauben Sie nicht alles, was Sie lesen.
Damit wäre der Krimi zugunsten der Menschenseelenkunde überwunden. Ja, es geht in diesem Buch um eine vermisste Frau. Nein, die schrittweise Lösung des Falls bildet nicht das alleinige Kraftzentrum des Plots. Niel, 1976 in Clamart geboren, macht sich lieber daran, laufend über den Zusammenhang von Erzählinstinkt und Conditio humana nachzudenken. Und falls es stimmt, dass wir nur dann sind, wenn wir uns mitteilen, müssen sich seine Protagonisten keine Sorgen um ihre Existenz machen. Fünf Personen berichten nacheinander, was sie mit der verschwundenen und, das wird man ausplaudern dürfen, ermordeten Évelyne Ducat zu tun hatten. Jeder in einem eigenen Soziolekt. Jeder mit anderen narrativen Strategien. Jeder als verkappter Erzähltheoretiker.
Wer einem Roman ein solches Programm unterjubelt, muss aufpassen, nicht im Erklärstrudel über zivilisationsbildende Mythen und sinnstiftende Schöpfungsakte (am Anfang war das Wort!) abzusaufen. Denn Krimistorys und pseudoakademische Vorlesungen liegen - Fans des Genres kennen das Problem - häufig nah beieinander. Nicht so bei Niel. Er knüpft ein reißfestes Handlungsgewebe, weil er, von seinem Personal ausgehend, zwar dann und wann Reflexionen einstreut, die Allgemeingültigkeit beanspruchen können, sich aber verbietet, die Figuren in Gefäße kulturhistorisch bedeutender Ideen zu verwandeln.
Wichtiger als Selbstbeweihräucherung sind diesem Nonkonformisten unter den Whodunit-Adepten psychologisch verwahrloste Charaktere und eine von jedem Schnittmuster befreite Plotstruktur. Das hat auch Dominik Moll überzeugt, der seine Verfilmung des Stoffs 2019 bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig vorstellte.
Das Geschehen wird oft von Zufällen motiviert und kennt keinen Hoffnungsschimmer. Alice, eine Sozialarbeiterin, die sich um die Bauern der Gegend kümmert, hebt hervor: "Was wir sehen, sind zerrüttete Familien, Beziehungen, die in die Brüche gehen, weil Madame ein Kind will, Monsieur dagegen einen neuen Stall; Männer, die unter der schieren Last der Arbeit in Depressionen versinken." Der Kommunikationsfluss mit ihrem Mann Michel - auch er verdingt sich als Bauer - ist zu einem Rinnsal verkommen. Sein ebenso wortkarger Kollege Joseph sagt: "Tja, ich weiß nur, wie man mit Schafen redet." Alice verliebt sich in ihn, betrügt ihren Mann und fragt sich, ob sie sich deswegen schämen oder freuen soll.
Einmal bemerkt sie: "Wir starrten uns sekundenlang an, ich suchte in seinem Blick, der entschlossen war wie nie, nach einer Erklärung." Damit ist sie nicht allein, denn "Nur die Tiere" dreht sich um eine doppelte Suche: nach der Wahrheit über Évelyne Ducat und nach dem Wesen der Anderen. Da es letzte Antworten nicht gibt, verfolgt der Leser, wie sich die Charaktere tastend und deutend durch zwischenmenschlichen Morast schleppen und vergeblich versuchen, ihre Partner und die Wirklichkeit am Schlafittchen zu packen. Aber was sich da abzeichnet, "irgendwo zwischen Erfundenem und Übertreibungen, war eine Art Porträt der Vermissten und vielleicht gar nicht mal so weit weg von der Realität". So sagt uns die Literatur also, dass am Ende womöglich alles Literatur ist.
Niels große Kunst entfaltet sich im sparsamen Dialog, der, noch bevor er Fahrt aufnehmen kann, implodiert. Im Fall der Borderlinerin Maribé handelt es sich hingegen um explodierende Zwiegespräche. Sie sucht, wie ihre Mitstreiter, nach Nähe und will von den richtigen Worten zum richtigen Zeitpunkt wie von einem Kokon umfangen werden. Zugleich torpediert sie diese Bedürfnisse, indem sie eine Liaison mit der verheirateten Évelyne Ducat eingeht und dabei von einem Subjekt zu einem Objekt schrumpft: Die eine diktiert die Termine, zu denen man sich trifft, die andere fügt sich in eine selbstzerstörerische Abhängigkeit und nimmt "die paar Krümel Liebe und flüchtigen Freuden, die sie mir gewährte wie einem ausgesetzten Tier die Futterration".
So führen die Figuren einen Reigen aus "Wut, Traurigkeit, Hass und Liebe, Verständnislosigkeit und Schuld" auf. Im vorletzten Kapitel - Schauplatz ist die Elfenbeinküste - reduziert der Autor jedoch das psychologische Raffinement, um die Hintergründe des Geschehens zu erhellen. Das Buch ist deswegen nicht vermurkst, aber die Dynamik menschlichen, allzumenschlichen Gebarens zugunsten einer erzählökonomisch eher faden Ursache-Wirkungs-Kette aufgelöst. Muss nun eine Geschichte, die irgendwo anfängt, auch einen Schluss haben? Gewiss, die Geschichte um Évelyne Ducat allerdings bäumt sich auf den letzten Seiten noch einmal auf und nimmt eine neue Richtung. Ende offen.
KAI SPANKE
Colin Niel: "Nur die Tiere". Roman.
Aus dem Französischen von Anne Thomas.
Lenos Verlag, Basel 2021.
286 S., br., 22.- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Glauben Sie nicht alles, was Sie lesen: Colin Niel legt einen fulminanten Krimi vor, der auch von einer vermissten Frau im französischen Zentralmassiv handelt. Im Kern jedoch dreht sich alles um die Frage, ob wir Geschichten brauchen, um überhaupt existieren zu können.
Die Gebrauchsanweisung für seinen Roman "Nur die Tiere" liefert Colin Niel gleich mit den ersten Sätzen. Menschen wollten immer einen Beginn, heißt es da, sie "bilden sich ein, wenn eine Geschichte irgendwo anfängt, muss sie auch ein Ende haben". Das, was sich im Nirgendwo des französischen Zentralmassivs zugetragen habe, sei unter den Einwohnern zu einer Art Klatsch-Hit geworden, Stille-Post-Effekt inklusive. Man spinne etwas dazu, schleife hier eine Kante glatt, fräse dort ein Detail heraus. "Würd ich auch so machen", sagt eine Figur, "da hat man wenigstens was zu erzählen, jeder will irgendwas zu erzählen haben, sonst existiert man ja nicht." Will sagen: Glauben Sie nicht alles, was Sie lesen.
Damit wäre der Krimi zugunsten der Menschenseelenkunde überwunden. Ja, es geht in diesem Buch um eine vermisste Frau. Nein, die schrittweise Lösung des Falls bildet nicht das alleinige Kraftzentrum des Plots. Niel, 1976 in Clamart geboren, macht sich lieber daran, laufend über den Zusammenhang von Erzählinstinkt und Conditio humana nachzudenken. Und falls es stimmt, dass wir nur dann sind, wenn wir uns mitteilen, müssen sich seine Protagonisten keine Sorgen um ihre Existenz machen. Fünf Personen berichten nacheinander, was sie mit der verschwundenen und, das wird man ausplaudern dürfen, ermordeten Évelyne Ducat zu tun hatten. Jeder in einem eigenen Soziolekt. Jeder mit anderen narrativen Strategien. Jeder als verkappter Erzähltheoretiker.
Wer einem Roman ein solches Programm unterjubelt, muss aufpassen, nicht im Erklärstrudel über zivilisationsbildende Mythen und sinnstiftende Schöpfungsakte (am Anfang war das Wort!) abzusaufen. Denn Krimistorys und pseudoakademische Vorlesungen liegen - Fans des Genres kennen das Problem - häufig nah beieinander. Nicht so bei Niel. Er knüpft ein reißfestes Handlungsgewebe, weil er, von seinem Personal ausgehend, zwar dann und wann Reflexionen einstreut, die Allgemeingültigkeit beanspruchen können, sich aber verbietet, die Figuren in Gefäße kulturhistorisch bedeutender Ideen zu verwandeln.
Wichtiger als Selbstbeweihräucherung sind diesem Nonkonformisten unter den Whodunit-Adepten psychologisch verwahrloste Charaktere und eine von jedem Schnittmuster befreite Plotstruktur. Das hat auch Dominik Moll überzeugt, der seine Verfilmung des Stoffs 2019 bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig vorstellte.
Das Geschehen wird oft von Zufällen motiviert und kennt keinen Hoffnungsschimmer. Alice, eine Sozialarbeiterin, die sich um die Bauern der Gegend kümmert, hebt hervor: "Was wir sehen, sind zerrüttete Familien, Beziehungen, die in die Brüche gehen, weil Madame ein Kind will, Monsieur dagegen einen neuen Stall; Männer, die unter der schieren Last der Arbeit in Depressionen versinken." Der Kommunikationsfluss mit ihrem Mann Michel - auch er verdingt sich als Bauer - ist zu einem Rinnsal verkommen. Sein ebenso wortkarger Kollege Joseph sagt: "Tja, ich weiß nur, wie man mit Schafen redet." Alice verliebt sich in ihn, betrügt ihren Mann und fragt sich, ob sie sich deswegen schämen oder freuen soll.
Einmal bemerkt sie: "Wir starrten uns sekundenlang an, ich suchte in seinem Blick, der entschlossen war wie nie, nach einer Erklärung." Damit ist sie nicht allein, denn "Nur die Tiere" dreht sich um eine doppelte Suche: nach der Wahrheit über Évelyne Ducat und nach dem Wesen der Anderen. Da es letzte Antworten nicht gibt, verfolgt der Leser, wie sich die Charaktere tastend und deutend durch zwischenmenschlichen Morast schleppen und vergeblich versuchen, ihre Partner und die Wirklichkeit am Schlafittchen zu packen. Aber was sich da abzeichnet, "irgendwo zwischen Erfundenem und Übertreibungen, war eine Art Porträt der Vermissten und vielleicht gar nicht mal so weit weg von der Realität". So sagt uns die Literatur also, dass am Ende womöglich alles Literatur ist.
Niels große Kunst entfaltet sich im sparsamen Dialog, der, noch bevor er Fahrt aufnehmen kann, implodiert. Im Fall der Borderlinerin Maribé handelt es sich hingegen um explodierende Zwiegespräche. Sie sucht, wie ihre Mitstreiter, nach Nähe und will von den richtigen Worten zum richtigen Zeitpunkt wie von einem Kokon umfangen werden. Zugleich torpediert sie diese Bedürfnisse, indem sie eine Liaison mit der verheirateten Évelyne Ducat eingeht und dabei von einem Subjekt zu einem Objekt schrumpft: Die eine diktiert die Termine, zu denen man sich trifft, die andere fügt sich in eine selbstzerstörerische Abhängigkeit und nimmt "die paar Krümel Liebe und flüchtigen Freuden, die sie mir gewährte wie einem ausgesetzten Tier die Futterration".
So führen die Figuren einen Reigen aus "Wut, Traurigkeit, Hass und Liebe, Verständnislosigkeit und Schuld" auf. Im vorletzten Kapitel - Schauplatz ist die Elfenbeinküste - reduziert der Autor jedoch das psychologische Raffinement, um die Hintergründe des Geschehens zu erhellen. Das Buch ist deswegen nicht vermurkst, aber die Dynamik menschlichen, allzumenschlichen Gebarens zugunsten einer erzählökonomisch eher faden Ursache-Wirkungs-Kette aufgelöst. Muss nun eine Geschichte, die irgendwo anfängt, auch einen Schluss haben? Gewiss, die Geschichte um Évelyne Ducat allerdings bäumt sich auf den letzten Seiten noch einmal auf und nimmt eine neue Richtung. Ende offen.
KAI SPANKE
Colin Niel: "Nur die Tiere". Roman.
Aus dem Französischen von Anne Thomas.
Lenos Verlag, Basel 2021.
286 S., br., 22.- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.11.2021Gier nach
Nähe
Nutznießer der Einsamkeit:
Colin Niels Krimi „Nur die Tiere“
Die Tourmente, der fürchterliche Wintersturm, der über den Causse fegt, könnte Évelyne Ducasse zum Verhängnis geworden sein. Nur warum hätte sich die Industriellen-Gattin bei diesem Wetter hinauswagen sollen auf das Kalkplateau im französischen Zentralmassiv? Ihr Verschwinden gibt ein Rätsel auf – auch der örtlichen Polizei, doch um die geht es dem französischen Autor Colin Niel in seinem Krimi „Nur die Tiere“ nur am Rande.
Niel erzählt seine Geschichte in fünf Kapiteln, aus fünf verschiedenen Perspektiven. Drei Einheimische – zwei Bauern und eine Sozialarbeiterin –, dazu eine junge Großstädterin, die es in diese Provinz verschlagen hat, sowie ein Afrikaner, der in der Elfenbeinküste seinen illegalen Geschäften nachgeht, berichten in der Rückschau über den Teil der Ereignisse, den sie selbst erlebt haben. Jeder dieser fünf Menschen kreuzt an einem bestimmten Punkt den Lauf der Dinge, der zu Évelyne Ducasses Verschwinden führt.
Ducasse ist unabhängige Frau, obschon sie wie eine Trophäe behandelt wird von ihrem Mann, der aus der Gegend stammt und die Leute spüren lässt, zu was er es gebracht hat. Niemand von den Erzählenden überblickt, wie die Dinge zusammengehören. Und so erfährt man auch als Leser erst am Ende, wie die Vorfälle ineinander greifen. Den Auftakt macht die Sozialarbeiterin Alice, die gemeinsam mit vier anderen Frauen zuständig ist für rund 4000 Bauern. „Wir fahren die Höfe der Gegend ab und treffen uns mit denen, die kaum noch jemand besucht“, so erklärt sie ihren Job. Als sie zum ersten Mal zu Joseph Bonneville fährt, einem Schafzüchter auf dem Causse, öffnet dieser seine Tür mit einem Jagdgewehr in den Händen.
Die Bauern sind einsam und misstrauisch, sie finden keine Frauen, die das karge Landleben mit ihnen teilen wollen. In ihrem Alleinsein haben sie es irgendwann verlernt, sich auf andere einzulassen. „Joseph war ein Mann, den die Einsamkeit kaputt gemacht hat“, sagt Alice. Er ist nicht der einzige. Und es sind nicht nur die Bauern, die jahraus, jahrein alleine mit ihren Schafen und ihren Hunden vor sich hinvegetieren. Es geht vielen Bewohner in dieser entlegenen Region des Zentralmassivs so. Selbst Alice, obwohl sie verheiratet ist und es ihr Job ist, genau dagegen anzuarbeiten.
Die Einsamkeit ist das große Thema dieses Romans und die Unfähigkeit der Menschen, einander als soziale Wesen zu begegnen – neugierig, offen, empathisch. Auf der anderen Seite ist da ein immenses Bedürfnis, ja eine Gier nach Nähe. Alice und Joseph beginnen irgendwann eine Affäre, doch die Stunden mit ihr wiegen die Leere nicht auf, die ihn befällt, wenn sie wieder geht. So perfide ist die Lage: Die Menschen wagen es nicht einmal mehr zu hoffen, aus Angst vor einer weiteren, womöglich der finalen Enttäuschung.
Alices Mann wiederum lässt sich auf einen Onlineflirt ein, der ihn viel Geld kostet. Selbst als Michel erkannt hat, dass er das Opfer eines afrikanischen Internetbetrügers geworden ist, kann er sich nicht lösen von den vorgespielten Umgarnungen – zu groß ist die Bestätigung, die er darin sieht, und die Befriedigung, die ihm diese Schmeicheleien wider besseres Wissen bescheren: am Ende hat er sich in das Foto einer Pornodarstellerin verguckt. Auch er ist ein Landwirt, führt den Hof seines Schwiegervaters fort, und kommt dabei auf keinen grünen Zweig, obwohl er sich sehr ins Zeug legt.
Es gibt Figuren in dieser Geschichte, die sich die Verwundbarkeit anderer zunutze machen. Aus finanziellem Kalkül oder aus Lust an der Macht über andere. Auch Évelyne Ducasse gehört zu ihnen, die sich die junge Städterin Maribé eine Weile lang als Geliebte hält. Wann sie sich treffen, wann sie Sex miteinander haben, das bestimmt allein sie.
Am Ende führen ein paar dumme Zufälle zu einer tödlichen Eskalation. Die zu verhindern gewesen wäre, wenn nicht ein fatales Gemisch aus Kränkung und Blendung die Oberhand gewonnen hätte. An dieser Stelle hat einen Colin Niel bereits vollkommen eingenommen für seine Charaktere und deren Milieus. Die Kunst dieses Autors ist es, die Bekenntnisse seiner fünf Erzählerfiguren nicht im Widerspruch zu ihrer Wortkargheit stehen zu lassen, zu ihrer Verschrobenheit, zu ihrer Unkenntnis dessen, was außerhalb ihres eigenen engen Blickfeldes vor sich geht. Sie sind nicht dumm, Zeit zum Nachdenken haben sie schließlich genug. Aber ihre Gedanken kreisen in einem jeweils eigenen Kosmos. Diesen zu betreten, ist das eigentlich Spannende an diesem Krimi.
STEFAN FISCHER
„Wir fahren die Höfe der Gegend
ab und treffen uns mit denen,
die kaum noch jemand besucht“
Bekenntnisse nicht im
Widerspruch zu Wortkargheit
stehen zu lassen: ein Kunststück
Colin Niel: Nur die Tiere. Aus dem Französischen von Anne Thomas.
Lenos Verlag, Basel 2021.
286 Seiten, 16 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Nähe
Nutznießer der Einsamkeit:
Colin Niels Krimi „Nur die Tiere“
Die Tourmente, der fürchterliche Wintersturm, der über den Causse fegt, könnte Évelyne Ducasse zum Verhängnis geworden sein. Nur warum hätte sich die Industriellen-Gattin bei diesem Wetter hinauswagen sollen auf das Kalkplateau im französischen Zentralmassiv? Ihr Verschwinden gibt ein Rätsel auf – auch der örtlichen Polizei, doch um die geht es dem französischen Autor Colin Niel in seinem Krimi „Nur die Tiere“ nur am Rande.
Niel erzählt seine Geschichte in fünf Kapiteln, aus fünf verschiedenen Perspektiven. Drei Einheimische – zwei Bauern und eine Sozialarbeiterin –, dazu eine junge Großstädterin, die es in diese Provinz verschlagen hat, sowie ein Afrikaner, der in der Elfenbeinküste seinen illegalen Geschäften nachgeht, berichten in der Rückschau über den Teil der Ereignisse, den sie selbst erlebt haben. Jeder dieser fünf Menschen kreuzt an einem bestimmten Punkt den Lauf der Dinge, der zu Évelyne Ducasses Verschwinden führt.
Ducasse ist unabhängige Frau, obschon sie wie eine Trophäe behandelt wird von ihrem Mann, der aus der Gegend stammt und die Leute spüren lässt, zu was er es gebracht hat. Niemand von den Erzählenden überblickt, wie die Dinge zusammengehören. Und so erfährt man auch als Leser erst am Ende, wie die Vorfälle ineinander greifen. Den Auftakt macht die Sozialarbeiterin Alice, die gemeinsam mit vier anderen Frauen zuständig ist für rund 4000 Bauern. „Wir fahren die Höfe der Gegend ab und treffen uns mit denen, die kaum noch jemand besucht“, so erklärt sie ihren Job. Als sie zum ersten Mal zu Joseph Bonneville fährt, einem Schafzüchter auf dem Causse, öffnet dieser seine Tür mit einem Jagdgewehr in den Händen.
Die Bauern sind einsam und misstrauisch, sie finden keine Frauen, die das karge Landleben mit ihnen teilen wollen. In ihrem Alleinsein haben sie es irgendwann verlernt, sich auf andere einzulassen. „Joseph war ein Mann, den die Einsamkeit kaputt gemacht hat“, sagt Alice. Er ist nicht der einzige. Und es sind nicht nur die Bauern, die jahraus, jahrein alleine mit ihren Schafen und ihren Hunden vor sich hinvegetieren. Es geht vielen Bewohner in dieser entlegenen Region des Zentralmassivs so. Selbst Alice, obwohl sie verheiratet ist und es ihr Job ist, genau dagegen anzuarbeiten.
Die Einsamkeit ist das große Thema dieses Romans und die Unfähigkeit der Menschen, einander als soziale Wesen zu begegnen – neugierig, offen, empathisch. Auf der anderen Seite ist da ein immenses Bedürfnis, ja eine Gier nach Nähe. Alice und Joseph beginnen irgendwann eine Affäre, doch die Stunden mit ihr wiegen die Leere nicht auf, die ihn befällt, wenn sie wieder geht. So perfide ist die Lage: Die Menschen wagen es nicht einmal mehr zu hoffen, aus Angst vor einer weiteren, womöglich der finalen Enttäuschung.
Alices Mann wiederum lässt sich auf einen Onlineflirt ein, der ihn viel Geld kostet. Selbst als Michel erkannt hat, dass er das Opfer eines afrikanischen Internetbetrügers geworden ist, kann er sich nicht lösen von den vorgespielten Umgarnungen – zu groß ist die Bestätigung, die er darin sieht, und die Befriedigung, die ihm diese Schmeicheleien wider besseres Wissen bescheren: am Ende hat er sich in das Foto einer Pornodarstellerin verguckt. Auch er ist ein Landwirt, führt den Hof seines Schwiegervaters fort, und kommt dabei auf keinen grünen Zweig, obwohl er sich sehr ins Zeug legt.
Es gibt Figuren in dieser Geschichte, die sich die Verwundbarkeit anderer zunutze machen. Aus finanziellem Kalkül oder aus Lust an der Macht über andere. Auch Évelyne Ducasse gehört zu ihnen, die sich die junge Städterin Maribé eine Weile lang als Geliebte hält. Wann sie sich treffen, wann sie Sex miteinander haben, das bestimmt allein sie.
Am Ende führen ein paar dumme Zufälle zu einer tödlichen Eskalation. Die zu verhindern gewesen wäre, wenn nicht ein fatales Gemisch aus Kränkung und Blendung die Oberhand gewonnen hätte. An dieser Stelle hat einen Colin Niel bereits vollkommen eingenommen für seine Charaktere und deren Milieus. Die Kunst dieses Autors ist es, die Bekenntnisse seiner fünf Erzählerfiguren nicht im Widerspruch zu ihrer Wortkargheit stehen zu lassen, zu ihrer Verschrobenheit, zu ihrer Unkenntnis dessen, was außerhalb ihres eigenen engen Blickfeldes vor sich geht. Sie sind nicht dumm, Zeit zum Nachdenken haben sie schließlich genug. Aber ihre Gedanken kreisen in einem jeweils eigenen Kosmos. Diesen zu betreten, ist das eigentlich Spannende an diesem Krimi.
STEFAN FISCHER
„Wir fahren die Höfe der Gegend
ab und treffen uns mit denen,
die kaum noch jemand besucht“
Bekenntnisse nicht im
Widerspruch zu Wortkargheit
stehen zu lassen: ein Kunststück
Colin Niel: Nur die Tiere. Aus dem Französischen von Anne Thomas.
Lenos Verlag, Basel 2021.
286 Seiten, 16 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Ein umwerfender polyphoner Roman noir über die Einsamkeit im ländlichen Frankreich von heute." (Le Soir)