Herr Ono ist unbemerkt verstorben. Allein. Es gibt viele wie ihn, immer mehr. Erst wenn es wärmer wird, rufen die Nachbarn die Polizei. Und dann Herrn Sakai mit dem Putztrupp, zu dem Suzu nun gehört. Sie sind spezialisiert auf solche Kodokushi-Fälle. »Fräulein Suzu«, wie der Chef sie nennt, fügt sich widerstrebend in die neuen Aufgaben. Es braucht dafür viel Geduld, Ehrfurcht und Sorgfalt, außerdem einen robusten Magen. Die Städte wachsen, zugleich entfernt man sich voneinander, und häufig verschwimmt die Grenze zwischen Desinteresse und Diskretion. Suzu lernt schnell. Und sie lernt schnell Menschen kennen. Tote wie Lebendige, mit ganz unterschiedlichen Daseinswegen. Sie sieht Fassaden bröckeln und ihre eigene porös werden. Und obwohl ihr Goldhamster sich neuerdings vor ihr versteckt, ist sie mit einem Mal viel weniger allein.Milena Michiko Flasar hat eine frische, oft heitere Sprache für ein großes Thema unserer Zeit gefunden. Und sie hat liebenswert verschusselte Figuren erschaffen, die man gern begleitet. Ein unvergesslicher, hellwacher Roman über die 'letzten Dinge'.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Vom ersten Satz an fasziniert ist Rezensent Harald Eggebrecht vom Roman der japanischen-österreichischen Schriftstellerin Milena Michiko Flašar. Die Autorin beweist nicht nur ein feines Gespür für Figurenzeichnung, wenn sie die Geschichte von Suzu Takada erzählt, die sich einem Putztrupp anschließt, der die Wohnungen von einsam verstorbenen Menschen reinigt, freut sich Eggebrecht. Sie beherrscht es auch, die Themen Einsamkeit und Tod mit so viel Sensibilität, und ja, auch Humor, zu verarbeiten, dass die Lektüre grundsätzlich leicht und erheiternd ist, bewundert der Kritiker. Mit "poetischer Melancholie" schildert die Autorin, wie ihre Protagonistin gerade durch die Konfrontation mit dem Tod selbst zu neuem Leben erwacht, ohne kitschig oder geschmacklos zu sein, resümiert der zufriedene Kritiker.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.02.2023Habe ich einen Menschen eingestellt oder einen Roboter?
Milena Michiko Flasar zeigt in "Oben Erde, unten Himmel": Ein gutes Leben ist gemeinschaftlich und es ist jetzt
Suzu hat Beziehungen nie mit Brauchen in Verbindung gebracht. Als Herr Sakai, ihr Chef, entgeistert fragt, warum sie mit ihren Kollegen nicht für den Fall der Fälle Telefonnummern ausgetauscht hat, stellt sie fest: "Diese Assoziation war mir neu." Die 25 Jahre alte Japanerin gibt sich größte Mühe, sozialen Kontakten aus dem Weg zu gehen. Um Hanami - ein gemeinsames Picknick unter blühenden Kirschbäumen - mit den Kollegen zu vermeiden, erwägt sie ernsthaft einen Jobwechsel.
Ihre Arbeit hat sie nach dem abgebrochenen Studium schon öfter gewechselt. Zuletzt hatte sie in einem "FamiResu", einem besseren Fast-Food-Restaurant gearbeitet, wurde aber gefeuert, weil sie ihrem Chef nicht "liebreizend" genug war. Nachdem ihr längerfristiges, aber lockeres Date Kotaro067 - sie bleibt das ganze Buch über beim Anzeigenamen der Dating-App - ihr ohne Erklärung einfach nicht mehr geantwortet hatte, war sie in der Tat etwas zerstreut gewesen. Mit dem Wischmopp könne sie aber wunderbar umgehen, meint der Chef. Und bei der Jobsuche könne sie sich ja auf ihre Stärken konzentrieren.
Tatsächlich findet sie eine neue Anstellung als Reinigungskraft. Die bringt die gemütliche Einsamkeit, in der Suzu sich eingerichtet hatte, zum Wanken. Denn die Firma ist auf sogenannte Kodokushi spezialisiert, Todesfälle, die erst spät entdeckt werden, weil niemand die Toten vermisst, niemand nach ihnen gesucht hat. Alle Wohnungen, die Suzu mit ihren Kollegen ausräumt und putzt, wurden von Menschen bewohnt, die ähnlich allein waren wie sie. Und deren Leben in den Gegenständen, die sie zurücklassen, erdrückend einsam wirkt.
In ihrem dritten Roman "Oben Erde, unten Himmel" beschreibt Milena Michiko Flasar Lebensthemen in alltäglichen Bildern. Die einsam Gestorbenen werden für Suzu wie für die Leserschaft zum Memento mori. Die ständige Präsenz des Todes führen zur Frage, wie eigentlich ein erfülltes Leben aussehen könnte. Das führt zur Frage, wo der eigene Platz in der Welt ist und wie man ihn ausgestaltet, woraus sich wiederum die Frage ergibt, wie ein gutes Miteinander aussehen kann.
Suzus Existenz besteht "aus dem Verstreichen von Zeit". Sie lernt widerwillig, dass sie Initiative ergreifen muss. Dass sie Beziehungen zu anderen Menschen, die auf gegenseitigem Respekt, aber auch einem Zulassen von Verletzlichkeit beruhen, eben doch braucht.
Auf diesem Weg wird sie von liebevoll ausgestalteten Charakteren begleitet. Allen voran triezt der kettenrauchende Herr Sakai sie, sich auch privat aus Mitmenschlichkeit um ihre Kollegen zu kümmern: "Ich habe, wenn ich mich nicht irre, einen Menschen eingestellt, keinen Roboter." Mrs. Langfinger, deren richtigen Namen der Leser nie erfährt, lernt Suzu im öffentlichen Bad kennen. Die Seniorin stiehlt regelmäßig Bonbons, um in den Genuss von Tagesstruktur und Gemeinschaft im Gefängnis zu kommen. Damit will sie ihren Lebensabend quasi selbst bestreiten, fällt ihrer Tochter aber ironischerweise mehr zur Last, als wenn sie einfach bei ihr einziehen würde. Master Shen, ein chinesischer Imbissbudenbetreiber, bei dem die Putzkolonne abends regelmäßig einkehrt, hat eine so große Familie, dass er es sich zu Todesfällen nicht leisten kann, jedes Mal in die Heimat zu reisen. Suppe sei "außerdem genauso dick wie Blut", sagt er und bleibt bei seinen Kunden.
Takada, der sein Gesicht gerne hinter einem langen Vorhang von Haaren versteckt, schreibt in einem Notizbuch Wörter mit, die ihm in Unterhaltungen wichtig erscheinen, etwa Bingo, Schafe, Theoretische Freiheit. Mit seiner Kauzigkeit kann Suzu mehr anfangen als mit ihren gleichaltrigen ehemaligen Kellnerkolleginnen. Ihre Zuneigung wird groß genug, dass sie den kranken Takada zu sich nach Hause holt und gesund pflegt, obwohl sie nicht einmal eine Gastmatratze besitzt.
Mit der Zeit lernt Suzu verschiedene Modelle von Gemeinschaft kennen. Der Leser merkt zugleich, dass Fremd- und Eigenwahrnehmung bei Suzu stark auseinanderklaffen. So lebt zum Ende des Buchs der Kontakt zu einer ehemaligen Mitschülerin wieder auf, die Suzu als Bekannte in Erinnerung hatte. Es stellt sich heraus, dass ein gemeinsamer Nachmittag im Café sich bei der Mitschülerin in die Erinnerung eingebrannt hat und sie die Beziehung als Freundschaft beschrieben hätte. Auch steht Suzus erfrischender Sarkasmus in starkem Kontrast zu ihren drögen Eigenbeschreibungen.
Die japanisch-österreichische Autorin bettet die Geschichte durch Bezüge wie die Kodokushi und Hanami eindeutig in einen japanischen Kontext ein, erzählt aber von universalen Themen. Ein Glossar erklärt alle japanischen Begriffe, aber auch ohne das wird die Bedeutung aktiver Lebensgestaltung deutlich. Mit den Worten von Suzus Großmutter: "Jetzt ist es immer am besten." SARA WAGENER
Milena Michiko Flasar: "Oben Erde, unten Himmel". Roman.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2023. 290 S., geb. 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Milena Michiko Flasar zeigt in "Oben Erde, unten Himmel": Ein gutes Leben ist gemeinschaftlich und es ist jetzt
Suzu hat Beziehungen nie mit Brauchen in Verbindung gebracht. Als Herr Sakai, ihr Chef, entgeistert fragt, warum sie mit ihren Kollegen nicht für den Fall der Fälle Telefonnummern ausgetauscht hat, stellt sie fest: "Diese Assoziation war mir neu." Die 25 Jahre alte Japanerin gibt sich größte Mühe, sozialen Kontakten aus dem Weg zu gehen. Um Hanami - ein gemeinsames Picknick unter blühenden Kirschbäumen - mit den Kollegen zu vermeiden, erwägt sie ernsthaft einen Jobwechsel.
Ihre Arbeit hat sie nach dem abgebrochenen Studium schon öfter gewechselt. Zuletzt hatte sie in einem "FamiResu", einem besseren Fast-Food-Restaurant gearbeitet, wurde aber gefeuert, weil sie ihrem Chef nicht "liebreizend" genug war. Nachdem ihr längerfristiges, aber lockeres Date Kotaro067 - sie bleibt das ganze Buch über beim Anzeigenamen der Dating-App - ihr ohne Erklärung einfach nicht mehr geantwortet hatte, war sie in der Tat etwas zerstreut gewesen. Mit dem Wischmopp könne sie aber wunderbar umgehen, meint der Chef. Und bei der Jobsuche könne sie sich ja auf ihre Stärken konzentrieren.
Tatsächlich findet sie eine neue Anstellung als Reinigungskraft. Die bringt die gemütliche Einsamkeit, in der Suzu sich eingerichtet hatte, zum Wanken. Denn die Firma ist auf sogenannte Kodokushi spezialisiert, Todesfälle, die erst spät entdeckt werden, weil niemand die Toten vermisst, niemand nach ihnen gesucht hat. Alle Wohnungen, die Suzu mit ihren Kollegen ausräumt und putzt, wurden von Menschen bewohnt, die ähnlich allein waren wie sie. Und deren Leben in den Gegenständen, die sie zurücklassen, erdrückend einsam wirkt.
In ihrem dritten Roman "Oben Erde, unten Himmel" beschreibt Milena Michiko Flasar Lebensthemen in alltäglichen Bildern. Die einsam Gestorbenen werden für Suzu wie für die Leserschaft zum Memento mori. Die ständige Präsenz des Todes führen zur Frage, wie eigentlich ein erfülltes Leben aussehen könnte. Das führt zur Frage, wo der eigene Platz in der Welt ist und wie man ihn ausgestaltet, woraus sich wiederum die Frage ergibt, wie ein gutes Miteinander aussehen kann.
Suzus Existenz besteht "aus dem Verstreichen von Zeit". Sie lernt widerwillig, dass sie Initiative ergreifen muss. Dass sie Beziehungen zu anderen Menschen, die auf gegenseitigem Respekt, aber auch einem Zulassen von Verletzlichkeit beruhen, eben doch braucht.
Auf diesem Weg wird sie von liebevoll ausgestalteten Charakteren begleitet. Allen voran triezt der kettenrauchende Herr Sakai sie, sich auch privat aus Mitmenschlichkeit um ihre Kollegen zu kümmern: "Ich habe, wenn ich mich nicht irre, einen Menschen eingestellt, keinen Roboter." Mrs. Langfinger, deren richtigen Namen der Leser nie erfährt, lernt Suzu im öffentlichen Bad kennen. Die Seniorin stiehlt regelmäßig Bonbons, um in den Genuss von Tagesstruktur und Gemeinschaft im Gefängnis zu kommen. Damit will sie ihren Lebensabend quasi selbst bestreiten, fällt ihrer Tochter aber ironischerweise mehr zur Last, als wenn sie einfach bei ihr einziehen würde. Master Shen, ein chinesischer Imbissbudenbetreiber, bei dem die Putzkolonne abends regelmäßig einkehrt, hat eine so große Familie, dass er es sich zu Todesfällen nicht leisten kann, jedes Mal in die Heimat zu reisen. Suppe sei "außerdem genauso dick wie Blut", sagt er und bleibt bei seinen Kunden.
Takada, der sein Gesicht gerne hinter einem langen Vorhang von Haaren versteckt, schreibt in einem Notizbuch Wörter mit, die ihm in Unterhaltungen wichtig erscheinen, etwa Bingo, Schafe, Theoretische Freiheit. Mit seiner Kauzigkeit kann Suzu mehr anfangen als mit ihren gleichaltrigen ehemaligen Kellnerkolleginnen. Ihre Zuneigung wird groß genug, dass sie den kranken Takada zu sich nach Hause holt und gesund pflegt, obwohl sie nicht einmal eine Gastmatratze besitzt.
Mit der Zeit lernt Suzu verschiedene Modelle von Gemeinschaft kennen. Der Leser merkt zugleich, dass Fremd- und Eigenwahrnehmung bei Suzu stark auseinanderklaffen. So lebt zum Ende des Buchs der Kontakt zu einer ehemaligen Mitschülerin wieder auf, die Suzu als Bekannte in Erinnerung hatte. Es stellt sich heraus, dass ein gemeinsamer Nachmittag im Café sich bei der Mitschülerin in die Erinnerung eingebrannt hat und sie die Beziehung als Freundschaft beschrieben hätte. Auch steht Suzus erfrischender Sarkasmus in starkem Kontrast zu ihren drögen Eigenbeschreibungen.
Die japanisch-österreichische Autorin bettet die Geschichte durch Bezüge wie die Kodokushi und Hanami eindeutig in einen japanischen Kontext ein, erzählt aber von universalen Themen. Ein Glossar erklärt alle japanischen Begriffe, aber auch ohne das wird die Bedeutung aktiver Lebensgestaltung deutlich. Mit den Worten von Suzus Großmutter: "Jetzt ist es immer am besten." SARA WAGENER
Milena Michiko Flasar: "Oben Erde, unten Himmel". Roman.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2023. 290 S., geb. 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main