Berlin, Oktober 2012, eine Frau ist verschwunden. Theresa, in Ostdeutschland geboren, wuchs bei Pflegeeltern auf, weil ihre Eltern als Oppositionelle inhaftiert waren. In den Siebzigern bekommt sie als Historikerin Zugang zu Geheimarchiven der DDR - erschreckende, unglaubhafte Dokumente liegen vor ihr. Theresa wird kaltgestellt, und das bleibt so, denn ihr Wissen ist nach der Wende 1989 extrem gefährlich. Reinhard Jirgl erzählt von einer unbekannten deutschen Geschichte: Der große bürokratische Umbau, den die Politik die "Wende" nannte, hat intakt gelassen, was man vergangen glaubte: Seilschaften, Organisationen, Feindschaften. Das Gestern ist auch morgen nicht zu Ende.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Eines von Reinhard Jirgls schwächeren Büchern hat Rezensent Burkhard Müller da gelesen. Die Dunkelheit des Ostens und des Westens vermag ihm der Autor zwar wiederum zu vermitteln. Eine privilegierte Historikern (Ost), deren Spion-Eltern und ein Kommissar (West) auf der Suche nach einem rätselhaften Frauenmörder begegnen Müller im Text und dahinter die große Weltverschwörung. Leider vermag der Autor nicht, seine disparaten Handlungsstränge miteinander zu verbinden, meint Müller. Die unübersichtlichen Schachtelungen der Handlung und die wechselnde Erzählperspektive machen es dem Rezensenten alles andere als leicht, den unverkennbaren Jirgl-Sound zu genießen. Ebenso hinderlich wirken sich Jirgls orthografischen Eigenheiten aus, die laut Müller das Marottenhafte streifen, weil sie ohne "sprachlich-gedanklichen Fond" auskommen müssen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.02.2016Damit ihnen nichts Schlimmes geschieht
Theorie? Nein, Praxis: Reinhard Jirgls Roman "Oben das Feuer, unten der Berg" deckt eine Weltverschwörung auf
Ein alter Mann geht zur Polizei und meldet seine Tochter als vermisst, bricht zusammen und stirbt. Der Hauptkommissar ist sich sofort sicher, dass Theresa Bergers Verschwinden in Zusammenhang mit einer Mordserie an Frauen steht, die dabei mit Nadel und Faden bestialisch zugerichtet werden. Als dann auch noch ein Foto des Bruders der Verschwundenen auftaucht, ist die Spur ganz heiß: Denn jener Willfried Berger erinnert den Kommissar an einen "Flickenmensch", seine Tätowierungen wirkten, "als bestünde er aus Stücken fremden Fleisches, das zwar mit groben aber regelmäßigen Stichen zusammengenäht worden war". Das macht ihn verdächtig, wenigstens in den Augen des Kommissars, der sofort begreift: "!Aber: Die !Nähte -: in !derselben Manier waren den getöteten Frauen die Leibesöffnungen zugenäht worden."
Wäre der Kommissar mit seinem verständig nickenden Kollegen Möller nicht schon längst auf dem Weg zu dem Ort, wo er Theresa Berger vermutet (und wo sie tatsächlich ist), wäre spätestens diese Erkenntnis der Beginn einer furiosen Aufklärungsarbeit. Und bliebe es nur dabei, bei der Trias aus Mordfall, Ermittler und Verdächtigem, dann könnte man dieses Buch getrost als hanebüchen beiseitelegen. Denn die Stringenz der Ermittlungen wie des Ermittelten wird nicht größer, die Wendungen, die der Fall nimmt, werden immer unwahrscheinlicher, und der so schnell wie sicher urteilende Polizist sieht sich oft genug getäuscht.
Nur dass es dabei immer noch ein bisschen wirrer und zufälliger wird, bis am Ende, in loser Verbindung zu der Frauenmordserie, eine gigantische Verschwörung sichtbar wird: Schon seit Jahrzehnten arbeiten die Mächtigen der Welt daran, die Erde zu verlassen und es sich auf der Internationalen Weltraumstation ISS gemütlich zu machen - ganz ohne Volk. "Das 1hellige Ziel: Beseitigung od: besser Zurücklassen aller störenden=Erdbevölkerung in den riesigen Macht=Konglomeraten; dafür Elitenbildung für das-Weiter-Machten=Imall." Das Geld dafür stammt aus den Rüstungsprojekten des Kalten Kriegs, die selbstverständlich nie verwirklicht wurden: "Allenfalls wurde jeweils 1 Prototyp hergestellt", sagt ein Informant, und als der staunende Kommissar doch noch einen Restzweifel hegt, bekräftigt sein Gesprächspartner: "All=das steht Schwarz-auf-Weiß in Theresas Dokumenten. Verschwörungs-Theorie, !pà : Verschwörungs-Pracksis, mein Lieber."
Von einer Elite, die das Weite sucht und vor dem Volk ins All flieht, hatte man schon in "Nichts von euch auf Erden" lesen können, dem vor drei Jahren erschienenen Zukunftsroman des 1953 in Berlin geborenen Reinhard Jirgl. Und auch sein neuestes Buch, "Oben das Feuer, unten der Berg", greift schließlich leicht in die Zukunft aus, der Autor schildert den Gang eines Protagonisten durch eine Großstadt im Jahr 2020, die inzwischen die Passanten mit personalisierter Werbung traktiert.
Alles andere aber spielt in etwa zwischen den Jahren 1956 und 2013, zwischen Theresa Bergers Geburt und dem Ende der Ermittlungen des Kommissars. Geschildert wird also die Zeitgeschichte, und das aus der eigenwilligen Perspektive einer Gruppe von Menschen, die aus je individueller Warte unter den Verhältnissen leiden - die wenigen, die das nicht tun, bleiben blass oder geraten in der Schilderung durch andere zu bösartigen Karikaturen. Einig sind sich die meisten, dass die Wende von 1989 als "Großer=Bürokratischer=Umbau" zu bezeichnen ist, von den "Noien Selbst=Gewißheiten", die hier "Dämokratie&freiHeit" heißen, ist die Rede, vom "Götter-Wexeln" und von der "Homogenität-in-den-Unterwerfungen". Was entsteht da nach einigen Jahren? "Digitale-Netzwerke, Öko-Logismus & privates Glück - daraus dann diese Mittelstand's Kreatouren hoch&breit daherkommen mit ihren faden Tragödchen um Karriere Kindermachen & Konsum, grundiert von Herrschsucht & Perfekzionierungs-Wahn - ein saueres Biedermeier."
Wo aber durch die Protagonisten die Kontinuität vor und nach der Wende beschworen wird ("Aber egal wie der-Laden heißt, die innere=Ordnung darin ist&bleibt sich immer=gleich"), da liegt es nahe, die felsenfest geglaubte und durch heimlich mitgeschnittene Gespräche belegte Kumpanei der Machthaber in Ost und West in grellen Farben auszumalen. Hier gipfelt das in einer seltsamen internationalen Organisation, die eine Killertruppe mit der Liquidation von Ex-Gefangenen beauftragt, und zwar, wie es heißt, aus marktwirtschaftlichen Motiven: Gibt es zu viele Häftlinge, die vom Westen freigekauft werden sollen, dann, so die seltsame Logik, sinkt nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage der Preis für jeden Einzelnen von ihnen. Sinkt dagegen ihre Zahl, steigt der Preis.
Die Einwände, die man auch nur an die Rationalität dieses Verfahrens erheben könnte, von allem anderen einmal abgesehen, kommen den Romanfiguren nicht in den Sinn, auch der ermittelnde Kommissar scheint nicht daran zu zweifeln. Das macht die Lektüre stellenweise mühsam, und auch in der speziellen Orthographie, die der Autor Jirgl seit vielen Jahren pflegt, liegt anfangs eine Hürde. Die allerdings stellt sich nach einigen Abschnitten rasch als Sprungbrett heraus: Man begreift, was der Autor damit bezweckt, wenn er etwa zur Betonung bestimmter Silben ein Ausrufungszeichen voranstellt, wenn er Silben hervorhebt oder koppelt oder - wie einst Arno Schmidt - durch Verschreibung in einem Wort einen anderen Sinn anklingen lässt.
Mehr noch als dies aber steht auf der Habenseite des Buchs, wie Jirgl an einzelnen Figuren Verlorenheit und Rebellion zeichnet, intime Momente der Trauer oder (seltener) des Glücks. Hat man je so von einem Kind gelesen, das wie jener Willfried Berger in diesem Roman auf die Umstände seiner Geburt und der allerersten Monate, auf die Unbehaustheit der ersten Jahre und den plötzlichen Wechsel vom Waisenhaus zu den Pflegeeltern noch vor der Einschulung derart verstört und stachlig reagiert? Jirgl schildert genau, was Willfrieds Aggression für seine Umgebung bedeutet, er tritt zurück und notiert, was geschieht, aber er stellt weder das Kind noch die Pflegeeltern bloß. Und bereitet auf diese Weise das Beben in einer späteren Szene vor: Willfrieds Vater und seine Schwester, beide sind nicht mehr am Leben, laufen einen Weg entlang und halten Ausschau nach dem verirrten Kind und seiner Mutter: "Damit ihnen nichts Schlimmes geschieht", sagt der Vater.
Jirgl beherrscht die unterschiedlichsten Tonfälle von komplex bis banal. Und wenn der Autor auch bisweilen eine Schwäche für schlechte Wortspiele ("Honecker soit qui mal y pense") oder abgedroschene Vergleiche offenbart, zeigt er sich als großer Stilist, wenn es um die Schilderung von Naturphänomenen wie Gewittern oder um jeweils sensibel gezeichnete Landschaftsbilder geht. Manches davon wird mehrfach geschildert, aus unterschiedlicher Perspektive, anderes greift zurück auf den fiktiven Ort Birkheim, vertraut aus Jirgls dreizehn Jahre altem Roman "Die Unvollendeten", der Züge der realen Stadt Salzwedel trägt, in der Jirgl einige seiner Kinderjahre verbracht hat.
Als Kriminalroman wird man mit dem Buch wenig anfangen, als Analyse eines historischen Prozesses, als Sachbuch also taugt das Buch nicht viel, sieht man von der Abbildung verbreiteter Ressentiments ab, von denen auch der aus dem Westen stammende Kommissar nicht frei ist. Wenn es aber darum geht, den totalitären ostdeutschen Staat literarisch zu schildern, das Auseinanderreißen von Familien, den Druck zum Konformen, der auf dem Einzelnen lastet, oder die allgegenwärtige Überwachung gerade der Vertrauensseligen, dann wird man im Buch Argumente genug gegen die Perspektive der Figuren finden, die nur politische Kontinuität sehen. Schwer zu sagen, ob diese Lesart der Intention des Autors entspricht.
TILMAN SPRECKELSEN
Reinhard Jirgl: "Oben das Feuer, unten der Berg". Roman
Hanser Verlag, München 2016. 288 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Theorie? Nein, Praxis: Reinhard Jirgls Roman "Oben das Feuer, unten der Berg" deckt eine Weltverschwörung auf
Ein alter Mann geht zur Polizei und meldet seine Tochter als vermisst, bricht zusammen und stirbt. Der Hauptkommissar ist sich sofort sicher, dass Theresa Bergers Verschwinden in Zusammenhang mit einer Mordserie an Frauen steht, die dabei mit Nadel und Faden bestialisch zugerichtet werden. Als dann auch noch ein Foto des Bruders der Verschwundenen auftaucht, ist die Spur ganz heiß: Denn jener Willfried Berger erinnert den Kommissar an einen "Flickenmensch", seine Tätowierungen wirkten, "als bestünde er aus Stücken fremden Fleisches, das zwar mit groben aber regelmäßigen Stichen zusammengenäht worden war". Das macht ihn verdächtig, wenigstens in den Augen des Kommissars, der sofort begreift: "!Aber: Die !Nähte -: in !derselben Manier waren den getöteten Frauen die Leibesöffnungen zugenäht worden."
Wäre der Kommissar mit seinem verständig nickenden Kollegen Möller nicht schon längst auf dem Weg zu dem Ort, wo er Theresa Berger vermutet (und wo sie tatsächlich ist), wäre spätestens diese Erkenntnis der Beginn einer furiosen Aufklärungsarbeit. Und bliebe es nur dabei, bei der Trias aus Mordfall, Ermittler und Verdächtigem, dann könnte man dieses Buch getrost als hanebüchen beiseitelegen. Denn die Stringenz der Ermittlungen wie des Ermittelten wird nicht größer, die Wendungen, die der Fall nimmt, werden immer unwahrscheinlicher, und der so schnell wie sicher urteilende Polizist sieht sich oft genug getäuscht.
Nur dass es dabei immer noch ein bisschen wirrer und zufälliger wird, bis am Ende, in loser Verbindung zu der Frauenmordserie, eine gigantische Verschwörung sichtbar wird: Schon seit Jahrzehnten arbeiten die Mächtigen der Welt daran, die Erde zu verlassen und es sich auf der Internationalen Weltraumstation ISS gemütlich zu machen - ganz ohne Volk. "Das 1hellige Ziel: Beseitigung od: besser Zurücklassen aller störenden=Erdbevölkerung in den riesigen Macht=Konglomeraten; dafür Elitenbildung für das-Weiter-Machten=Imall." Das Geld dafür stammt aus den Rüstungsprojekten des Kalten Kriegs, die selbstverständlich nie verwirklicht wurden: "Allenfalls wurde jeweils 1 Prototyp hergestellt", sagt ein Informant, und als der staunende Kommissar doch noch einen Restzweifel hegt, bekräftigt sein Gesprächspartner: "All=das steht Schwarz-auf-Weiß in Theresas Dokumenten. Verschwörungs-Theorie, !pà : Verschwörungs-Pracksis, mein Lieber."
Von einer Elite, die das Weite sucht und vor dem Volk ins All flieht, hatte man schon in "Nichts von euch auf Erden" lesen können, dem vor drei Jahren erschienenen Zukunftsroman des 1953 in Berlin geborenen Reinhard Jirgl. Und auch sein neuestes Buch, "Oben das Feuer, unten der Berg", greift schließlich leicht in die Zukunft aus, der Autor schildert den Gang eines Protagonisten durch eine Großstadt im Jahr 2020, die inzwischen die Passanten mit personalisierter Werbung traktiert.
Alles andere aber spielt in etwa zwischen den Jahren 1956 und 2013, zwischen Theresa Bergers Geburt und dem Ende der Ermittlungen des Kommissars. Geschildert wird also die Zeitgeschichte, und das aus der eigenwilligen Perspektive einer Gruppe von Menschen, die aus je individueller Warte unter den Verhältnissen leiden - die wenigen, die das nicht tun, bleiben blass oder geraten in der Schilderung durch andere zu bösartigen Karikaturen. Einig sind sich die meisten, dass die Wende von 1989 als "Großer=Bürokratischer=Umbau" zu bezeichnen ist, von den "Noien Selbst=Gewißheiten", die hier "Dämokratie&freiHeit" heißen, ist die Rede, vom "Götter-Wexeln" und von der "Homogenität-in-den-Unterwerfungen". Was entsteht da nach einigen Jahren? "Digitale-Netzwerke, Öko-Logismus & privates Glück - daraus dann diese Mittelstand's Kreatouren hoch&breit daherkommen mit ihren faden Tragödchen um Karriere Kindermachen & Konsum, grundiert von Herrschsucht & Perfekzionierungs-Wahn - ein saueres Biedermeier."
Wo aber durch die Protagonisten die Kontinuität vor und nach der Wende beschworen wird ("Aber egal wie der-Laden heißt, die innere=Ordnung darin ist&bleibt sich immer=gleich"), da liegt es nahe, die felsenfest geglaubte und durch heimlich mitgeschnittene Gespräche belegte Kumpanei der Machthaber in Ost und West in grellen Farben auszumalen. Hier gipfelt das in einer seltsamen internationalen Organisation, die eine Killertruppe mit der Liquidation von Ex-Gefangenen beauftragt, und zwar, wie es heißt, aus marktwirtschaftlichen Motiven: Gibt es zu viele Häftlinge, die vom Westen freigekauft werden sollen, dann, so die seltsame Logik, sinkt nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage der Preis für jeden Einzelnen von ihnen. Sinkt dagegen ihre Zahl, steigt der Preis.
Die Einwände, die man auch nur an die Rationalität dieses Verfahrens erheben könnte, von allem anderen einmal abgesehen, kommen den Romanfiguren nicht in den Sinn, auch der ermittelnde Kommissar scheint nicht daran zu zweifeln. Das macht die Lektüre stellenweise mühsam, und auch in der speziellen Orthographie, die der Autor Jirgl seit vielen Jahren pflegt, liegt anfangs eine Hürde. Die allerdings stellt sich nach einigen Abschnitten rasch als Sprungbrett heraus: Man begreift, was der Autor damit bezweckt, wenn er etwa zur Betonung bestimmter Silben ein Ausrufungszeichen voranstellt, wenn er Silben hervorhebt oder koppelt oder - wie einst Arno Schmidt - durch Verschreibung in einem Wort einen anderen Sinn anklingen lässt.
Mehr noch als dies aber steht auf der Habenseite des Buchs, wie Jirgl an einzelnen Figuren Verlorenheit und Rebellion zeichnet, intime Momente der Trauer oder (seltener) des Glücks. Hat man je so von einem Kind gelesen, das wie jener Willfried Berger in diesem Roman auf die Umstände seiner Geburt und der allerersten Monate, auf die Unbehaustheit der ersten Jahre und den plötzlichen Wechsel vom Waisenhaus zu den Pflegeeltern noch vor der Einschulung derart verstört und stachlig reagiert? Jirgl schildert genau, was Willfrieds Aggression für seine Umgebung bedeutet, er tritt zurück und notiert, was geschieht, aber er stellt weder das Kind noch die Pflegeeltern bloß. Und bereitet auf diese Weise das Beben in einer späteren Szene vor: Willfrieds Vater und seine Schwester, beide sind nicht mehr am Leben, laufen einen Weg entlang und halten Ausschau nach dem verirrten Kind und seiner Mutter: "Damit ihnen nichts Schlimmes geschieht", sagt der Vater.
Jirgl beherrscht die unterschiedlichsten Tonfälle von komplex bis banal. Und wenn der Autor auch bisweilen eine Schwäche für schlechte Wortspiele ("Honecker soit qui mal y pense") oder abgedroschene Vergleiche offenbart, zeigt er sich als großer Stilist, wenn es um die Schilderung von Naturphänomenen wie Gewittern oder um jeweils sensibel gezeichnete Landschaftsbilder geht. Manches davon wird mehrfach geschildert, aus unterschiedlicher Perspektive, anderes greift zurück auf den fiktiven Ort Birkheim, vertraut aus Jirgls dreizehn Jahre altem Roman "Die Unvollendeten", der Züge der realen Stadt Salzwedel trägt, in der Jirgl einige seiner Kinderjahre verbracht hat.
Als Kriminalroman wird man mit dem Buch wenig anfangen, als Analyse eines historischen Prozesses, als Sachbuch also taugt das Buch nicht viel, sieht man von der Abbildung verbreiteter Ressentiments ab, von denen auch der aus dem Westen stammende Kommissar nicht frei ist. Wenn es aber darum geht, den totalitären ostdeutschen Staat literarisch zu schildern, das Auseinanderreißen von Familien, den Druck zum Konformen, der auf dem Einzelnen lastet, oder die allgegenwärtige Überwachung gerade der Vertrauensseligen, dann wird man im Buch Argumente genug gegen die Perspektive der Figuren finden, die nur politische Kontinuität sehen. Schwer zu sagen, ob diese Lesart der Intention des Autors entspricht.
TILMAN SPRECKELSEN
Reinhard Jirgl: "Oben das Feuer, unten der Berg". Roman
Hanser Verlag, München 2016. 288 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.06.2016Es rollen die schwarzen Panzerlimousinen
In seinem neuen Roman „Oben das Feuer, unten der Berg“ verliert Reinhard Jirgl seine Figuren
aus den Augen – und sich selbst in den Labyrinthen obskurer Verschwörungstheorien
VON BURKHARD MÜLLER
Die Schreib-Biografie des Reinhard Jirgl zu betrachten erfüllt wohl
jeden mit Befriedigung, der glaubt, es müsse im Kunst- und Kulturbetrieb am Ende doch so etwas wie Gerechtigkeit geben. Dem 1953 in der DDR geborenen Autor wurde, solange dieser Staat existierte, jede Möglichkeit zur Publikation vorenthalten, denn sein kompromissloser Geschichtspessimismus fügte sich nicht ins offizielle Bild vom sozialistischen Fortschritt; viele Jahre lang schrieb er nur für die Schublade, und sein Stil wurde herb und abweisend darüber.
Dann kam 1989; aber nur wenigen der Ost-Autoren half dieses Datum, und statt wie früher die immerhin aufmerksame Zensur trat ihnen nunmehr ein tiefes Desinteresse entgegen. Dies, der Weg vom Regen in die Traufe, schien in den Neunzigerjahren das Schicksal auch Jirgls werden zu sollen. Dann kamen, spät und überraschend, aber eben doch, Anerkennung und Erfolg, die 2010 in der Verleihung des Büchner-Preises gipfelten. Jirgl selbst wurde umgänglicher dabei; ohne dass er etwas von seinem Anspruch aufgegeben hätte, wandten sich seine Bücher, die früher in finsterem Trotz auf der Möglichkeit ihrer bloßen Existenz auch ohne Leser gepocht hatten, ins Lesbare hinüber – Bücher wie „Die Unvollendeten“ oder „Die Stille“, die düstere Lebensläufe der deutschen Geschichte zu einer ganz eigenen Art von Glanz brachten.
Auch sein neuer Roman, „Oben das Feuer, unten der Berg“ hat es wieder mit Jirgls altem Generalthema zu tun: Wie dunkel es in Ost und West gleichermaßen zuging und wie wenig es da zu bedeuten hat, wenn die Systeme wechseln. Nicht „Wende“ heißt im Buch das, was damals geschehen ist, sondern „GeBeU“, für „Großer Bürokratischer Umbau“: Die einen rollen ab in ihren schwarzen gepanzerten Limousinen, und gleich darauf kommen die anderen in ebensolchen Fahrzeugen angerollt.
Die Historikerin Theresa hat im alten System zu den Privilegierten gehört; schon in jungen Jahren leitete sie ihre eigene Forschungsgruppe und ließ es dabei nicht an proletarischem Klassen-Hochmut fehlen. Nach dem Sieg der Gegenseite wird sie erst in den Keller des Instituts verbannt, dann von einem aus Schwaben importierten Abwickler mit dem schönen Spitznamen Pfiffrich in die Wüste geschickt, wo es höchstens noch für einen Job als Klofrau langt. Auch ihr Lover Milan lässt sie im Stich, sodass sie, terminal verhärmt bis zum Magendurchbruch, im Bett herumliegt, während zugleich der westliche Alteigentümer mit Baggern und Pitbulls das Haus ihrer Adoptiveltern zurückerobern will.
Diese Adoption bildet das Herzstück des zweiten, älteren Teils der Geschichte. Theresas eigentliche Eltern waren, weil sie in ihrer Naivität einem örtlichen Parteifunktionär auf die Zehen traten, als Spione zu langen Haftstrafen verurteilt und ihre zwei Kinder, Theresa und der schon im Gefängnis geborene Bruder, ihnen fortgenommen worden; bald nach der Haftentlassung kamen beide Eltern unter ungeklärten Umständen uns Leben. Als dritter Handlungsstrang entspinnt sich eine Serie von Frauenmorden, wobei der Täter die Leichen nicht nur grässlich zugerichtet, sondern ihnen alle Körperöffnungen sorgsam mit Zwirn vernäht hat, als wollte er sie zu unverbrüchlichem Schweigen zwingen. Hier kommt als Ich-Erzähler der (namenlose) Kommissar ins Spiel, ebenfalls beim GeBeU aus dem Westen ins Beitrittsgebiet geholt und darum ratlos vor den alten Rätseln. Und viertens tritt langsam aus dem Nebel die große Weltverschwörung hervor, der Eisberg, auf dessen Basis sich die Erzählkomplexe eins bis drei, scheinbar isoliert voneinander, ins Sichtbare heben.
Aber diese Konstruktion trägt nicht. Bei allen Qualitäten im Einzelnen, das Buch im Ganzen scheitert daran. Zunächst einmal gelingt es Jirgl nicht, seine disparaten Blöcke zu verfugen – speziell nicht die Morde und die Verschwörung; was er hier bietet, in einer Art von überhasteter Nachschrift, muss man geradezu als eine Beleidigung der Leser-Intelligenz bezeichnen. So geht das immer mit literarischen Verschwörungen: Das ins Visier genommene große Ganze gelangt mit dem Persönlichen und Individuellen, mit dem Romanplots es nolens volens zu tun haben, einfach nicht zur Bindung.
Sodann kranken Verschwörungstheorien im Leben wie in der Literatur an ihrer Einfalt. Sie treten in den Raum des Geheimnisses wie in einen Märchenwald und meinen, sie könnten das Böse in der Welt mit der Scheidung von Inklusion und Exklusion, draußen und drinnen in den Griff bekommen – wo doch alles weit schlimmer ist und die Heillosigkeit der Zustände sich nur in ihrer Einhelligkeit fassen ließe: Alle machen mit, keineswegs nur die Bösewichter, und mitmachen muss auch, wer es nicht weiß oder will. Jirgl liefert eine so hanebüchene Verschwörung, dass man sie getrost verraten darf, ohne dem Buch die Spannung zu rauben: Die angeblichen Raketenrüstungen im Kalten Krieg haben beiden Seiten nur zur Tarnung für ein gigantisches Raumfahrt-Programm gedient; tatsächlich waren sich die herrschenden Eliten hüben wie drüben einig, die Menschheitsmassen auf der untergangsgeweihten Erde zurückzulassen und sich selbst aufzumachen ins rettende All. (Ob sie sich dort, ohne Feind und Fußvolk, nicht zu Tode gelangweilt hätten, wird nicht erörtert.) Da dieser Entwurf sich als zu sperrig erweist, um ihn zwischen zwei Buchdeckeln auszuformen, wird noch eine Art Sub-Verschwörung geliefert, die DDR-eigene Killerfirma KOZERO, so geheim, dass nicht einmal die Stasi was von ihr geahnt hat . . .
Das führt zu unübersichtlichen Schachtelungen und Inkonsequenzen in der Erzählperspektive. Vom Jirgl-typischen „gleitenden Ich“ der früheren Bücher geschieht der Übergang zu verschiedenen Einzel-Erzählern, die aber alle im selben unverkennbaren Jirgl-Sound sprechen. Diese Gleichform beschädigt die Figuren in ihrer jeweiligen Eigenart, es kommt ihnen die reale und psychologische Glaubwürdigkeit abhanden. Ist es denkbar, dass im Zuge der Ermittlungen ein Polizei-Assistent so das Wort an seinen Chef richtet? „Sie wissen ja, Herr Haupt-Kommissar: der-Mensch ist ein Riesenballon gefüllt mit !verflucht explodierbarem Gas, Dasgas aus Erniedrigungen, Demütigungen, Niederlagen, Ver-Lusten & erdrückten Trieben – das-Leben preßt Das-Alles in=die-Menschen rein.“
Im Dialog schaltet ein Text unvermeidlich vom Modus des Gelesenen auf den des Gehörten um; und da zeigt sich, dass viele von Jirgls orthografischen Eigenheiten ins Leere laufen, weil sie keine akustische Repräsentanz besitzen. Nur das vorangestellte Ausrufezeichen mitten im Satz bei „!verflucht“ gibt eine wirkliche Anweisung, wie das betreffende Wort zu hören wäre; Schreibweisen wie „Dasgas“, „Ver-Luste“, „in=die-Menschen“ hingegen haben keine echte Aufgabe und streifen das Marottenhafte. Das „Golden Görrl“ erfüllt immerhin den Zweck, im Girl das Gör zum Vorschein zu bringen, und „irrgend“ oder „irrdisch“ mit zwei r verdeutlicht einigermaßen das planlose Herumtasten hienieden.
Warum aber regelmäßig „u“ statt „und“, „od“ statt „oder“? Warum diese Beharrlichkeit, statt der Vorsilbe und des unbestimmten Artikels „ein“ immer die Ziffer zu schreiben, „wie 1 Echo, wie Lächeln in 1 langsam erfrierenden Gesicht“? Dem systematisch eingebauten Lese-Widerstand korrespondiert nur sehr teilweise ein sprachlich-gedanklicher Fond; man möchte Jirgl raten, seine Privat-Rechtschreibung einmal durchzuforsten und solche Haken auszumerzen, an denen das Auge hängen bleibt, ohne einen guten Grund dafür zu finden. Darin, dass es an solchen Gründen zumeist fehlt, erweist sich dieses Buch leider als eines von Jirgls schwächeren.
In einer Serie von Frauenmorden
richtet der Täter seine Opfer
grässlich zu – aber warum?
Dem systematisch eingebauten
Lese-Widerstand entspricht hier
kein gedanklicher Fond
Reinhard Jirgl: Oben das Feuer, unten der Berg. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2016. 288 Seiten, 22,90 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In seinem neuen Roman „Oben das Feuer, unten der Berg“ verliert Reinhard Jirgl seine Figuren
aus den Augen – und sich selbst in den Labyrinthen obskurer Verschwörungstheorien
VON BURKHARD MÜLLER
Die Schreib-Biografie des Reinhard Jirgl zu betrachten erfüllt wohl
jeden mit Befriedigung, der glaubt, es müsse im Kunst- und Kulturbetrieb am Ende doch so etwas wie Gerechtigkeit geben. Dem 1953 in der DDR geborenen Autor wurde, solange dieser Staat existierte, jede Möglichkeit zur Publikation vorenthalten, denn sein kompromissloser Geschichtspessimismus fügte sich nicht ins offizielle Bild vom sozialistischen Fortschritt; viele Jahre lang schrieb er nur für die Schublade, und sein Stil wurde herb und abweisend darüber.
Dann kam 1989; aber nur wenigen der Ost-Autoren half dieses Datum, und statt wie früher die immerhin aufmerksame Zensur trat ihnen nunmehr ein tiefes Desinteresse entgegen. Dies, der Weg vom Regen in die Traufe, schien in den Neunzigerjahren das Schicksal auch Jirgls werden zu sollen. Dann kamen, spät und überraschend, aber eben doch, Anerkennung und Erfolg, die 2010 in der Verleihung des Büchner-Preises gipfelten. Jirgl selbst wurde umgänglicher dabei; ohne dass er etwas von seinem Anspruch aufgegeben hätte, wandten sich seine Bücher, die früher in finsterem Trotz auf der Möglichkeit ihrer bloßen Existenz auch ohne Leser gepocht hatten, ins Lesbare hinüber – Bücher wie „Die Unvollendeten“ oder „Die Stille“, die düstere Lebensläufe der deutschen Geschichte zu einer ganz eigenen Art von Glanz brachten.
Auch sein neuer Roman, „Oben das Feuer, unten der Berg“ hat es wieder mit Jirgls altem Generalthema zu tun: Wie dunkel es in Ost und West gleichermaßen zuging und wie wenig es da zu bedeuten hat, wenn die Systeme wechseln. Nicht „Wende“ heißt im Buch das, was damals geschehen ist, sondern „GeBeU“, für „Großer Bürokratischer Umbau“: Die einen rollen ab in ihren schwarzen gepanzerten Limousinen, und gleich darauf kommen die anderen in ebensolchen Fahrzeugen angerollt.
Die Historikerin Theresa hat im alten System zu den Privilegierten gehört; schon in jungen Jahren leitete sie ihre eigene Forschungsgruppe und ließ es dabei nicht an proletarischem Klassen-Hochmut fehlen. Nach dem Sieg der Gegenseite wird sie erst in den Keller des Instituts verbannt, dann von einem aus Schwaben importierten Abwickler mit dem schönen Spitznamen Pfiffrich in die Wüste geschickt, wo es höchstens noch für einen Job als Klofrau langt. Auch ihr Lover Milan lässt sie im Stich, sodass sie, terminal verhärmt bis zum Magendurchbruch, im Bett herumliegt, während zugleich der westliche Alteigentümer mit Baggern und Pitbulls das Haus ihrer Adoptiveltern zurückerobern will.
Diese Adoption bildet das Herzstück des zweiten, älteren Teils der Geschichte. Theresas eigentliche Eltern waren, weil sie in ihrer Naivität einem örtlichen Parteifunktionär auf die Zehen traten, als Spione zu langen Haftstrafen verurteilt und ihre zwei Kinder, Theresa und der schon im Gefängnis geborene Bruder, ihnen fortgenommen worden; bald nach der Haftentlassung kamen beide Eltern unter ungeklärten Umständen uns Leben. Als dritter Handlungsstrang entspinnt sich eine Serie von Frauenmorden, wobei der Täter die Leichen nicht nur grässlich zugerichtet, sondern ihnen alle Körperöffnungen sorgsam mit Zwirn vernäht hat, als wollte er sie zu unverbrüchlichem Schweigen zwingen. Hier kommt als Ich-Erzähler der (namenlose) Kommissar ins Spiel, ebenfalls beim GeBeU aus dem Westen ins Beitrittsgebiet geholt und darum ratlos vor den alten Rätseln. Und viertens tritt langsam aus dem Nebel die große Weltverschwörung hervor, der Eisberg, auf dessen Basis sich die Erzählkomplexe eins bis drei, scheinbar isoliert voneinander, ins Sichtbare heben.
Aber diese Konstruktion trägt nicht. Bei allen Qualitäten im Einzelnen, das Buch im Ganzen scheitert daran. Zunächst einmal gelingt es Jirgl nicht, seine disparaten Blöcke zu verfugen – speziell nicht die Morde und die Verschwörung; was er hier bietet, in einer Art von überhasteter Nachschrift, muss man geradezu als eine Beleidigung der Leser-Intelligenz bezeichnen. So geht das immer mit literarischen Verschwörungen: Das ins Visier genommene große Ganze gelangt mit dem Persönlichen und Individuellen, mit dem Romanplots es nolens volens zu tun haben, einfach nicht zur Bindung.
Sodann kranken Verschwörungstheorien im Leben wie in der Literatur an ihrer Einfalt. Sie treten in den Raum des Geheimnisses wie in einen Märchenwald und meinen, sie könnten das Böse in der Welt mit der Scheidung von Inklusion und Exklusion, draußen und drinnen in den Griff bekommen – wo doch alles weit schlimmer ist und die Heillosigkeit der Zustände sich nur in ihrer Einhelligkeit fassen ließe: Alle machen mit, keineswegs nur die Bösewichter, und mitmachen muss auch, wer es nicht weiß oder will. Jirgl liefert eine so hanebüchene Verschwörung, dass man sie getrost verraten darf, ohne dem Buch die Spannung zu rauben: Die angeblichen Raketenrüstungen im Kalten Krieg haben beiden Seiten nur zur Tarnung für ein gigantisches Raumfahrt-Programm gedient; tatsächlich waren sich die herrschenden Eliten hüben wie drüben einig, die Menschheitsmassen auf der untergangsgeweihten Erde zurückzulassen und sich selbst aufzumachen ins rettende All. (Ob sie sich dort, ohne Feind und Fußvolk, nicht zu Tode gelangweilt hätten, wird nicht erörtert.) Da dieser Entwurf sich als zu sperrig erweist, um ihn zwischen zwei Buchdeckeln auszuformen, wird noch eine Art Sub-Verschwörung geliefert, die DDR-eigene Killerfirma KOZERO, so geheim, dass nicht einmal die Stasi was von ihr geahnt hat . . .
Das führt zu unübersichtlichen Schachtelungen und Inkonsequenzen in der Erzählperspektive. Vom Jirgl-typischen „gleitenden Ich“ der früheren Bücher geschieht der Übergang zu verschiedenen Einzel-Erzählern, die aber alle im selben unverkennbaren Jirgl-Sound sprechen. Diese Gleichform beschädigt die Figuren in ihrer jeweiligen Eigenart, es kommt ihnen die reale und psychologische Glaubwürdigkeit abhanden. Ist es denkbar, dass im Zuge der Ermittlungen ein Polizei-Assistent so das Wort an seinen Chef richtet? „Sie wissen ja, Herr Haupt-Kommissar: der-Mensch ist ein Riesenballon gefüllt mit !verflucht explodierbarem Gas, Dasgas aus Erniedrigungen, Demütigungen, Niederlagen, Ver-Lusten & erdrückten Trieben – das-Leben preßt Das-Alles in=die-Menschen rein.“
Im Dialog schaltet ein Text unvermeidlich vom Modus des Gelesenen auf den des Gehörten um; und da zeigt sich, dass viele von Jirgls orthografischen Eigenheiten ins Leere laufen, weil sie keine akustische Repräsentanz besitzen. Nur das vorangestellte Ausrufezeichen mitten im Satz bei „!verflucht“ gibt eine wirkliche Anweisung, wie das betreffende Wort zu hören wäre; Schreibweisen wie „Dasgas“, „Ver-Luste“, „in=die-Menschen“ hingegen haben keine echte Aufgabe und streifen das Marottenhafte. Das „Golden Görrl“ erfüllt immerhin den Zweck, im Girl das Gör zum Vorschein zu bringen, und „irrgend“ oder „irrdisch“ mit zwei r verdeutlicht einigermaßen das planlose Herumtasten hienieden.
Warum aber regelmäßig „u“ statt „und“, „od“ statt „oder“? Warum diese Beharrlichkeit, statt der Vorsilbe und des unbestimmten Artikels „ein“ immer die Ziffer zu schreiben, „wie 1 Echo, wie Lächeln in 1 langsam erfrierenden Gesicht“? Dem systematisch eingebauten Lese-Widerstand korrespondiert nur sehr teilweise ein sprachlich-gedanklicher Fond; man möchte Jirgl raten, seine Privat-Rechtschreibung einmal durchzuforsten und solche Haken auszumerzen, an denen das Auge hängen bleibt, ohne einen guten Grund dafür zu finden. Darin, dass es an solchen Gründen zumeist fehlt, erweist sich dieses Buch leider als eines von Jirgls schwächeren.
In einer Serie von Frauenmorden
richtet der Täter seine Opfer
grässlich zu – aber warum?
Dem systematisch eingebauten
Lese-Widerstand entspricht hier
kein gedanklicher Fond
Reinhard Jirgl: Oben das Feuer, unten der Berg. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2016. 288 Seiten, 22,90 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
"Das ist sowohl inhaltlich als auch formal ganz schwere Kost. Man muss diese Bücher nicht lieben, man kann sogar etliche Vorbehalte artikulieren, aber der schreibende Steinmetz Jirgl, der seine Stoffe urwüchsig mit Hammer und Meißel behandelt, entwickelt sich immer mehr zum Meister der zeitgenössischen Dystopie." Peter Mohr, Wiener Zeitung, 16./17.07.16
"Der Autor dieses Romans hat die Dokumente, auf denen Theresas lebensgefährliches Wissen beruht, nie gesehen. Darum hat er sie so gut erfunden, dass der Schauder der Wahrhaftigkeit von ihnen ausgeht." Herbert Wiesner, Die Welt, 16.04.16
"Von der Sprechqualität her ist er derzeit konkurrenzlos der beste deutsche Erzähler." Ulf Heise, MDR Figaro, 05.04.16
"Einen grandiosen Roman über den SED-Staat hat Reinhard Jirgl geschrieben." Ulf Heise, Freie Presse Chemnitz, 18.03.16
"Spring ab oder spring rein!, anders ist Jirgl-Lektüre nicht möglich. Reinspringen ist Gewinn." Hans-Dieter Schütt, Neues Deutschland, 16.03.16
"Mit diesem Roman legt Reinhard Jirgl eine fulminante DDR- und Wendekritik vor, die auch um das Selbstverständnis der Deutschen kreist." Johann Felix Baldig, Kreuzer, 01.03.16
"Dieses Buch tilgt Illusionen. Man hat keine mehr, wenn man das gelesen hat. Aber so ist das mit großer Literatur." Jürgen Verdofsky, Badische Zeitung, 27.02.16
"Auf der Habenseite des Buchs steht, wie Jirgl an einzelnen Figuren Verlorenheit und Rebellion zeichnet, intime Momente der Trauer oder (seltener) des Glücks." Tilman Spreckelsen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.02.16
"Der Autor dieses Romans hat die Dokumente, auf denen Theresas lebensgefährliches Wissen beruht, nie gesehen. Darum hat er sie so gut erfunden, dass der Schauder der Wahrhaftigkeit von ihnen ausgeht." Herbert Wiesner, Die Welt, 16.04.16
"Von der Sprechqualität her ist er derzeit konkurrenzlos der beste deutsche Erzähler." Ulf Heise, MDR Figaro, 05.04.16
"Einen grandiosen Roman über den SED-Staat hat Reinhard Jirgl geschrieben." Ulf Heise, Freie Presse Chemnitz, 18.03.16
"Spring ab oder spring rein!, anders ist Jirgl-Lektüre nicht möglich. Reinspringen ist Gewinn." Hans-Dieter Schütt, Neues Deutschland, 16.03.16
"Mit diesem Roman legt Reinhard Jirgl eine fulminante DDR- und Wendekritik vor, die auch um das Selbstverständnis der Deutschen kreist." Johann Felix Baldig, Kreuzer, 01.03.16
"Dieses Buch tilgt Illusionen. Man hat keine mehr, wenn man das gelesen hat. Aber so ist das mit großer Literatur." Jürgen Verdofsky, Badische Zeitung, 27.02.16
"Auf der Habenseite des Buchs steht, wie Jirgl an einzelnen Figuren Verlorenheit und Rebellion zeichnet, intime Momente der Trauer oder (seltener) des Glücks." Tilman Spreckelsen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.02.16