'Sein Talent, sein Lebensstil und sein Schicksal machten Rudolf Nurejew (1938 - 1993) weltberühmt. Er revolutionierte das Ballett und wurde sein erster großer Star. Als Mitglied der legendären Kirow-Truppe zum bekanntesten Tänzer Russlands aufgestiegen, setzte er sich im Juni 1961 bei einem Gastspiel in Paris in den Westen ab - der Beginn einer glänzenden Karriere, die ihn auf die Bühnen der ganzen Welt führte. Er arbeitete für die besten Choreographen und Ensembles seiner Zeit, in Wien, Paris, London und New York. Von schwerer Krankheit gezeichnet, nahm er 1992 Abschied von der Bühne, vom Publikum triumphal gefeiert. Wenige Monate später starb er, erst 54-jährig, an den Folgen von AIDS.
Mit der Londoner Journalistin Julie Kavanagh, selbst ehemalige Tänzerin, hat sich die ideale Biographin gefunden, urteilt begeistert die angelsächsische Presse. Kavanagh hat sich über ein Jahrzehnt lang intensiv mit Nurejew, seinem Leben und seiner Karriere beschäftigt. Sie hat Interviews mit Freunden und Weggefährten geführt, neue Quellen - darunter Nurejews KGB-Akte - erschlossen, Memoiren, Briefe und Tagebücher ausgewertet und ist an die Wirkungsstätten des Künstlers gereist. Die Geschichte seiner Zeit in Leningrad, seiner ersten Liebe, seiner Flucht war weitgehend neu zu schreiben. Entstanden ist eine beispiellos fundierte, umfassende Biographie des großen Tänzers, ein intimes Porträt, zugleich eine faszinierende Reise durch die Ballettgeschichte des 20. Jahrhunderts.
Mit der Londoner Journalistin Julie Kavanagh, selbst ehemalige Tänzerin, hat sich die ideale Biographin gefunden, urteilt begeistert die angelsächsische Presse. Kavanagh hat sich über ein Jahrzehnt lang intensiv mit Nurejew, seinem Leben und seiner Karriere beschäftigt. Sie hat Interviews mit Freunden und Weggefährten geführt, neue Quellen - darunter Nurejews KGB-Akte - erschlossen, Memoiren, Briefe und Tagebücher ausgewertet und ist an die Wirkungsstätten des Künstlers gereist. Die Geschichte seiner Zeit in Leningrad, seiner ersten Liebe, seiner Flucht war weitgehend neu zu schreiben. Entstanden ist eine beispiellos fundierte, umfassende Biographie des großen Tänzers, ein intimes Porträt, zugleich eine faszinierende Reise durch die Ballettgeschichte des 20. Jahrhunderts.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.11.2008Ein Tatar, ein Star, ein ewig junger Wilder
Wer ihn sah, der bekam eine neue Vorstellung vom Tanz: Julie Kavanaghs großartige Biographie von Rudolf Nurejew führt höchst lebendig ein exemplarisches Leben vor Augen.
Von Wiebke Hüster
Sag mir, Yvette", wandte sich Rudolf Nurejew eines Abends in Paris an die berühmte, französische Ballerina Chauviré, "warum müssen wir, wenn wir endlich alles Erforderliche wissen, aufhören?" "Das ist so, das musst du einfach akzeptieren", war ihre postwendende Antwort. Aber etwas in seiner Stimme - für sie klang es wie echtes Unglück - weckte das Gefühl in ihr, sie, die zwanzig Jahre Ältere, müsste wenigstens versuchen, ihn zu trösten: "Mein liebster Rudik-Schatz, so ist das nun mal. C'est comme ça."
C'est comme ça - das war eine Formulierung, der Nurejew keine Macht über sein Leben einräumen wollte. Er war nicht in der transsibirischen Eisenbahn irgendwo in der Nähe des Baikalsees zur Welt gekommen, um sein Leben als kommunistischer Fabrikarbeiter in der baschkirischen Sowjetrepublik zu fristen. Er hatte nicht als Kind Schritt um Schritt Folklore-Routinen gelernt, um als Gruppentänzer am Theater von Ufa zu enden - wo ihm der Direktor noch vor dem ersten festen Engagement vorhielt, er habe bereits elf Minuspunkte in Benehmen gesammelt. Und schließlich hatte Rudik auch nicht dem Leningrader Kirow-Ballett den Rücken gekehrt, um dann im Westen nur einem Meister zu dienen. Sein Hunger, seine Gier waren zu groß. Am Ende hatte er Werke von mehr als vierzig Choreographen getanzt, unter ihnen die Größten: Frederick Ashton, George Balanchine, Maurice Béjart, Glen Tetley und Kenneth McMillan.
Ein Leben, in dem der Tanz immer an erster Stelle stand.
Mit dieser Mischung aus Überheblichkeit, Rebellentum und Trotz, Jungmännerherrlichkeit und Unbesiegbarkeitsgefühl glaubte er sich lange unangreifbar - selbst durch das Alter. Als er doch erkennen musste, dass er an jenen neuralgischen Punkt gelangt war, von dem an das Tänzerleben seinem Ende zugeht - wenn die körperlichen Kräfte schwinden, während die intellektuellen und seelischen Ressourcen reicher gefüllt sind denn je -, verhielt er sich noch lange nicht entsprechend. Yvette Chauvirés ebenso pragmatische wie weise Antwort wies er zurück. "Ich gebe zu", erwiderte er in einem Interview in den achtziger Jahren, "dass manche, die mich vor fünfzehn oder zwanzig Jahren erlebt haben, enttäuscht sein könnten. Doch wenn mich jemand jetzt zum Beispiel zum ersten Mal in ,Giselle' sieht, kann ich ihm immer noch etwas vermitteln, das aus den Tiefen meiner selbst kommt, eine Idealisierung einer Geste, die sich bei keinem jungen Tänzer finden lässt, so hoch dieser auch springen mag." Das könnte man auch Bauernschläue nennen.
Wurde er ausgebuht, was um diese Zeit erstmals vorkam, quittierte er das mit eindeutigen Gesten ans Publikum. Die Kritik schrieb über seinen späten Albrecht - in "Giselle" hatte er die größten seiner Erfolge gefeiert -, er sei nur noch "ein tragischer Schatten seines früheren Selbst" gewesen. In den Charakterrollen aber, wie das neunzehnte Jahrhundert sie für die besten der Alten vorgehalten hatte, hätte er sich, wie Margot Fonteyn es für das Herumstolzieren als Königin in "Schwanensee" beschrieb, "zu Tode gelangweilt".
Julie Kavanaghs in zehnjähriger Arbeit entstandene Biographie des weltberühmten Tänzers zeichnet aus, dass sie über ihren zu neunhundert Seiten angewachsenen Detailbeschreibungen niemals solche Grundfragen eines exemplarischen Lebens für den Tanz aus dem Blick verliert. Wer hätte das Urteil und die Autorität besessen, Nurejew vom richtigen Zeitpunkt zu überzeugen, an dem es aufzuhören galt? Was ist Virtuosität - wenn Nurejew fürchtete, die Reinheit seiner von Alexander Puschkin so streng und hingebungsvoll gelehrten Linie im Westen zu verlieren? Was hat es für seine Kunst bedeutet, dass es Rudolf Nurejew gab? Wie veränderte er das westeuropäische, amerikanische und kanadische Ballett von dem Moment an, als er die Theater des Westens betrat? Was gab er, und was suchte er? Was war das Besondere an Nurejew?
Fest steht nach der Lektüre Kavanaghs, deren ähnlich ausführliche Biographie des englischen Choreographen Sir Frederick Ashton ihr längst einen Platz im Olymp der Tanzgeschichte gesichert hatte, dass Nurejews Entscheidung, in seinem Leben nichts anderes als den Tanz ernst zu nehmen, Folgen für alle Menschen in seiner Umgebung hatte, nicht nur für seine verzauberten Zuschauer oder alle jene, die ihm in professionellen Zusammenhängen begegneten. "Außergewöhnlich ungewöhnlich" nannte ihn der englische Kritiker Nigel Gosling bereits in einem ersten kleinen Artikel unmittelbar nach der Flucht in den Westen. Er und seine Frau Maud bildeten schnell Rudolfs Londoner Ersatzfamilie, ein Leben lang.
Mit der Entscheidung zur Flucht sollte Nurejew das Leben vieler Menschen beeinflussen. Sein parteitreuer Vater Hamet verwand es nie, seine Mutter Farida sah ihn nur noch einmal wieder. Zurückgebliebene Freunde wurden von der Universität verwiesen, sein geliebter Lehrer Puschkin ungezählten Verhören unterworfen, bis er grau aussah und innerlich gebrochen war.
Was Kavanagh durch die Lektüre der KGB-Akten lernte, gehört in die Rubrik "Kehrseiten des Ruhms". Genau dort entdeckte sie allerdings auch den hübschen ostdeutschen Jungen Teja. Er war, noch auf der Ballettschule, vermutlich Nurejews erste Liebe. Ganz sicher aber war er es, der Rudolf nach dessen Flucht in einem geheimen, über Hamburg versandten Brief eindringlich davor warnte, in die Sowjetunion zurückzukehren: "Der sowjetische Geheimdienst befasst sich mit Deinem Fall, und wenn Du zurückkommst, wirst Du auf der Stelle verhaftet."
Vor Gewalttätigkeiten oder einer Verhaftung durch den KGB hatte Nurejew noch lange Angst, nachdem er 1961 auf dem Pariser Flughafen Bourget, von wo aus ihn das Kirow-Ballett wegen ungebührlichen Verhaltens frühzeitig vom Gastspiel zurück nach Hause hatte schicken wollen, übergelaufen war.
Margot Fonteyns Nerz musste bei der Verhaftung nicht leiden.
Seine ersten Auftritte in neugewonnener Freiheit tanzte er mit dem Ballett des Marquis de Cuevas. Dann beginnt Kavanagh, eine der legendärsten Bühnenpartnerschaften der Theatergeschichte zu schildern: Margot Fonteyn war zweiundvierzig Jahre alt und entschlossen, ihren Job als Englands und Fred Ashtons liebliche Primaballerina aus Altersgründen - siehe oben - aufzugeben, als der dreiundzwanzigjährige Tatar sie davon überzeugte, den Ruhestand noch hinauszuschieben. Sie hielt sein Temperament im Zaum, er entdeckte ihr, dass sie eines besaß. Allein für das Ballett "Marguerite et Armand", das Ashton für die beiden schuf, hätten sich alle Mühen und Schicksalsverwicklungen gelohnt. Nur die Frage "Hat sie? Oder hat sie nicht (. . . eine wirkliche Affäre mit Nurejew gehabt?)" kann die Autorin nicht zufriedenstellend beantworten. Wer hätte gedacht, dass die Ballettwelt ihre wahren Geheimnisse besser zu hüten versteht als der englische Königshof? Wo doch Nurejew und Fonteyn in den sechziger Jahren zu den meistfotografierten Paparazzi-Zielen zählten. Jedenfalls war die Presse sofort da, als die beiden bei einem Gastspiel in San Francisco mit anderen Gästen einer Party verhaftet wurden, weil sie angeblich Haschisch geraucht hatten (was sie definitiv nicht getan hatten). Da ist der Leser zumindest beruhigt zu erfahren, dass Fonteyns bodenlangem Nerz nichts passiert ist.
Abgesehen von solchen Frivolitäten am Rande lehrt Kavanagh Entscheidendes. Warum etwa zögerten die größten Choreographen der Zeit, Ashton und Balanchine, wenn es um die Arbeit mit Nurejew ging? Weil sie gerade keine Stars wollten, so einfach ist das. Was erregte den Unmut der Pariser Tänzer gegen ihren Ballettdirektor wirklich? Nicht etwa, dass er mit Sylvie Guillem eine erst achtzehnjährige seelenverwandte "Madame Non" zum Etoile kürte. Sondern die Enttäuschung darüber, dass er mit der nächsten, ähnlich idiosynkratischen Entscheidung schon unrecht hatte. Nicht einmal Nurejew konnte objektive Gründe nennen, warum der bildschöne junge Däne Kenneth Greve Etoile der Pariser Oper sein sollte. Genauso wenig überzeugend hätte er vermutlich erklären können, warum er seine große Liebe, den etwas älteren Star Erik Bruhn, so lange betrügen musste, bis dieser es leid war. Nicht alles, was Kavanagh weiß, etwa über den Aids-Tod Nurejews und seine Ursachen, möchte auch der Leser von Biographien wider besseren Geschmack wissen. Den nächsten für immer jungen Wilden, der das Bild und das Bewusstsein des männlichen Tänzers ähnlich umfassend und erschütternd verändert, wird die Ballettwelt hoffentlich besser vor sich selbst schützen.
Julie Kavanagh: "Nurejew". Die Biografie. Aus dem Englischen von Henning Thies. Propyläen Verlag, Berlin 2008. 990 S., Abb., geb., 29,90 [Euro].
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Wer ihn sah, der bekam eine neue Vorstellung vom Tanz: Julie Kavanaghs großartige Biographie von Rudolf Nurejew führt höchst lebendig ein exemplarisches Leben vor Augen.
Von Wiebke Hüster
Sag mir, Yvette", wandte sich Rudolf Nurejew eines Abends in Paris an die berühmte, französische Ballerina Chauviré, "warum müssen wir, wenn wir endlich alles Erforderliche wissen, aufhören?" "Das ist so, das musst du einfach akzeptieren", war ihre postwendende Antwort. Aber etwas in seiner Stimme - für sie klang es wie echtes Unglück - weckte das Gefühl in ihr, sie, die zwanzig Jahre Ältere, müsste wenigstens versuchen, ihn zu trösten: "Mein liebster Rudik-Schatz, so ist das nun mal. C'est comme ça."
C'est comme ça - das war eine Formulierung, der Nurejew keine Macht über sein Leben einräumen wollte. Er war nicht in der transsibirischen Eisenbahn irgendwo in der Nähe des Baikalsees zur Welt gekommen, um sein Leben als kommunistischer Fabrikarbeiter in der baschkirischen Sowjetrepublik zu fristen. Er hatte nicht als Kind Schritt um Schritt Folklore-Routinen gelernt, um als Gruppentänzer am Theater von Ufa zu enden - wo ihm der Direktor noch vor dem ersten festen Engagement vorhielt, er habe bereits elf Minuspunkte in Benehmen gesammelt. Und schließlich hatte Rudik auch nicht dem Leningrader Kirow-Ballett den Rücken gekehrt, um dann im Westen nur einem Meister zu dienen. Sein Hunger, seine Gier waren zu groß. Am Ende hatte er Werke von mehr als vierzig Choreographen getanzt, unter ihnen die Größten: Frederick Ashton, George Balanchine, Maurice Béjart, Glen Tetley und Kenneth McMillan.
Ein Leben, in dem der Tanz immer an erster Stelle stand.
Mit dieser Mischung aus Überheblichkeit, Rebellentum und Trotz, Jungmännerherrlichkeit und Unbesiegbarkeitsgefühl glaubte er sich lange unangreifbar - selbst durch das Alter. Als er doch erkennen musste, dass er an jenen neuralgischen Punkt gelangt war, von dem an das Tänzerleben seinem Ende zugeht - wenn die körperlichen Kräfte schwinden, während die intellektuellen und seelischen Ressourcen reicher gefüllt sind denn je -, verhielt er sich noch lange nicht entsprechend. Yvette Chauvirés ebenso pragmatische wie weise Antwort wies er zurück. "Ich gebe zu", erwiderte er in einem Interview in den achtziger Jahren, "dass manche, die mich vor fünfzehn oder zwanzig Jahren erlebt haben, enttäuscht sein könnten. Doch wenn mich jemand jetzt zum Beispiel zum ersten Mal in ,Giselle' sieht, kann ich ihm immer noch etwas vermitteln, das aus den Tiefen meiner selbst kommt, eine Idealisierung einer Geste, die sich bei keinem jungen Tänzer finden lässt, so hoch dieser auch springen mag." Das könnte man auch Bauernschläue nennen.
Wurde er ausgebuht, was um diese Zeit erstmals vorkam, quittierte er das mit eindeutigen Gesten ans Publikum. Die Kritik schrieb über seinen späten Albrecht - in "Giselle" hatte er die größten seiner Erfolge gefeiert -, er sei nur noch "ein tragischer Schatten seines früheren Selbst" gewesen. In den Charakterrollen aber, wie das neunzehnte Jahrhundert sie für die besten der Alten vorgehalten hatte, hätte er sich, wie Margot Fonteyn es für das Herumstolzieren als Königin in "Schwanensee" beschrieb, "zu Tode gelangweilt".
Julie Kavanaghs in zehnjähriger Arbeit entstandene Biographie des weltberühmten Tänzers zeichnet aus, dass sie über ihren zu neunhundert Seiten angewachsenen Detailbeschreibungen niemals solche Grundfragen eines exemplarischen Lebens für den Tanz aus dem Blick verliert. Wer hätte das Urteil und die Autorität besessen, Nurejew vom richtigen Zeitpunkt zu überzeugen, an dem es aufzuhören galt? Was ist Virtuosität - wenn Nurejew fürchtete, die Reinheit seiner von Alexander Puschkin so streng und hingebungsvoll gelehrten Linie im Westen zu verlieren? Was hat es für seine Kunst bedeutet, dass es Rudolf Nurejew gab? Wie veränderte er das westeuropäische, amerikanische und kanadische Ballett von dem Moment an, als er die Theater des Westens betrat? Was gab er, und was suchte er? Was war das Besondere an Nurejew?
Fest steht nach der Lektüre Kavanaghs, deren ähnlich ausführliche Biographie des englischen Choreographen Sir Frederick Ashton ihr längst einen Platz im Olymp der Tanzgeschichte gesichert hatte, dass Nurejews Entscheidung, in seinem Leben nichts anderes als den Tanz ernst zu nehmen, Folgen für alle Menschen in seiner Umgebung hatte, nicht nur für seine verzauberten Zuschauer oder alle jene, die ihm in professionellen Zusammenhängen begegneten. "Außergewöhnlich ungewöhnlich" nannte ihn der englische Kritiker Nigel Gosling bereits in einem ersten kleinen Artikel unmittelbar nach der Flucht in den Westen. Er und seine Frau Maud bildeten schnell Rudolfs Londoner Ersatzfamilie, ein Leben lang.
Mit der Entscheidung zur Flucht sollte Nurejew das Leben vieler Menschen beeinflussen. Sein parteitreuer Vater Hamet verwand es nie, seine Mutter Farida sah ihn nur noch einmal wieder. Zurückgebliebene Freunde wurden von der Universität verwiesen, sein geliebter Lehrer Puschkin ungezählten Verhören unterworfen, bis er grau aussah und innerlich gebrochen war.
Was Kavanagh durch die Lektüre der KGB-Akten lernte, gehört in die Rubrik "Kehrseiten des Ruhms". Genau dort entdeckte sie allerdings auch den hübschen ostdeutschen Jungen Teja. Er war, noch auf der Ballettschule, vermutlich Nurejews erste Liebe. Ganz sicher aber war er es, der Rudolf nach dessen Flucht in einem geheimen, über Hamburg versandten Brief eindringlich davor warnte, in die Sowjetunion zurückzukehren: "Der sowjetische Geheimdienst befasst sich mit Deinem Fall, und wenn Du zurückkommst, wirst Du auf der Stelle verhaftet."
Vor Gewalttätigkeiten oder einer Verhaftung durch den KGB hatte Nurejew noch lange Angst, nachdem er 1961 auf dem Pariser Flughafen Bourget, von wo aus ihn das Kirow-Ballett wegen ungebührlichen Verhaltens frühzeitig vom Gastspiel zurück nach Hause hatte schicken wollen, übergelaufen war.
Margot Fonteyns Nerz musste bei der Verhaftung nicht leiden.
Seine ersten Auftritte in neugewonnener Freiheit tanzte er mit dem Ballett des Marquis de Cuevas. Dann beginnt Kavanagh, eine der legendärsten Bühnenpartnerschaften der Theatergeschichte zu schildern: Margot Fonteyn war zweiundvierzig Jahre alt und entschlossen, ihren Job als Englands und Fred Ashtons liebliche Primaballerina aus Altersgründen - siehe oben - aufzugeben, als der dreiundzwanzigjährige Tatar sie davon überzeugte, den Ruhestand noch hinauszuschieben. Sie hielt sein Temperament im Zaum, er entdeckte ihr, dass sie eines besaß. Allein für das Ballett "Marguerite et Armand", das Ashton für die beiden schuf, hätten sich alle Mühen und Schicksalsverwicklungen gelohnt. Nur die Frage "Hat sie? Oder hat sie nicht (. . . eine wirkliche Affäre mit Nurejew gehabt?)" kann die Autorin nicht zufriedenstellend beantworten. Wer hätte gedacht, dass die Ballettwelt ihre wahren Geheimnisse besser zu hüten versteht als der englische Königshof? Wo doch Nurejew und Fonteyn in den sechziger Jahren zu den meistfotografierten Paparazzi-Zielen zählten. Jedenfalls war die Presse sofort da, als die beiden bei einem Gastspiel in San Francisco mit anderen Gästen einer Party verhaftet wurden, weil sie angeblich Haschisch geraucht hatten (was sie definitiv nicht getan hatten). Da ist der Leser zumindest beruhigt zu erfahren, dass Fonteyns bodenlangem Nerz nichts passiert ist.
Abgesehen von solchen Frivolitäten am Rande lehrt Kavanagh Entscheidendes. Warum etwa zögerten die größten Choreographen der Zeit, Ashton und Balanchine, wenn es um die Arbeit mit Nurejew ging? Weil sie gerade keine Stars wollten, so einfach ist das. Was erregte den Unmut der Pariser Tänzer gegen ihren Ballettdirektor wirklich? Nicht etwa, dass er mit Sylvie Guillem eine erst achtzehnjährige seelenverwandte "Madame Non" zum Etoile kürte. Sondern die Enttäuschung darüber, dass er mit der nächsten, ähnlich idiosynkratischen Entscheidung schon unrecht hatte. Nicht einmal Nurejew konnte objektive Gründe nennen, warum der bildschöne junge Däne Kenneth Greve Etoile der Pariser Oper sein sollte. Genauso wenig überzeugend hätte er vermutlich erklären können, warum er seine große Liebe, den etwas älteren Star Erik Bruhn, so lange betrügen musste, bis dieser es leid war. Nicht alles, was Kavanagh weiß, etwa über den Aids-Tod Nurejews und seine Ursachen, möchte auch der Leser von Biographien wider besseren Geschmack wissen. Den nächsten für immer jungen Wilden, der das Bild und das Bewusstsein des männlichen Tänzers ähnlich umfassend und erschütternd verändert, wird die Ballettwelt hoffentlich besser vor sich selbst schützen.
Julie Kavanagh: "Nurejew". Die Biografie. Aus dem Englischen von Henning Thies. Propyläen Verlag, Berlin 2008. 990 S., Abb., geb., 29,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Trotz der ausufernden Nurejew-Biografik, die bis heute vorliegt, findet Dorion Weickmann Julie Kavanaghs Lebensbeschreibung des russischen Ausnahme-Tänzers bis zur letzten Seite des fast 1000-seitigen Werks lesenswert. Die britische Autorin lässt zahlreiche Zeitgenossen Nurejews zu Wort kommen, wodurch ein facettenreiches Porträt entsteht, lobt der Rezensent. Besonders positiv aufgefallen ist Weickmann, wie taktvoll Kavanagh das notorische Sexleben des Balletttänzers darstellt, das, wie der Rezensent weiß, bei manch anderem Biografen zu unendlichen "Peinlichkeiten" geführt hat. Dieses umfassende Porträt eines umjubelten, aber im persönlichen Umgang auch erklärtermaßen schwierigen Ausnahmetalents zeigt, dass die treibende Kraft des Tänzers die "sinnliche Attraktion" war, stellt Weickmann fest, dem das Buch ausnehmend gut gefallen hat, wie er deutlich macht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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