Virtuos komponiert, fulminant erzählt
Mit dem Grauen, das sich im Keller des Gasthofs zugetragen hat, will er nichts zu tun haben. Doch ein Zeuge hat gesehen, wie er den Tatort verließ ...
Der Erzähler in Karl-Heinz Otts neuem Roman befindet sich in Untersuchungshaft, während diejenigen, die die Tat vermutlich begangen haben, spurlos verschwunden sind.
"Dass ausgerechnet ich hier sitzen muss, ausgerechnet ich, in diesem Loch mit einem Waschbecken, einer Kloschüssel und kahlen Wänden, und das bei schönstem Wetter, ausgerechnet ich, von dem jedes Kind weiß, dass ich keinem etwas antun könnte ..."
In einem furiosen inneren Monolog entfaltet Karl-Heinz Ott ebenso spannend wie reflexiv das Seelenpanorama einer Figur, die einmal aufgebrochen war, sich selbst und die ganze Welt zu verändern, um schließlich in jeder Hinsicht im Abseits zu landen. Dabei wird nicht nur sie selbst vom Alb der Vergangenheit eingeholt. Karl-Heinz Ott erzählt in einer so mitreißenden Sprache, dass Schrecken und Komik kaum voneinander zu unterscheiden sind.
Mit dem Grauen, das sich im Keller des Gasthofs zugetragen hat, will er nichts zu tun haben. Doch ein Zeuge hat gesehen, wie er den Tatort verließ ...
Der Erzähler in Karl-Heinz Otts neuem Roman befindet sich in Untersuchungshaft, während diejenigen, die die Tat vermutlich begangen haben, spurlos verschwunden sind.
"Dass ausgerechnet ich hier sitzen muss, ausgerechnet ich, in diesem Loch mit einem Waschbecken, einer Kloschüssel und kahlen Wänden, und das bei schönstem Wetter, ausgerechnet ich, von dem jedes Kind weiß, dass ich keinem etwas antun könnte ..."
In einem furiosen inneren Monolog entfaltet Karl-Heinz Ott ebenso spannend wie reflexiv das Seelenpanorama einer Figur, die einmal aufgebrochen war, sich selbst und die ganze Welt zu verändern, um schließlich in jeder Hinsicht im Abseits zu landen. Dabei wird nicht nur sie selbst vom Alb der Vergangenheit eingeholt. Karl-Heinz Ott erzählt in einer so mitreißenden Sprache, dass Schrecken und Komik kaum voneinander zu unterscheiden sind.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.09.2008Trau nie einer Tirade!
Gedankenmusik mit Dissonanzen: Karl-Heinz Otts Roman „Ob wir wollen oder nicht”
Ausgerechnet. Zumal. Was nicht das Geringste bedeutet. Schließlich weiß ja jeder. Stattdessen. Andererseits. In der Prosa von Karl-Heinz Ott kommt es auf die Verbindungsstellen an. Die Sätze sind so ineinander verkettet, dass aus jeder Aussage die nächste folgt und aus jeder Behauptung die Einschränkung. Textfluss und Gedankenbewegungen reißen nicht mehr ab, wenn man sich einmal auf diesen Wortstrom eingelassen hat. „Ob wir wollen oder nicht” heißt der dritte Roman des in Freiburg lebenden Dramatikers, Schriftstellers und Musikwissenschaftlers. Einmal mehr beweist er darin seine fulminante Sprachkraft in einem manischen Monolog.
Wenn es nicht so abgedroschen wäre, auf Thomas Bernhard zu verweisen, müsste man diese stilistische Nachbarschaft erwähnen. Doch anders als die vielen Bernhard-Epigonen hat Ott seine eigene Sprache. Und die Wut, die sich bei Bernhards Figuren gegen die Welt im Allgemeinen und gegen Österreich im Besonderen richtet, wendet sich bei Otts notorischen Dauerdenkern immer auch gegen sich selbst und das eigene Versagen, das von dem gesellschaftlichen Gesamtärgernis und der unerbittlich verstreichenden Zeit leider nicht zu trennen ist.
1968 und die Folgen
Die Geschichte, auf deren Boden Ott seine Redekunst diesmal entfaltet, lässt sich als knappe Kriminalhandlung zusammenfassen: Der Ich-Erzähler wurde verhaftet. Er wurde in der Gastwirtschaft gesehen, in deren Keller eine Frau übel zugerichtet worden ist. Nun muss er eine Nacht in der Gefängniszelle verbringen, wo die Klospülung klemmt und „Venceremos” an der Wand steht, wie früher in seiner WG-Küche. Er wird verhört, kommt auf freien Fuß, fährt nach Hause und wird schließlich erneut festgenommen. Der Handlungsverlauf ist nicht ganz unspannend, aber auch nicht entscheidend. Für Ott dient er allenfalls als „Knochengerüst”, das die Sprache zusammenhält.
Mit der Gastwirtin Lisa ist der Erzähler befreundet und auch mit dem Pfarrer Johannes, der vor Jahren wegen Kindesmissbrauchs angeklagt und freigesprochen wurde, danach den Dienst quittierte und nun in dem alten Bahnwärterhäuschen lebt, in dem der Ich-Erzähler einst seine WG-Zeit verbrachte. Lisa und der Pfarrer sind nach der Tat auf der Flucht. Der Erzähler muss sich an ihrer Stelle verantworten und ist, wie sich mehr und mehr verdichtet, nicht ganz so unschuldig, wie er recht heftig behauptet. Seiner Tirade ist nicht wirklich zu trauen. Das, was an subkutanen Empfindungen und Bedeutungen spürbar wird, dementiert er zugleich. Die Spannung entsteht durch diese Diskrepanz zwischen Textoberfläche und Verborgenem.
Nach und nach wird eine durchaus tragisch zu nennende Biographie kenntlich, die man mit dem Stempel „1968 und die Folgen” versehen könnte. Doch dann wäre die Gefahr groß, diese Figur als typischen Vertreter einer Generation einzuordnen, die sich in ihren Weltverbesserungsphantasien und Revolutionsfiktionen verloren hat und die schließlich so sehr im Abseits landete, dass es nicht einmal mehr gelingen will, das eigene Leben zu verändern.
Ott zielt aber gerade nicht auf das Typische, sondern auf das ganz und gar Persönliche, ja mehr noch, auf die diffuse Vielfalt des inneren Erlebens, wo sich die Erinnerungen überstürzen, die Rechtfertigungen in Selbstanklagen umschlagen, erotische Phantasien wuchern und Hass und Liebe nicht immer auseinanderzuhalten sind. Und weil diese innere Dynamik nie versiegt, kann auch seine Prosa kein Ende finden. Dass der Text irgendwann abbricht, ist sein einziger Mangel, der aber allein der Äußerlichkeit geschuldet ist, dass er nun mal von zwei Buchdeckeln begrenzt werden muss.
Haydns „Schöpfung” ohne Ende
Lisa, der ehemalige Pfarrer und der Ich-Erzähler sind ein Trio, das in der Monotonie des Provinzlebens enger zusammenhängt, als es ihnen guttut. Der Pfarrer doziert über Bibelstellen und hört endlos Haydns „Schöpfung”. Der Erzähler ist sein treuer Zeuge. Ob er mit Lisa immer noch zusammen ist, kann er seinem Untersuchungsrichter nicht sagen, da sie ihn doch immer so ansah, „als müsse sie sich für etwas rächen, das nicht einmal einen richtigen Namen besitzt, als verselbständigten sich manche Gefühle zuweilen derart, dass sie gar keinen Anlass mehr brauchen, um sich in Wallung zu bringen”.
Ort des Geschehens – wenn man Gedanken als Geschehen bezeichnen möchte – ist ein kleines Dorf im Schwarzwald mit Metzger, Frisör, Polizist, dilettierendem Künstler und Stammtischrunde. Man kennt sich gegenseitig und jede mögliche Bewegung. Der Erzähler hatte nach seiner revolutionären Jugend und Marxismus-Seminaren an der Uni als Tankstellenpächter ein gutes Auskommen, bis eine große Autobrücke über das Tal gebaut wurde, in deren Schatten die Tankstelle verrostet und das Dorf in völliger Abgeschiedenheit vor sich hindämmert. Es ist „Ruhe eingekehrt”. Der Verdacht, dass erst etwas passieren muss, „damit wir nicht restlos vergessen werden”, ist nicht von der Hand zu weisen. Nach Lage der Dinge kann das eben nur ein Verbrechen sein. „Andererseits”, lässt Ott seinen Erzähler fortsetzen, „andererseits gibt es mehr als genug Leute, die sich nach einer solchen Ruhe sehnen, wie wir sie hier haben, einer Ruhe, die einen ganz unruhig machen kann, sodass man nie weiß, ob dieses Leben eigentlich schwer erträglich ist oder kaum etwas zu wünschen übrig lässt”.
Diese permanente Ambivalenz eines um sich selbst zirkelnden Denkens ist das, was von der Schule der Dialektik übrig geblieben ist. Der Ich-Erzähler schwankt zwischen Larmoyanz und Gnadenlosigkeit, Scharfblick und Vertuschung. Es ist eine endlose Bewegung ohne Ziel, in der die Ziellosigkeit eines Lebens machtvoll zu Sprache wird. Ott bringt das in eine Grammatik der Präzision und der Verschleifungen, sodass schon der Stil den Seelenzustand auszudrücken vermag. Er orientiert sich damit am französischen Geschichtsschreiber Jules Michelet, für den Stil „nichts anderes als die Bewegung der Seele” war.
„Gedankenmusik” hat Ott das unlängst in einem Radioessay genannt, in dem er sich gegen literaturtheoretisch fundierte Lesarten – von Literatursoziologie bis zu Gender Studies – wandte, die geeint seien durch die Konzentration auf das „Inhaltistische und die schiere Blindheit gegenüber dem, was Literatur zu Literatur und Leseerlebnisse zu Leseerlebnissen macht”. Die Intensität der ästhetischen Erfahrung, die er etwa mit Peter Handkes „Wunschloses Unglück” oder mit Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit” machte, lässt sich auch in seiner eigenen Prosa finden. Seine Ansprüche an Literatur als Rhythmus und Stimmung sind darin glücklich eingelöst. Da geht es in der Tat „um den Gang und Klang der Wörter”, die als Musik wahrnehmbar werden und im Leser „etwas zum Klingen bringen”.
Warum sind die Richter so jung?
Deshalb ist „Ob wir wollen oder nicht” ein Roman, der nicht sosehr besprochen als vielmehr laut gelesen, gehört, zitiert werden muss. Jedes Detail enthält auch das Ganze, jede zufällige Szene verweist zurück auf den Lebenszusammenhang. Wie zum Beispiel die Konfrontation des Erzählers mit dem Untersuchungsrichter: „Dass sogenannte Autoritätspersonen wie dieser Richter inzwischen viel jünger sind als ich, stellt die Welt auf den Kopf. Im Grunde konnte ich mir so etwas nie vorstellen. Da waren wir immer gegen alle, zu denen man aufblicken musste, und jetzt könnten es die eigenen Kinder sein, ohne dass man selbst je einer von denen gewesen wäre, vor denen die Leute hätten Respekt haben müssen.”JÖRG MAGENAU
KARL-HEINZ OTT: Ob wir wollen oder nicht. Roman. Verlag Hoffmann & Campe, Hamburg 2008. 206 S., 19,95 Euro.
Unheilvolle Abgeschiedenheit mit Autobahnanschluss: Im Schwarzwald, 2005. Foto: Linn Schroeder/Ostkreuz
Karl-Heinz Ott, Jahrgang 1957 Foto: Brigitte Friedrich
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Gedankenmusik mit Dissonanzen: Karl-Heinz Otts Roman „Ob wir wollen oder nicht”
Ausgerechnet. Zumal. Was nicht das Geringste bedeutet. Schließlich weiß ja jeder. Stattdessen. Andererseits. In der Prosa von Karl-Heinz Ott kommt es auf die Verbindungsstellen an. Die Sätze sind so ineinander verkettet, dass aus jeder Aussage die nächste folgt und aus jeder Behauptung die Einschränkung. Textfluss und Gedankenbewegungen reißen nicht mehr ab, wenn man sich einmal auf diesen Wortstrom eingelassen hat. „Ob wir wollen oder nicht” heißt der dritte Roman des in Freiburg lebenden Dramatikers, Schriftstellers und Musikwissenschaftlers. Einmal mehr beweist er darin seine fulminante Sprachkraft in einem manischen Monolog.
Wenn es nicht so abgedroschen wäre, auf Thomas Bernhard zu verweisen, müsste man diese stilistische Nachbarschaft erwähnen. Doch anders als die vielen Bernhard-Epigonen hat Ott seine eigene Sprache. Und die Wut, die sich bei Bernhards Figuren gegen die Welt im Allgemeinen und gegen Österreich im Besonderen richtet, wendet sich bei Otts notorischen Dauerdenkern immer auch gegen sich selbst und das eigene Versagen, das von dem gesellschaftlichen Gesamtärgernis und der unerbittlich verstreichenden Zeit leider nicht zu trennen ist.
1968 und die Folgen
Die Geschichte, auf deren Boden Ott seine Redekunst diesmal entfaltet, lässt sich als knappe Kriminalhandlung zusammenfassen: Der Ich-Erzähler wurde verhaftet. Er wurde in der Gastwirtschaft gesehen, in deren Keller eine Frau übel zugerichtet worden ist. Nun muss er eine Nacht in der Gefängniszelle verbringen, wo die Klospülung klemmt und „Venceremos” an der Wand steht, wie früher in seiner WG-Küche. Er wird verhört, kommt auf freien Fuß, fährt nach Hause und wird schließlich erneut festgenommen. Der Handlungsverlauf ist nicht ganz unspannend, aber auch nicht entscheidend. Für Ott dient er allenfalls als „Knochengerüst”, das die Sprache zusammenhält.
Mit der Gastwirtin Lisa ist der Erzähler befreundet und auch mit dem Pfarrer Johannes, der vor Jahren wegen Kindesmissbrauchs angeklagt und freigesprochen wurde, danach den Dienst quittierte und nun in dem alten Bahnwärterhäuschen lebt, in dem der Ich-Erzähler einst seine WG-Zeit verbrachte. Lisa und der Pfarrer sind nach der Tat auf der Flucht. Der Erzähler muss sich an ihrer Stelle verantworten und ist, wie sich mehr und mehr verdichtet, nicht ganz so unschuldig, wie er recht heftig behauptet. Seiner Tirade ist nicht wirklich zu trauen. Das, was an subkutanen Empfindungen und Bedeutungen spürbar wird, dementiert er zugleich. Die Spannung entsteht durch diese Diskrepanz zwischen Textoberfläche und Verborgenem.
Nach und nach wird eine durchaus tragisch zu nennende Biographie kenntlich, die man mit dem Stempel „1968 und die Folgen” versehen könnte. Doch dann wäre die Gefahr groß, diese Figur als typischen Vertreter einer Generation einzuordnen, die sich in ihren Weltverbesserungsphantasien und Revolutionsfiktionen verloren hat und die schließlich so sehr im Abseits landete, dass es nicht einmal mehr gelingen will, das eigene Leben zu verändern.
Ott zielt aber gerade nicht auf das Typische, sondern auf das ganz und gar Persönliche, ja mehr noch, auf die diffuse Vielfalt des inneren Erlebens, wo sich die Erinnerungen überstürzen, die Rechtfertigungen in Selbstanklagen umschlagen, erotische Phantasien wuchern und Hass und Liebe nicht immer auseinanderzuhalten sind. Und weil diese innere Dynamik nie versiegt, kann auch seine Prosa kein Ende finden. Dass der Text irgendwann abbricht, ist sein einziger Mangel, der aber allein der Äußerlichkeit geschuldet ist, dass er nun mal von zwei Buchdeckeln begrenzt werden muss.
Haydns „Schöpfung” ohne Ende
Lisa, der ehemalige Pfarrer und der Ich-Erzähler sind ein Trio, das in der Monotonie des Provinzlebens enger zusammenhängt, als es ihnen guttut. Der Pfarrer doziert über Bibelstellen und hört endlos Haydns „Schöpfung”. Der Erzähler ist sein treuer Zeuge. Ob er mit Lisa immer noch zusammen ist, kann er seinem Untersuchungsrichter nicht sagen, da sie ihn doch immer so ansah, „als müsse sie sich für etwas rächen, das nicht einmal einen richtigen Namen besitzt, als verselbständigten sich manche Gefühle zuweilen derart, dass sie gar keinen Anlass mehr brauchen, um sich in Wallung zu bringen”.
Ort des Geschehens – wenn man Gedanken als Geschehen bezeichnen möchte – ist ein kleines Dorf im Schwarzwald mit Metzger, Frisör, Polizist, dilettierendem Künstler und Stammtischrunde. Man kennt sich gegenseitig und jede mögliche Bewegung. Der Erzähler hatte nach seiner revolutionären Jugend und Marxismus-Seminaren an der Uni als Tankstellenpächter ein gutes Auskommen, bis eine große Autobrücke über das Tal gebaut wurde, in deren Schatten die Tankstelle verrostet und das Dorf in völliger Abgeschiedenheit vor sich hindämmert. Es ist „Ruhe eingekehrt”. Der Verdacht, dass erst etwas passieren muss, „damit wir nicht restlos vergessen werden”, ist nicht von der Hand zu weisen. Nach Lage der Dinge kann das eben nur ein Verbrechen sein. „Andererseits”, lässt Ott seinen Erzähler fortsetzen, „andererseits gibt es mehr als genug Leute, die sich nach einer solchen Ruhe sehnen, wie wir sie hier haben, einer Ruhe, die einen ganz unruhig machen kann, sodass man nie weiß, ob dieses Leben eigentlich schwer erträglich ist oder kaum etwas zu wünschen übrig lässt”.
Diese permanente Ambivalenz eines um sich selbst zirkelnden Denkens ist das, was von der Schule der Dialektik übrig geblieben ist. Der Ich-Erzähler schwankt zwischen Larmoyanz und Gnadenlosigkeit, Scharfblick und Vertuschung. Es ist eine endlose Bewegung ohne Ziel, in der die Ziellosigkeit eines Lebens machtvoll zu Sprache wird. Ott bringt das in eine Grammatik der Präzision und der Verschleifungen, sodass schon der Stil den Seelenzustand auszudrücken vermag. Er orientiert sich damit am französischen Geschichtsschreiber Jules Michelet, für den Stil „nichts anderes als die Bewegung der Seele” war.
„Gedankenmusik” hat Ott das unlängst in einem Radioessay genannt, in dem er sich gegen literaturtheoretisch fundierte Lesarten – von Literatursoziologie bis zu Gender Studies – wandte, die geeint seien durch die Konzentration auf das „Inhaltistische und die schiere Blindheit gegenüber dem, was Literatur zu Literatur und Leseerlebnisse zu Leseerlebnissen macht”. Die Intensität der ästhetischen Erfahrung, die er etwa mit Peter Handkes „Wunschloses Unglück” oder mit Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit” machte, lässt sich auch in seiner eigenen Prosa finden. Seine Ansprüche an Literatur als Rhythmus und Stimmung sind darin glücklich eingelöst. Da geht es in der Tat „um den Gang und Klang der Wörter”, die als Musik wahrnehmbar werden und im Leser „etwas zum Klingen bringen”.
Warum sind die Richter so jung?
Deshalb ist „Ob wir wollen oder nicht” ein Roman, der nicht sosehr besprochen als vielmehr laut gelesen, gehört, zitiert werden muss. Jedes Detail enthält auch das Ganze, jede zufällige Szene verweist zurück auf den Lebenszusammenhang. Wie zum Beispiel die Konfrontation des Erzählers mit dem Untersuchungsrichter: „Dass sogenannte Autoritätspersonen wie dieser Richter inzwischen viel jünger sind als ich, stellt die Welt auf den Kopf. Im Grunde konnte ich mir so etwas nie vorstellen. Da waren wir immer gegen alle, zu denen man aufblicken musste, und jetzt könnten es die eigenen Kinder sein, ohne dass man selbst je einer von denen gewesen wäre, vor denen die Leute hätten Respekt haben müssen.”JÖRG MAGENAU
KARL-HEINZ OTT: Ob wir wollen oder nicht. Roman. Verlag Hoffmann & Campe, Hamburg 2008. 206 S., 19,95 Euro.
Unheilvolle Abgeschiedenheit mit Autobahnanschluss: Im Schwarzwald, 2005. Foto: Linn Schroeder/Ostkreuz
Karl-Heinz Ott, Jahrgang 1957 Foto: Brigitte Friedrich
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Wie Kafkas Josef K. ergeht es dem Ich-Erzähler in Karl-Heinz Otts Parabel auf einen Mann, der sich aus heiterem Himmel im Gefängnis wiederfindet, so Ulrich Rüdenauer, der sich durch ausschweifende Satzkonstruktionen und "grammatikalische Ungetüme" hindurch gelesen hat und trotzdem Gefallen an diesem verschachtelten Roman findet. Dessen Sprache "lädt zwar nicht zum Tanzen ein", bringt aber dennoch eine eigene Musikalität hervor, die in ihrer Monologhaftigkeit an Thomas Bernhardt erinnert. Der vor sich hin brütende Ich-Erzähler wälzt also Gedanken auf Gedanken, aus welchen sich der Leser, wenn er durchhält, die nicht gesicherten Gründe für den Gefängnisaufenthalt erschließen kann. Dabei geht es nicht vordergründig um das Verbrechen, dessen der Mann beschuldigt wird, sondern um die beteiligten Personen, die seit langer Zeit miteinander bekannt ein ehemals hoffnungsvolles, inzwischen desillusioniertes Provinzleben führen: "Das Verbrechen, dessen sich der Held schuldig macht, ist vielleicht seine Passivität", so Rüdenauer, der den Roman empfiehlt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.02.2009Auch Unschuld ist nur eine Frage der Sprache
Reden über Gott und die Welt - das ist gar nicht so einfach. Karl-Heinz Ott hat einen Heimatroman und Krimi geschrieben, der erste und letzte Fragen so elegant wie abgründig löst.
Von Edo Reents
Welchen Nutzen haben vergleichende Bibelstudien? Man lernt, wenn man Wittgenstein zu anstrengend findet, "dass alles nur eine Frage der Sprache" ist. Der Philosoph hatte ja nur von sich gesprochen, als er behauptete: "Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt." Aber vielleicht war seine Sprache einfach zu beschränkt, und eine andere hätte die Grenze der Welt weiter hinaus schieben oder gar aufheben können? Wer Letzteres annimmt, ist schon mitten in der Theologie. Zwar will das Neue Testament wissen, dass im Anfang das Wort war; aber der Glaube an eine Wahrheit, die sich anders als sprachlich offenbart, lässt sich deswegen noch nicht preisgeben.
Das also nutzen vergleichende Bibelstudien: Sie lehren, dass alles nur eine Frage der Sprache ist. Ein Pfarrer weiß das. Und Pfarrer Johannes spricht da aus Erfahrung: "Mit Worten könne man Prozesse gewinnen, Prozesse verlieren, Prozesse verhindern, dozierte er daher, was bei einem, der freigesprochen wurde, ungute Gedanken aufkommen lassen kann, als sei auch Unschuld nur eine Frage der Sprache." Johannes hat einen Prozess wegen Kindesmissbrauchs vor sieben Jahren zwar gewonnen; aber was hilft ihm das, wenn seine Sprachkritik ihm die Tatsache, dass er heil aus der Sache herausgekommen ist, ebenfalls im Zwielicht erscheinen lässt? Ein anderer Name dafür ist Ambivalenz: Man kann es drehen und wenden, wie man will. In der Musik spricht man von enharmonischer Verwechslung: Jede Note ist erhöht oder erniedrigt, wie man will.
Es verwundert nicht, dass ein auch musikalisch mit allen Weihwassern gewaschener Schriftsteller wie Karl-Heinz Ott mit diesem Sachverhalt etwas anfangen kann, das die sprachkritischen Erwägungen etwa seines südbadischen Kollegen Martin Walser an Subtilität weit übertrifft. Zwar siedelt sein dritter Roman "Ob wir wollen oder nicht" stofflich und personell im Bermudadreieck der ewigen, dabei aber natürlich sehr unterschiedlichen Schwadroneure Thomas Bernhard, Eckhard Henscheid, Andreas Maier; im Grunde ist er aber, an der Schnittstelle zwischen Philosophie, Theologie und Musik, ein Anverwandter von Thomas Manns "Doktor Faustus" und setzt wie dieser die Ambivalenz als menschliche Grundempfindung ins Werk.
Dieser Befund mag überraschen angesichts eines Zweihundert-Seiten-Romans, der auf nationalpsychologische Repräsentanz keinen Anspruch erhebt und auch eines mythischen Einschlages weitgehend entbehrt. Aber Ott hat einen Kriminal- und Heimatroman geschrieben, dessen Welthaltigkeit imponiert. Das ist womöglich eine Folge des literarischen Verfahrens: Der Held Richard T., ein Tankstellenpächter, erzählt die ganze, sich eigentlich nur auf zwei Tage im Südschwarzwald erstreckende Handlung in Form eines inneren Monologs, der nur sehr gelegentlich von Dialogen unterbrochen wird, die dann allerdings umso größere Prägnanz haben. Die entscheidende Vorgeschichte bildet der Pädophilenprozess gegen den Pfarrer Johannes, der mit Richard eine Freundschaft unterhielt, die auf alltäglichen Besorgungen und Gesprächen buchstäblich über Gott und die Welt fußte, aber nichts dazwischen kannte.
Der Roman setzt dann damit ein, dass Richard im Gefängnis sitzt, zunächst, wie er glaubt, nur für eine Nacht, aber das ist für ihn, der sich unschuldig wähnt, Strafe genug. In einer bis in die feinsten Bewusstseinswinkel vordringenden, so schmerzlichen wie komischen Selbstbefragung rekonstruiert er, wie es dazu gekommen sein könnte: Ihm wird unterlassene Hilfeleistung bei einer Gewalttat vorgeworfen, die Johannes und dessen Geliebte, die Wirtin Lisa, die einmal seine eigene Freundin war, gemeinsam begangen haben - an der Mutter der Kinder, die vor sieben Jahren von Johannes (möglicherweise) missbraucht wurden. Diese konnte sich mit dem Freispruch offenbar nicht abfinden, überlebt aber, wie sich später herausstellt, die schwere Misshandlung durch Johannes und Lisa, die sich daraufhin aus dem Staub machen und den nun doppelt düpierten Richard zurücklassen, den eine Zeugenaussage in Untersuchungshaft bringt.
Tankstellenpächter, Pfarrer, Wirtin - man kennt solche Arrangements von Bernhard, Henscheid und Maier. Anders als diesen geht es Ott aber nicht um nationale/regionale Ehrabschneidereien, die Macht des Geschwätzes oder den höheren Blödsinn der Satire. Er malt ein Spektrum von Schuldfragen, aus dem das Grau als leuchtendste Farbe heraussticht. Denn es ist, wie Richard sich vom Pfarrer in alkoholisierten Kolloquien eintrichtern lässt, alles eine Frage der Sprache, "schließlich hatte Johannes eines Tages behauptet, es sei bei seiner Gerichtsverhandlung, wie bei allen anderen auch, um nichts als Worte gegangen, was beinahe so klang, als besitze das, was wirklich passiert ist, nicht die geringste Bedeutung".
Was aber ist wirklich passiert? Und: Was ist Wahrheit? Zwischen die unablässigen Rekonstruktionen des bis zuletzt im Vagen bleibenden Geschehens schiebt sich eine Vergangenheitsbewältigung von beachtlicher selbstkritischer Schärfe. Das an die Zellenwand geschmierte und mit zehn Ausrufungszeichen versehene Venceremos setzt bei Richard T. eine Selbstbefragung in Gang, die ihn als verkrachte Existenz ausweist und sich um Grunde auf eine ganze Generation von gleichermaßen friedensbewegt-gesellschaftskritischen wie hedonistischen jungen Leuten bezieht. Ohne Sentimentalität rechnet hier wohl auch Ott selber, Jahrgang 1957, mit verlorenen Illusionen und Utopien ab.
Matt leuchten die damals schon öden WG-Tage in einem Bahnwärterhäuschen noch einmal auf, in dem Richard seine besten Jahre verdämmert hat und in das später der Pfarrer Johannes einzog, der nach dem eigentlich so günstigen Gerichtsurteil zum Eremiten wurde, dem nur noch die Bibeln blieben. Das Studium vor der Zeit abgebrochen; die einstmals so einträgliche Tankstelle heruntergewirtschaftet, nachdem ein Brückenbau den Ort vollends von der Außenwelt isoliert hat; alle Gelegenheiten, bei denen das Leben noch eine Wende zum Besseren hätte nehmen können, verpasst: Richard steht vor einem Scherbenhaufen, bleibt aber bis zuletzt ehrlich zu sich selbst. Etwas anderes hätte auch keinen Sinn, wo es am Ende die Sprache ist, die Tatsachen schafft: Tun oder unterlassen, lügen oder verschweigen - das sind genuin theologische Fragen.
Doch die Grenzen dazwischen sind fließend, wenn man um die Macht von Relativierungen weiß und die Sub- und Konjunktionen, das "obwohl", "weil" und "zumal" nur richtig einzusetzen weiß wie Ott in diesem ganz und gar meisterhaften, abgründig spekulativen Roman, der dem von der Literaturkritik so gern bemühten Begriff des Solipsismus neue Dimensionen verleiht. Worüber man nicht reden kann, darüber sollte man schweigen? Ott widerlegt Wittgensteins abgegriffene Behauptung, indem er die Unausweichlichkeit, die sein Romantitel vermittelt, mit einem wortmusikalischen Zauber elegant aufhebt.
Karl-Heinz Ott: "Ob wir wollen oder nicht". Roman. Hoffmann und Campe, Hamburg 2008. 206 S., geb., 17,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Reden über Gott und die Welt - das ist gar nicht so einfach. Karl-Heinz Ott hat einen Heimatroman und Krimi geschrieben, der erste und letzte Fragen so elegant wie abgründig löst.
Von Edo Reents
Welchen Nutzen haben vergleichende Bibelstudien? Man lernt, wenn man Wittgenstein zu anstrengend findet, "dass alles nur eine Frage der Sprache" ist. Der Philosoph hatte ja nur von sich gesprochen, als er behauptete: "Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt." Aber vielleicht war seine Sprache einfach zu beschränkt, und eine andere hätte die Grenze der Welt weiter hinaus schieben oder gar aufheben können? Wer Letzteres annimmt, ist schon mitten in der Theologie. Zwar will das Neue Testament wissen, dass im Anfang das Wort war; aber der Glaube an eine Wahrheit, die sich anders als sprachlich offenbart, lässt sich deswegen noch nicht preisgeben.
Das also nutzen vergleichende Bibelstudien: Sie lehren, dass alles nur eine Frage der Sprache ist. Ein Pfarrer weiß das. Und Pfarrer Johannes spricht da aus Erfahrung: "Mit Worten könne man Prozesse gewinnen, Prozesse verlieren, Prozesse verhindern, dozierte er daher, was bei einem, der freigesprochen wurde, ungute Gedanken aufkommen lassen kann, als sei auch Unschuld nur eine Frage der Sprache." Johannes hat einen Prozess wegen Kindesmissbrauchs vor sieben Jahren zwar gewonnen; aber was hilft ihm das, wenn seine Sprachkritik ihm die Tatsache, dass er heil aus der Sache herausgekommen ist, ebenfalls im Zwielicht erscheinen lässt? Ein anderer Name dafür ist Ambivalenz: Man kann es drehen und wenden, wie man will. In der Musik spricht man von enharmonischer Verwechslung: Jede Note ist erhöht oder erniedrigt, wie man will.
Es verwundert nicht, dass ein auch musikalisch mit allen Weihwassern gewaschener Schriftsteller wie Karl-Heinz Ott mit diesem Sachverhalt etwas anfangen kann, das die sprachkritischen Erwägungen etwa seines südbadischen Kollegen Martin Walser an Subtilität weit übertrifft. Zwar siedelt sein dritter Roman "Ob wir wollen oder nicht" stofflich und personell im Bermudadreieck der ewigen, dabei aber natürlich sehr unterschiedlichen Schwadroneure Thomas Bernhard, Eckhard Henscheid, Andreas Maier; im Grunde ist er aber, an der Schnittstelle zwischen Philosophie, Theologie und Musik, ein Anverwandter von Thomas Manns "Doktor Faustus" und setzt wie dieser die Ambivalenz als menschliche Grundempfindung ins Werk.
Dieser Befund mag überraschen angesichts eines Zweihundert-Seiten-Romans, der auf nationalpsychologische Repräsentanz keinen Anspruch erhebt und auch eines mythischen Einschlages weitgehend entbehrt. Aber Ott hat einen Kriminal- und Heimatroman geschrieben, dessen Welthaltigkeit imponiert. Das ist womöglich eine Folge des literarischen Verfahrens: Der Held Richard T., ein Tankstellenpächter, erzählt die ganze, sich eigentlich nur auf zwei Tage im Südschwarzwald erstreckende Handlung in Form eines inneren Monologs, der nur sehr gelegentlich von Dialogen unterbrochen wird, die dann allerdings umso größere Prägnanz haben. Die entscheidende Vorgeschichte bildet der Pädophilenprozess gegen den Pfarrer Johannes, der mit Richard eine Freundschaft unterhielt, die auf alltäglichen Besorgungen und Gesprächen buchstäblich über Gott und die Welt fußte, aber nichts dazwischen kannte.
Der Roman setzt dann damit ein, dass Richard im Gefängnis sitzt, zunächst, wie er glaubt, nur für eine Nacht, aber das ist für ihn, der sich unschuldig wähnt, Strafe genug. In einer bis in die feinsten Bewusstseinswinkel vordringenden, so schmerzlichen wie komischen Selbstbefragung rekonstruiert er, wie es dazu gekommen sein könnte: Ihm wird unterlassene Hilfeleistung bei einer Gewalttat vorgeworfen, die Johannes und dessen Geliebte, die Wirtin Lisa, die einmal seine eigene Freundin war, gemeinsam begangen haben - an der Mutter der Kinder, die vor sieben Jahren von Johannes (möglicherweise) missbraucht wurden. Diese konnte sich mit dem Freispruch offenbar nicht abfinden, überlebt aber, wie sich später herausstellt, die schwere Misshandlung durch Johannes und Lisa, die sich daraufhin aus dem Staub machen und den nun doppelt düpierten Richard zurücklassen, den eine Zeugenaussage in Untersuchungshaft bringt.
Tankstellenpächter, Pfarrer, Wirtin - man kennt solche Arrangements von Bernhard, Henscheid und Maier. Anders als diesen geht es Ott aber nicht um nationale/regionale Ehrabschneidereien, die Macht des Geschwätzes oder den höheren Blödsinn der Satire. Er malt ein Spektrum von Schuldfragen, aus dem das Grau als leuchtendste Farbe heraussticht. Denn es ist, wie Richard sich vom Pfarrer in alkoholisierten Kolloquien eintrichtern lässt, alles eine Frage der Sprache, "schließlich hatte Johannes eines Tages behauptet, es sei bei seiner Gerichtsverhandlung, wie bei allen anderen auch, um nichts als Worte gegangen, was beinahe so klang, als besitze das, was wirklich passiert ist, nicht die geringste Bedeutung".
Was aber ist wirklich passiert? Und: Was ist Wahrheit? Zwischen die unablässigen Rekonstruktionen des bis zuletzt im Vagen bleibenden Geschehens schiebt sich eine Vergangenheitsbewältigung von beachtlicher selbstkritischer Schärfe. Das an die Zellenwand geschmierte und mit zehn Ausrufungszeichen versehene Venceremos setzt bei Richard T. eine Selbstbefragung in Gang, die ihn als verkrachte Existenz ausweist und sich um Grunde auf eine ganze Generation von gleichermaßen friedensbewegt-gesellschaftskritischen wie hedonistischen jungen Leuten bezieht. Ohne Sentimentalität rechnet hier wohl auch Ott selber, Jahrgang 1957, mit verlorenen Illusionen und Utopien ab.
Matt leuchten die damals schon öden WG-Tage in einem Bahnwärterhäuschen noch einmal auf, in dem Richard seine besten Jahre verdämmert hat und in das später der Pfarrer Johannes einzog, der nach dem eigentlich so günstigen Gerichtsurteil zum Eremiten wurde, dem nur noch die Bibeln blieben. Das Studium vor der Zeit abgebrochen; die einstmals so einträgliche Tankstelle heruntergewirtschaftet, nachdem ein Brückenbau den Ort vollends von der Außenwelt isoliert hat; alle Gelegenheiten, bei denen das Leben noch eine Wende zum Besseren hätte nehmen können, verpasst: Richard steht vor einem Scherbenhaufen, bleibt aber bis zuletzt ehrlich zu sich selbst. Etwas anderes hätte auch keinen Sinn, wo es am Ende die Sprache ist, die Tatsachen schafft: Tun oder unterlassen, lügen oder verschweigen - das sind genuin theologische Fragen.
Doch die Grenzen dazwischen sind fließend, wenn man um die Macht von Relativierungen weiß und die Sub- und Konjunktionen, das "obwohl", "weil" und "zumal" nur richtig einzusetzen weiß wie Ott in diesem ganz und gar meisterhaften, abgründig spekulativen Roman, der dem von der Literaturkritik so gern bemühten Begriff des Solipsismus neue Dimensionen verleiht. Worüber man nicht reden kann, darüber sollte man schweigen? Ott widerlegt Wittgensteins abgegriffene Behauptung, indem er die Unausweichlichkeit, die sein Romantitel vermittelt, mit einem wortmusikalischen Zauber elegant aufhebt.
Karl-Heinz Ott: "Ob wir wollen oder nicht". Roman. Hoffmann und Campe, Hamburg 2008. 206 S., geb., 17,95 [Euro].
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