DEUTSCHER KRIMIPREIS 2021. Évelyne Ducat verschwindet eines Tages spurlos, und das Städtchen im französischen Zentralmassiv rätselt. Es kursieren Gerüchte und Beobachtungen. Doch nicht alles wird der Polizei preisgegeben, denn hier in der abgeschiedenen Bergwelt hüten die Menschen ihre Geheimnisse. Die Sozialarbeiterin Alice hat ein Geheimnis mit ihrem Klienten Joseph, dem einsamen Schafzüchter. Und der verhält sich nach dem Verschwinden der Frau merkwürdig. Und in welcher Beziehung stand die Verschwundene zu der jungen Maribé, die eines Tages im Städtchen auftauchte und alle Blicke auf sich zog? Mit jedem Kapitel erhält eine andere Person das Wort, und ein neues Geheimnis, ein neuer Verdacht taucht auf, bis sich das Puzzle um Évelyne Ducats Verschwinden zusammenfügt. Colin Niels preisgekrönter Roman noir ist mehr als ein raffiniert konstruierter Krimi: Er gibt ebenso fesselnd Einblick in prekäre soziale Milieus und erzählt von der verzweifelten Suche nach Liebe.Der Roman wurde von Dominik Moll fürs Kino verfilmt ("Die Verschwundene").
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.11.2021Gier nach
Nähe
Nutznießer der Einsamkeit:
Colin Niels Krimi „Nur die Tiere“
Die Tourmente, der fürchterliche Wintersturm, der über den Causse fegt, könnte Évelyne Ducasse zum Verhängnis geworden sein. Nur warum hätte sich die Industriellen-Gattin bei diesem Wetter hinauswagen sollen auf das Kalkplateau im französischen Zentralmassiv? Ihr Verschwinden gibt ein Rätsel auf – auch der örtlichen Polizei, doch um die geht es dem französischen Autor Colin Niel in seinem Krimi „Nur die Tiere“ nur am Rande.
Niel erzählt seine Geschichte in fünf Kapiteln, aus fünf verschiedenen Perspektiven. Drei Einheimische – zwei Bauern und eine Sozialarbeiterin –, dazu eine junge Großstädterin, die es in diese Provinz verschlagen hat, sowie ein Afrikaner, der in der Elfenbeinküste seinen illegalen Geschäften nachgeht, berichten in der Rückschau über den Teil der Ereignisse, den sie selbst erlebt haben. Jeder dieser fünf Menschen kreuzt an einem bestimmten Punkt den Lauf der Dinge, der zu Évelyne Ducasses Verschwinden führt.
Ducasse ist unabhängige Frau, obschon sie wie eine Trophäe behandelt wird von ihrem Mann, der aus der Gegend stammt und die Leute spüren lässt, zu was er es gebracht hat. Niemand von den Erzählenden überblickt, wie die Dinge zusammengehören. Und so erfährt man auch als Leser erst am Ende, wie die Vorfälle ineinander greifen. Den Auftakt macht die Sozialarbeiterin Alice, die gemeinsam mit vier anderen Frauen zuständig ist für rund 4000 Bauern. „Wir fahren die Höfe der Gegend ab und treffen uns mit denen, die kaum noch jemand besucht“, so erklärt sie ihren Job. Als sie zum ersten Mal zu Joseph Bonneville fährt, einem Schafzüchter auf dem Causse, öffnet dieser seine Tür mit einem Jagdgewehr in den Händen.
Die Bauern sind einsam und misstrauisch, sie finden keine Frauen, die das karge Landleben mit ihnen teilen wollen. In ihrem Alleinsein haben sie es irgendwann verlernt, sich auf andere einzulassen. „Joseph war ein Mann, den die Einsamkeit kaputt gemacht hat“, sagt Alice. Er ist nicht der einzige. Und es sind nicht nur die Bauern, die jahraus, jahrein alleine mit ihren Schafen und ihren Hunden vor sich hinvegetieren. Es geht vielen Bewohner in dieser entlegenen Region des Zentralmassivs so. Selbst Alice, obwohl sie verheiratet ist und es ihr Job ist, genau dagegen anzuarbeiten.
Die Einsamkeit ist das große Thema dieses Romans und die Unfähigkeit der Menschen, einander als soziale Wesen zu begegnen – neugierig, offen, empathisch. Auf der anderen Seite ist da ein immenses Bedürfnis, ja eine Gier nach Nähe. Alice und Joseph beginnen irgendwann eine Affäre, doch die Stunden mit ihr wiegen die Leere nicht auf, die ihn befällt, wenn sie wieder geht. So perfide ist die Lage: Die Menschen wagen es nicht einmal mehr zu hoffen, aus Angst vor einer weiteren, womöglich der finalen Enttäuschung.
Alices Mann wiederum lässt sich auf einen Onlineflirt ein, der ihn viel Geld kostet. Selbst als Michel erkannt hat, dass er das Opfer eines afrikanischen Internetbetrügers geworden ist, kann er sich nicht lösen von den vorgespielten Umgarnungen – zu groß ist die Bestätigung, die er darin sieht, und die Befriedigung, die ihm diese Schmeicheleien wider besseres Wissen bescheren: am Ende hat er sich in das Foto einer Pornodarstellerin verguckt. Auch er ist ein Landwirt, führt den Hof seines Schwiegervaters fort, und kommt dabei auf keinen grünen Zweig, obwohl er sich sehr ins Zeug legt.
Es gibt Figuren in dieser Geschichte, die sich die Verwundbarkeit anderer zunutze machen. Aus finanziellem Kalkül oder aus Lust an der Macht über andere. Auch Évelyne Ducasse gehört zu ihnen, die sich die junge Städterin Maribé eine Weile lang als Geliebte hält. Wann sie sich treffen, wann sie Sex miteinander haben, das bestimmt allein sie.
Am Ende führen ein paar dumme Zufälle zu einer tödlichen Eskalation. Die zu verhindern gewesen wäre, wenn nicht ein fatales Gemisch aus Kränkung und Blendung die Oberhand gewonnen hätte. An dieser Stelle hat einen Colin Niel bereits vollkommen eingenommen für seine Charaktere und deren Milieus. Die Kunst dieses Autors ist es, die Bekenntnisse seiner fünf Erzählerfiguren nicht im Widerspruch zu ihrer Wortkargheit stehen zu lassen, zu ihrer Verschrobenheit, zu ihrer Unkenntnis dessen, was außerhalb ihres eigenen engen Blickfeldes vor sich geht. Sie sind nicht dumm, Zeit zum Nachdenken haben sie schließlich genug. Aber ihre Gedanken kreisen in einem jeweils eigenen Kosmos. Diesen zu betreten, ist das eigentlich Spannende an diesem Krimi.
STEFAN FISCHER
„Wir fahren die Höfe der Gegend
ab und treffen uns mit denen,
die kaum noch jemand besucht“
Bekenntnisse nicht im
Widerspruch zu Wortkargheit
stehen zu lassen: ein Kunststück
Colin Niel: Nur die Tiere. Aus dem Französischen von Anne Thomas.
Lenos Verlag, Basel 2021.
286 Seiten, 16 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Nähe
Nutznießer der Einsamkeit:
Colin Niels Krimi „Nur die Tiere“
Die Tourmente, der fürchterliche Wintersturm, der über den Causse fegt, könnte Évelyne Ducasse zum Verhängnis geworden sein. Nur warum hätte sich die Industriellen-Gattin bei diesem Wetter hinauswagen sollen auf das Kalkplateau im französischen Zentralmassiv? Ihr Verschwinden gibt ein Rätsel auf – auch der örtlichen Polizei, doch um die geht es dem französischen Autor Colin Niel in seinem Krimi „Nur die Tiere“ nur am Rande.
Niel erzählt seine Geschichte in fünf Kapiteln, aus fünf verschiedenen Perspektiven. Drei Einheimische – zwei Bauern und eine Sozialarbeiterin –, dazu eine junge Großstädterin, die es in diese Provinz verschlagen hat, sowie ein Afrikaner, der in der Elfenbeinküste seinen illegalen Geschäften nachgeht, berichten in der Rückschau über den Teil der Ereignisse, den sie selbst erlebt haben. Jeder dieser fünf Menschen kreuzt an einem bestimmten Punkt den Lauf der Dinge, der zu Évelyne Ducasses Verschwinden führt.
Ducasse ist unabhängige Frau, obschon sie wie eine Trophäe behandelt wird von ihrem Mann, der aus der Gegend stammt und die Leute spüren lässt, zu was er es gebracht hat. Niemand von den Erzählenden überblickt, wie die Dinge zusammengehören. Und so erfährt man auch als Leser erst am Ende, wie die Vorfälle ineinander greifen. Den Auftakt macht die Sozialarbeiterin Alice, die gemeinsam mit vier anderen Frauen zuständig ist für rund 4000 Bauern. „Wir fahren die Höfe der Gegend ab und treffen uns mit denen, die kaum noch jemand besucht“, so erklärt sie ihren Job. Als sie zum ersten Mal zu Joseph Bonneville fährt, einem Schafzüchter auf dem Causse, öffnet dieser seine Tür mit einem Jagdgewehr in den Händen.
Die Bauern sind einsam und misstrauisch, sie finden keine Frauen, die das karge Landleben mit ihnen teilen wollen. In ihrem Alleinsein haben sie es irgendwann verlernt, sich auf andere einzulassen. „Joseph war ein Mann, den die Einsamkeit kaputt gemacht hat“, sagt Alice. Er ist nicht der einzige. Und es sind nicht nur die Bauern, die jahraus, jahrein alleine mit ihren Schafen und ihren Hunden vor sich hinvegetieren. Es geht vielen Bewohner in dieser entlegenen Region des Zentralmassivs so. Selbst Alice, obwohl sie verheiratet ist und es ihr Job ist, genau dagegen anzuarbeiten.
Die Einsamkeit ist das große Thema dieses Romans und die Unfähigkeit der Menschen, einander als soziale Wesen zu begegnen – neugierig, offen, empathisch. Auf der anderen Seite ist da ein immenses Bedürfnis, ja eine Gier nach Nähe. Alice und Joseph beginnen irgendwann eine Affäre, doch die Stunden mit ihr wiegen die Leere nicht auf, die ihn befällt, wenn sie wieder geht. So perfide ist die Lage: Die Menschen wagen es nicht einmal mehr zu hoffen, aus Angst vor einer weiteren, womöglich der finalen Enttäuschung.
Alices Mann wiederum lässt sich auf einen Onlineflirt ein, der ihn viel Geld kostet. Selbst als Michel erkannt hat, dass er das Opfer eines afrikanischen Internetbetrügers geworden ist, kann er sich nicht lösen von den vorgespielten Umgarnungen – zu groß ist die Bestätigung, die er darin sieht, und die Befriedigung, die ihm diese Schmeicheleien wider besseres Wissen bescheren: am Ende hat er sich in das Foto einer Pornodarstellerin verguckt. Auch er ist ein Landwirt, führt den Hof seines Schwiegervaters fort, und kommt dabei auf keinen grünen Zweig, obwohl er sich sehr ins Zeug legt.
Es gibt Figuren in dieser Geschichte, die sich die Verwundbarkeit anderer zunutze machen. Aus finanziellem Kalkül oder aus Lust an der Macht über andere. Auch Évelyne Ducasse gehört zu ihnen, die sich die junge Städterin Maribé eine Weile lang als Geliebte hält. Wann sie sich treffen, wann sie Sex miteinander haben, das bestimmt allein sie.
Am Ende führen ein paar dumme Zufälle zu einer tödlichen Eskalation. Die zu verhindern gewesen wäre, wenn nicht ein fatales Gemisch aus Kränkung und Blendung die Oberhand gewonnen hätte. An dieser Stelle hat einen Colin Niel bereits vollkommen eingenommen für seine Charaktere und deren Milieus. Die Kunst dieses Autors ist es, die Bekenntnisse seiner fünf Erzählerfiguren nicht im Widerspruch zu ihrer Wortkargheit stehen zu lassen, zu ihrer Verschrobenheit, zu ihrer Unkenntnis dessen, was außerhalb ihres eigenen engen Blickfeldes vor sich geht. Sie sind nicht dumm, Zeit zum Nachdenken haben sie schließlich genug. Aber ihre Gedanken kreisen in einem jeweils eigenen Kosmos. Diesen zu betreten, ist das eigentlich Spannende an diesem Krimi.
STEFAN FISCHER
„Wir fahren die Höfe der Gegend
ab und treffen uns mit denen,
die kaum noch jemand besucht“
Bekenntnisse nicht im
Widerspruch zu Wortkargheit
stehen zu lassen: ein Kunststück
Colin Niel: Nur die Tiere. Aus dem Französischen von Anne Thomas.
Lenos Verlag, Basel 2021.
286 Seiten, 16 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
"Ein umwerfender polyphoner Roman noir über die Einsamkeit im ländlichen Frankreich von heute." (Le Soir)