Produktdetails
- Wolffs Broschur
- Verlag: Friedenauer Presse
- Seitenzahl: 102
- Deutsch
- Abmessung: 10mm x 122mm x 183mm
- Gewicht: 124g
- ISBN-13: 9783932109171
- ISBN-10: 3932109171
- Artikelnr.: 08859635
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.12.2000Unheimlich leichte Hand
Der junge Iwan Gontscharow Von Lothar Müller
Schon der Name schillert zweideutig: Nymphodora Iwanowna, das ist ein erlesener Aufschwung, der sich im Trivialen verläuft, eine Mesalliance des Erhabenen mit dem Lächerlichen wie, sagen wir, Hermione Meier. Die drei übermütigen Feen, die dabei Pate standen und das Zwitterwesen aus der Taufe hoben, wachten im Salon des Petersburger Hofmalers Nikolai Maikow über das Zusammenspiel von Schabernack, Pfänderspiel und rhetorisch-literarischem Wettstreit. Als der junge, eben aus der Provinz nach Sankt Petersburg gekommene Iwan Gontscharow in den Salon eingeführt wurde, hatten die Feen gerade den handgeschriebenen Almanach "Das Schneeglöckchen" gegründet und ihn in der Auflage von einem Exemplar zirkulieren lassen. Vor knapp zehn Jahren hat die Friedenauer Presse daraus Gontscharows Erzählung "Die Schwere Not" (1838) gehoben, nun ist sie nicht genug dafür zu loben, die im Almanach anonym erschienene "Nymphodora Iwanowna" (1836) nachgetragen zu haben.
Wenn es hinreißend schamlose Virtuosität gibt, hier ist sie. Der vierundzwanzigjährige Autor treibt in diesem von keiner Anfängerschüchternheit gehemmten Debüt den Schneeglöckchen des Salons das zarte Läuten aus. Seinen Stoff entnimmt er den trüben, abgründigen Seiten der Großstadt. Wie ein Lumpensammler kehrt er auf kleinem Raum einen ganzen Haufen von Ereignissen zusammen, wie man sie in den Zeitungen unter "Vermischtes", in der Rubrik "faits divers" findet: den plötzlich verschwundenen Ehemann, die gräßlich verstümmelte unbekannte Leiche, die verheerende Brandkatastrophe, den Ehebrecher, der den Mann seiner Geliebten umbringt, das Wiederauftauchen eines Totgeglaubten, das Scheitern eines fast vollkommenen Verbrechens, die Rache eines Verführten an seiner Verführerin. Das ist die Welt, in der die moderne Literatur ihre Blumen des Bösen finden wird, aber der junge Gontscharow erzählt davon, als hätte er einen kleinen Strauß Schneeglöckchen in der Hand, um ihn mit einer eleganten Verbeugung der Dame des Hauses als Gastgeschenk zu überreichen.
Es ist ein unheimliches Geschenk. Sehr nah führt trotz der demonstrativ guten Laune des Erzählers die Geschichte an die Regionen des aus dem Alltag aufsteigenden Wahnsinns und des Dämonischen heran, die E.T.A. Hoffmann und Gogol erschlossen haben. Fassungslos blickt Nymphodora Iwanowna in das Gesicht des Fremden, der so unverkennbar ihr totgelaubter Mann ist und doch bestreitet, es zu sein. Ein Schwindel ergreift sie, in dem aus der Anonymität der Großstadt eine Gewißheit hervorgeht, die ihr niemand glaubt. Unablässig ziehen vor dem inneren Blick des Mörders, der seiner Strafe entgegengeht, traumhaft scharfe Schreckensbilder vorüber. Den Damen, an die er sich gern mit Beschwichtigungen und Entschuldigungen für kapriziöse Abschweifungen wendet, erspart dieser quecksilbrige Erzähler den Blick auf die verstümmelte Leiche nicht. Ihn reizt es, aus der Kolportage mit leichter Hand die ernsthafte Beunruhigung herauszulocken. Ebendiese leichte Hand, nicht der düstere Stoff, den sie unter dem unschuldig-weißen Bild der Schneeglöckchen zusammenbindet, ist am Ende das wahrhaft Unheimliche. Mit schwungvoll-beiläufiger Geste löst sie den Knoten des unerhörten Kriminalfalls, und doch bleibt am Ende Nymphodora Iwanowna als Rätsel übrig. Sie hat ihren Mann verloren, sie hat ihren Mann wiedergefunden, und die zweite Katastrophe war schlimmer als die erste. Aber sie geht wie unberührt durch die schauerliche Geschichte, und am Ende gibt die leichte Hand dem Leser den romantischen Wink, es sei hier von einer ganz außerordentlichen, unerschütterbaren Liebe die Rede gewesen. Aber dann war auch dieser Wink wieder nur eine Finte, und es bleibt durchaus ungewiß, ob die Heldin, die fast nur Zuschauerin war, am Ende in das ewige Entsetzen oder die behaglichen Freuden einer zweiten, durchaus gewöhnlichen Ehe eingeht.
Einmal macht sich der Erzähler über das leidenschaftslose Leben lustig, "das in weichen Sesseln dahindämmert oder über die Seiten eines neuen, auf alte Weise uninteressanten Romanes kriecht". Der junge Gontscharow, daran lassen Anspielungen wie diese keinen Zweifel, hat unter die lebenden Leichen, derer sich seine Erzählung annimmt, auch den zeitgenössischen Roman gezählt. Er hat auch diese Leiche wiederbelebt. Im Rückblick könnte man meinen, er habe sich in seinen frühen Erzählungen die Leidenschaften der verbrecherischen Liebe, der quecksilbrigen Unruhe und der hemmungslosen Lebensgier vom Hals geschafft, um Raum zu schaffen für den großen Roman über die Leidenschaft der Leidenschaftslosigkeit, den "Oblomow" (1859). Der Autor hinter diesem Denkmal schwerer Trägheit besaß sehr viel Witz und eine unheimlich leichte Hand. Das lehrt Nymphodora Iwanowna jeden, der es noch nicht weiß.
Ivan Goncarov: "Nymphodora Ivanovna. Eine Erzählung aus Sankt Petersburg im Jahre 1836". Aus dem Russischen übersetzt von Peter Urban. Friedenauer Presse, Berlin 2000. 104 S., br., 28 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der junge Iwan Gontscharow Von Lothar Müller
Schon der Name schillert zweideutig: Nymphodora Iwanowna, das ist ein erlesener Aufschwung, der sich im Trivialen verläuft, eine Mesalliance des Erhabenen mit dem Lächerlichen wie, sagen wir, Hermione Meier. Die drei übermütigen Feen, die dabei Pate standen und das Zwitterwesen aus der Taufe hoben, wachten im Salon des Petersburger Hofmalers Nikolai Maikow über das Zusammenspiel von Schabernack, Pfänderspiel und rhetorisch-literarischem Wettstreit. Als der junge, eben aus der Provinz nach Sankt Petersburg gekommene Iwan Gontscharow in den Salon eingeführt wurde, hatten die Feen gerade den handgeschriebenen Almanach "Das Schneeglöckchen" gegründet und ihn in der Auflage von einem Exemplar zirkulieren lassen. Vor knapp zehn Jahren hat die Friedenauer Presse daraus Gontscharows Erzählung "Die Schwere Not" (1838) gehoben, nun ist sie nicht genug dafür zu loben, die im Almanach anonym erschienene "Nymphodora Iwanowna" (1836) nachgetragen zu haben.
Wenn es hinreißend schamlose Virtuosität gibt, hier ist sie. Der vierundzwanzigjährige Autor treibt in diesem von keiner Anfängerschüchternheit gehemmten Debüt den Schneeglöckchen des Salons das zarte Läuten aus. Seinen Stoff entnimmt er den trüben, abgründigen Seiten der Großstadt. Wie ein Lumpensammler kehrt er auf kleinem Raum einen ganzen Haufen von Ereignissen zusammen, wie man sie in den Zeitungen unter "Vermischtes", in der Rubrik "faits divers" findet: den plötzlich verschwundenen Ehemann, die gräßlich verstümmelte unbekannte Leiche, die verheerende Brandkatastrophe, den Ehebrecher, der den Mann seiner Geliebten umbringt, das Wiederauftauchen eines Totgeglaubten, das Scheitern eines fast vollkommenen Verbrechens, die Rache eines Verführten an seiner Verführerin. Das ist die Welt, in der die moderne Literatur ihre Blumen des Bösen finden wird, aber der junge Gontscharow erzählt davon, als hätte er einen kleinen Strauß Schneeglöckchen in der Hand, um ihn mit einer eleganten Verbeugung der Dame des Hauses als Gastgeschenk zu überreichen.
Es ist ein unheimliches Geschenk. Sehr nah führt trotz der demonstrativ guten Laune des Erzählers die Geschichte an die Regionen des aus dem Alltag aufsteigenden Wahnsinns und des Dämonischen heran, die E.T.A. Hoffmann und Gogol erschlossen haben. Fassungslos blickt Nymphodora Iwanowna in das Gesicht des Fremden, der so unverkennbar ihr totgelaubter Mann ist und doch bestreitet, es zu sein. Ein Schwindel ergreift sie, in dem aus der Anonymität der Großstadt eine Gewißheit hervorgeht, die ihr niemand glaubt. Unablässig ziehen vor dem inneren Blick des Mörders, der seiner Strafe entgegengeht, traumhaft scharfe Schreckensbilder vorüber. Den Damen, an die er sich gern mit Beschwichtigungen und Entschuldigungen für kapriziöse Abschweifungen wendet, erspart dieser quecksilbrige Erzähler den Blick auf die verstümmelte Leiche nicht. Ihn reizt es, aus der Kolportage mit leichter Hand die ernsthafte Beunruhigung herauszulocken. Ebendiese leichte Hand, nicht der düstere Stoff, den sie unter dem unschuldig-weißen Bild der Schneeglöckchen zusammenbindet, ist am Ende das wahrhaft Unheimliche. Mit schwungvoll-beiläufiger Geste löst sie den Knoten des unerhörten Kriminalfalls, und doch bleibt am Ende Nymphodora Iwanowna als Rätsel übrig. Sie hat ihren Mann verloren, sie hat ihren Mann wiedergefunden, und die zweite Katastrophe war schlimmer als die erste. Aber sie geht wie unberührt durch die schauerliche Geschichte, und am Ende gibt die leichte Hand dem Leser den romantischen Wink, es sei hier von einer ganz außerordentlichen, unerschütterbaren Liebe die Rede gewesen. Aber dann war auch dieser Wink wieder nur eine Finte, und es bleibt durchaus ungewiß, ob die Heldin, die fast nur Zuschauerin war, am Ende in das ewige Entsetzen oder die behaglichen Freuden einer zweiten, durchaus gewöhnlichen Ehe eingeht.
Einmal macht sich der Erzähler über das leidenschaftslose Leben lustig, "das in weichen Sesseln dahindämmert oder über die Seiten eines neuen, auf alte Weise uninteressanten Romanes kriecht". Der junge Gontscharow, daran lassen Anspielungen wie diese keinen Zweifel, hat unter die lebenden Leichen, derer sich seine Erzählung annimmt, auch den zeitgenössischen Roman gezählt. Er hat auch diese Leiche wiederbelebt. Im Rückblick könnte man meinen, er habe sich in seinen frühen Erzählungen die Leidenschaften der verbrecherischen Liebe, der quecksilbrigen Unruhe und der hemmungslosen Lebensgier vom Hals geschafft, um Raum zu schaffen für den großen Roman über die Leidenschaft der Leidenschaftslosigkeit, den "Oblomow" (1859). Der Autor hinter diesem Denkmal schwerer Trägheit besaß sehr viel Witz und eine unheimlich leichte Hand. Das lehrt Nymphodora Iwanowna jeden, der es noch nicht weiß.
Ivan Goncarov: "Nymphodora Ivanovna. Eine Erzählung aus Sankt Petersburg im Jahre 1836". Aus dem Russischen übersetzt von Peter Urban. Friedenauer Presse, Berlin 2000. 104 S., br., 28 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.10.2000 Lesetip zum Wochenende
Spaß mit Skas
Diese Dame ist nicht fürs Feuer:
Gontscharows Nymphodora
„Ich würde Ihnen nicht raten, länger zu leugnen”, erklärt der Polizeimeister, „laut Untersuchung liegen Ihre Taten so offen zutage, daß ich sie Ihnen in allen Einzelheiten erzählen kann. ” Und das tut er denn auch. Ganze drei Seiten und eine halbe nimmt seine Nachzeichnung der Verbrechensplanung und des Tathergangs ein, dann ist es so weit. „– Also, Sie gestehen? – fragte der erfreute Polizeimeister. ”
Der Fall des Mörders, der, statt nach seiner Bluttat Sankt Petersburg eilends zu verlassen, in einem anderen Viertel der Stadt weiterlebte, unter dem Namen des Ermordeten, wäre für sich genommen zumindest kennenswert – und böte Stoff für eine kompakte Kalendergeschichte zum Thema: „Es ist nichts zu fein gesponnen, es kommt doch ans Licht der Sonnen. ” Natürlich sollte man nicht darauf verfallen, das hier bloß Angedeutete auf S. 87 ff. „in allen Einzelheiten” zur Kenntnis zu nehmen, bevor man sich vom wohlgelaunten Verfasser die eigentliche Geschichte hat unterbreiten lassen.
Sein Text mit dem Titel „Nymphodora Ivanovna” ist erstmals 1836 „erschienen”: anonym und in der denkbar kleinsten „Auflage” – nämlich im jeweils nur in einem einzigen Exemplar hergestellten handgeschriebenen Almanach „Podsneznik” (Schneeglöckchen), den der Hof- und Historienmaler Nikolaj Majkov für seinen literarischen Salon „herausbrachte”. In diesem Salon verkehrte seit 1835 auch der junge Beamte Iwan Gontscharow – Ivan Goncarov in der bei den Slavisten aller Länder gebräuchlichen Umschrift. Ihm, dem später weltberühmt gewordenen Verfasser des „Oblomov”, ist die erst 1959 wiederentdeckte und 1993 in der Zeitschrift Moskva erstmals gedruckte Erzählung „aufgrund zahlreicher Analogien und Übereinstimmungen eindeutig zugeordnet” worden. Das meldet uns Peter Urban, der sie aus dem Russischen importiert und als nun wohl definitiv „erste Prosaarbeit” Goncarovs in der Broschuren-Reihe der Friedenauer Presse herausgebracht hat – wie 1991 schon „Die Schwere Not”, ein weiteres Werk des Autors aus Majkovs Almanach (von 1838), die bei ihrer deutschen Premiere noch als der Erstling hatte gelten können.
Das Leben nach dem Glück
Nymphodora Ivanovna also heißt die tragikomische Heldin, eine junge, sanftmütige, wohlerzogene und naive Frau, die (wie der Autor selbst) aus der sibirischen Provinz nach Petersburg gekommen ist, und erzählt wird ihr „Leben nach dem Glück, das sie genossen hatte”. Das Glück – das war die allzu kurze Ehe, die mit dem ach so jähen Verlust des geliebten Gatten endete. Die Hinterbliebene hat die arg verstümmelte Leiche in Augenschein nehmen müssen und sie zweifelsfrei identifiziert. Merkwürdig, scheinbar unerklärlich aber ist so manches, was ihr im nunmehrigen „Leben nach dem Glück” vor Augen kommt oder widerfährt. Mitten im Text droht ihr sogar der Feuertod! Doch: „Seien Sie unbesorgt, meine Damen”, lässt sich beruhigend der Erzähler vernehmen: „Ich habe meine Geschichte erst zur Hälfte erzählt, die andere Hälfte traktiert natürlich keine lebendigen Leibes verbrannte Nymphodora. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß meine Nymphodora nicht verbrennen wird, ehe die Geschichte zu Ende ist. ”
Und schon ist der Retter in Gestalt des Nymphodoren so heiß wie heimlich anbetenden Nachbarn Astrov zur Stelle und trägt die Ohnmächtige in seine Junggesellenwohnung, neuen, vom eigentlichen Sujet nicht unbedingt geforderten Komplikationen entgegen.
Inspiriert von Gogol
Solche Einwürfe, Einlagen, Abschweifungen halten den geneigten Leser aber keineswegs unnötig auf. Nein, sie unterhalten ihn, und sie sorgen zugleich für den Unterhalt des Textes, zu dessen Grundausstattung sie gehören. Wie mancher heutige Debütant sich den Sound und die Suada Thomas Bernhards anzuverwandeln weiß, so verstand sich der 24-jährige Goncarov auf jene den Leser anredende, ihn als Gesprächspartner und Intimus einbeziehende, seine Ansichten erfragende oder antizipierende, ja ihn scheinbar an der Herstellung des Textes beteiligende Erzählweise, zu deren europäischen Großmeistern Laurence Sterne, der Diderot des „Jacques le Fataliste” und Jean Paul gehören. In ihrer russischen Spielart heißt sie „skaz” oder „skas”, und als unübertrefflicher Skas-Produzent wird der wahnwitzig-geniale Nikolaj Gogol gerühmt – Gogol, der jenen „Mantel” machte, aus dem – so sagte es Dostojewskij von sich und seinen Kollegen – „wir alle kommen”.
Zwei Stunden Spannung, Rätselei und Spaß sind allen sicher, die sich von Peter Urban einladen lassen, Nymphodora Ivanovnas höchst angenehme Bekanntschaft zu machen. Was aber nach der dramatischen Lösung des Kriminalfalles aus der jungen Witwe geworden ist, bleibt weiterhin fraglich. „Man erzählt”, endet der Erzähler, „Nymphodora habe sich ein Jahr nach diesem Vorfall mit Astrov trauen lassen, doch ich, der ich das ganze Feuer ihrer ersten Liebe kenne, bezweifle das. Wer errät schon das Herz einer Frau!”
WOLFGANG WERTH
IVAN GONCAROV. Nymphodora Ivanovna. Eine Erzählung aus Sankt Petersburg im Jahre 1836. Aus dem Russischen übersetzt und herausgegeben von Peter Urban. Friedenauer Presse, Berlin 2000. 104 Seiten, 28 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Spaß mit Skas
Diese Dame ist nicht fürs Feuer:
Gontscharows Nymphodora
„Ich würde Ihnen nicht raten, länger zu leugnen”, erklärt der Polizeimeister, „laut Untersuchung liegen Ihre Taten so offen zutage, daß ich sie Ihnen in allen Einzelheiten erzählen kann. ” Und das tut er denn auch. Ganze drei Seiten und eine halbe nimmt seine Nachzeichnung der Verbrechensplanung und des Tathergangs ein, dann ist es so weit. „– Also, Sie gestehen? – fragte der erfreute Polizeimeister. ”
Der Fall des Mörders, der, statt nach seiner Bluttat Sankt Petersburg eilends zu verlassen, in einem anderen Viertel der Stadt weiterlebte, unter dem Namen des Ermordeten, wäre für sich genommen zumindest kennenswert – und böte Stoff für eine kompakte Kalendergeschichte zum Thema: „Es ist nichts zu fein gesponnen, es kommt doch ans Licht der Sonnen. ” Natürlich sollte man nicht darauf verfallen, das hier bloß Angedeutete auf S. 87 ff. „in allen Einzelheiten” zur Kenntnis zu nehmen, bevor man sich vom wohlgelaunten Verfasser die eigentliche Geschichte hat unterbreiten lassen.
Sein Text mit dem Titel „Nymphodora Ivanovna” ist erstmals 1836 „erschienen”: anonym und in der denkbar kleinsten „Auflage” – nämlich im jeweils nur in einem einzigen Exemplar hergestellten handgeschriebenen Almanach „Podsneznik” (Schneeglöckchen), den der Hof- und Historienmaler Nikolaj Majkov für seinen literarischen Salon „herausbrachte”. In diesem Salon verkehrte seit 1835 auch der junge Beamte Iwan Gontscharow – Ivan Goncarov in der bei den Slavisten aller Länder gebräuchlichen Umschrift. Ihm, dem später weltberühmt gewordenen Verfasser des „Oblomov”, ist die erst 1959 wiederentdeckte und 1993 in der Zeitschrift Moskva erstmals gedruckte Erzählung „aufgrund zahlreicher Analogien und Übereinstimmungen eindeutig zugeordnet” worden. Das meldet uns Peter Urban, der sie aus dem Russischen importiert und als nun wohl definitiv „erste Prosaarbeit” Goncarovs in der Broschuren-Reihe der Friedenauer Presse herausgebracht hat – wie 1991 schon „Die Schwere Not”, ein weiteres Werk des Autors aus Majkovs Almanach (von 1838), die bei ihrer deutschen Premiere noch als der Erstling hatte gelten können.
Das Leben nach dem Glück
Nymphodora Ivanovna also heißt die tragikomische Heldin, eine junge, sanftmütige, wohlerzogene und naive Frau, die (wie der Autor selbst) aus der sibirischen Provinz nach Petersburg gekommen ist, und erzählt wird ihr „Leben nach dem Glück, das sie genossen hatte”. Das Glück – das war die allzu kurze Ehe, die mit dem ach so jähen Verlust des geliebten Gatten endete. Die Hinterbliebene hat die arg verstümmelte Leiche in Augenschein nehmen müssen und sie zweifelsfrei identifiziert. Merkwürdig, scheinbar unerklärlich aber ist so manches, was ihr im nunmehrigen „Leben nach dem Glück” vor Augen kommt oder widerfährt. Mitten im Text droht ihr sogar der Feuertod! Doch: „Seien Sie unbesorgt, meine Damen”, lässt sich beruhigend der Erzähler vernehmen: „Ich habe meine Geschichte erst zur Hälfte erzählt, die andere Hälfte traktiert natürlich keine lebendigen Leibes verbrannte Nymphodora. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß meine Nymphodora nicht verbrennen wird, ehe die Geschichte zu Ende ist. ”
Und schon ist der Retter in Gestalt des Nymphodoren so heiß wie heimlich anbetenden Nachbarn Astrov zur Stelle und trägt die Ohnmächtige in seine Junggesellenwohnung, neuen, vom eigentlichen Sujet nicht unbedingt geforderten Komplikationen entgegen.
Inspiriert von Gogol
Solche Einwürfe, Einlagen, Abschweifungen halten den geneigten Leser aber keineswegs unnötig auf. Nein, sie unterhalten ihn, und sie sorgen zugleich für den Unterhalt des Textes, zu dessen Grundausstattung sie gehören. Wie mancher heutige Debütant sich den Sound und die Suada Thomas Bernhards anzuverwandeln weiß, so verstand sich der 24-jährige Goncarov auf jene den Leser anredende, ihn als Gesprächspartner und Intimus einbeziehende, seine Ansichten erfragende oder antizipierende, ja ihn scheinbar an der Herstellung des Textes beteiligende Erzählweise, zu deren europäischen Großmeistern Laurence Sterne, der Diderot des „Jacques le Fataliste” und Jean Paul gehören. In ihrer russischen Spielart heißt sie „skaz” oder „skas”, und als unübertrefflicher Skas-Produzent wird der wahnwitzig-geniale Nikolaj Gogol gerühmt – Gogol, der jenen „Mantel” machte, aus dem – so sagte es Dostojewskij von sich und seinen Kollegen – „wir alle kommen”.
Zwei Stunden Spannung, Rätselei und Spaß sind allen sicher, die sich von Peter Urban einladen lassen, Nymphodora Ivanovnas höchst angenehme Bekanntschaft zu machen. Was aber nach der dramatischen Lösung des Kriminalfalles aus der jungen Witwe geworden ist, bleibt weiterhin fraglich. „Man erzählt”, endet der Erzähler, „Nymphodora habe sich ein Jahr nach diesem Vorfall mit Astrov trauen lassen, doch ich, der ich das ganze Feuer ihrer ersten Liebe kenne, bezweifle das. Wer errät schon das Herz einer Frau!”
WOLFGANG WERTH
IVAN GONCAROV. Nymphodora Ivanovna. Eine Erzählung aus Sankt Petersburg im Jahre 1836. Aus dem Russischen übersetzt und herausgegeben von Peter Urban. Friedenauer Presse, Berlin 2000. 104 Seiten, 28 Mark.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Wolfgang Werth lässt in seiner Rezension des Buches keinen Zweifel daran, dass er sich bei der Lektüre glänzend amüsiert hat. Die Erzählung von 1835, die erst 1959 wiederentdeckt und 1993 erstmals gedruckt wurde - die Originalausgabe bestand nur aus einem einzigen, handgeschriebenen Exemplar - gilt als "definitiv erste Prosaarbeit" des russischen Autors, wie der Rezensent weiß. Das Buch bietet "Spannung, Rätselei und Spaß", versichert er. Besonders die vielen Einschübe und Nebengeschichten, die vom geschilderten "Kriminalfall" ablenken und den Rezensenten an so verschiedene Autoren wie Gogol, Jean Paul und Lawrence Sterne denken lassen, tragen für ihn zur Unterhaltung und zum Gehalt der Erzählung bei. Außerdem weist er auf das Geschick hin, mit dem der Autor den Leser anspricht, zum "Gesprächspartner" macht und ihn dadurch scheinbar an der "Herstellung des Textes" beteiligt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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